Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1883

      

9. Vortrag: Über den Gehorsam

Freitag Vormittag, 14. September 1883

Meine Kinder, heute Vormittag werden wir uns über das Gelübde des Gehorsams unterhalten. Gewöhnlich versteht man die Tragweite dieses Gelübdes nicht gut. Man glaubt, dass seine Wichtigkeit von der Sache, die befohlen wird, kommt. So glaubt man, einen kleinen Ungehorsam zu begehen, wenn der empfangene Befehl von geringer Wichtigkeit, und einen großen, wenn es sich um etwas Ernstes handelt. Das ist nur teilweise wahr, denn der Gehorsam hängt nicht nur von der befohlenen Sache ab. Die Schwere des Fehlers hängt nicht nur vom gegebenen Befehl ab, sondern auch, ja vor allem vom bösen Willen der Person, die ungehorsam ist. War so die Sache an sich schwer, als Eva Gott ungehorsam war? Nein, Gott hat ihr verboten, von einer Frucht zu essen. Die Sache hatte an sich keine Folgen. Die Frucht war schön. Gott hätte ihr befehlen können, nur von dieser Frucht zu essen. Aber was nahm sich Gott vor? Er wollte Eva einen Gehorsam geben. Sie war ungehorsam und durch diesen Ungehorsam ging sie verloren. Nicht, weil sie die Frucht gegessen hat, hat Gott sie bestraft, sondern weil sie das Verbot missachtete, das damit verbunden war. Seht, wie der Gehorsam etwas Ernstes ist, da eine Übertretung in etwas an sich wenig Schweres einen ernsten Fehler bestimmen kann.
Man muss es gut verstehen: Wenn man eine Nonne ist, muss man den kleinsten Fehlern Rechnung tragen. Sie können beträchtlich werden, weil der Gehorsam das wesentliche Gelübde des Ordenslebens ist. Selbst in einigen Orden macht man ausdrücklich nur das Gelübde des Gehorsams, und da der Gehorsam befiehlt, die Armut zu üben, die Keuschheit zu wahren, legt man nur dieses Gelübde ab. So machen die Benediktinerinnen ausdrücklich nur das Gelübde des Gehorsams mit dem der Standhaftigkeit und der Bekehrung der Sitten, weil das Gelübde des Gehorsams die Grundlage des Ordenslebens ist und in sich die zwei anderen der Armut und der Keuschheit enthält. Man kann manchmal von seinen Oberen von der Armut in gewissen Punkten befreit werden, wie ich es euch erklärt habe. Der Gehorsam bewahrt also die anderen Gelübde. Ich wiederhole es: das Gelübde des Gehorsams ist grundlegend. Es gibt keinen Ordensangehörigen ohne Gehorsam und alla anderen Gelübde sind in diesem mit eingeschlossen.
Wem muss man gehorchen? Man muss Gott gehorchen, das heißt der Ordensregel, den Satzungen, dem Direktorium und der Oberin. Zuerst der Ordensregel. Wer ist der Ordensregel unterworfen? Alle, die Untergebenen und die Oberen. Die, die infolge ihres Amtes, ihrer Aufgaben nicht alle Punkte der Ordensregel befolgen kann, soll sich davon befreien lassen, aber alle sind ihr unterworfen. Die Ordensregel ist die große, die höchste Meisterin, man muss ihr folgen.
Meine Kinder, versteht ihr das? Selig die unter euch, die große Skrupel hat, gegen die Ordensregel, die geistlichen Übungen, das Schweigen, das Direktorium, die Ausrichtung der Absicht zu fehlen. Ich wiederhole es: selig, die sich deswegen große Skrupel macht. Sehr oft glaubt man nicht, dass diese Beobachtungen der Ordensregel so ernst sind. Und dennoch sollte man es sich nicht zur Gewohnheit machen zu glauben, dass das von der Ordensregel Vorgeschriebene genauso wie Frömmigkeitsübungen einer Person in der Welt ist. Sind wir nicht manchmal wie diese Personen? Haben wir nicht ein wenig die Gewohnheit angenommen, die Übungen des Direktoriums als etwas Beliebiges zu betrachten? Es ist jedoch nichts dergleichen. Die Person der Welt, die ihr Gebet, ihre Frömmigkeit vernachlässigt, hat Grund, es zu beichten, weil sie sich der Gefahr aussetzt, in die Gleichgültigkeit zu fallen, aber sie ist nicht dazu verpflichtet. Bei uns ist es anders. Wir sind durch unsere Gelübde dazu verpflichtet. Wie sind wir gehorsam, wenn wir das nicht tun? Der erste Gehorsam ist der, den wir der Ordensregel, den Satzungen entgegenbringen müssen. Das ist das erste Gesetz, das alle verpflichtet.
Ihr müsst auch das Direktorium üben. Heißt das, wir können davon gegen einen Gedanken, ein Jota fehlen? Nein. Versteht wohl, wenn wir von Zeit zu Zeit einmal dagegen fehlen, machen wir keinen beträchtlichen Fehler, es ist nicht einmal eine direkte Sünde. Wenn es aber gewohnheitsmäßig ist und vom bösen Willen kommt, kann es ein Fehler sein. Und was ich von den Satzungen sagte, gilt auch viel stärker von der Ordensregel. Unter solchen Bedingungen hat die Seele keine Kraft, keinen Mut mehr. Man wird zu einem bloßen Fetzen. Wenn man auf einen Fetzen stößt, wirft man ihn mit dem Fuß beiseite. Wohlan, unsere Seele wird zu einem solchen Fetzen, der liebe Gott wirft uns vor seine Tür, vor die Tür seines Hauses, ein Windstoß kommt und weht uns in den Straßenstaub. Achtet gut darauf, meine Kinder. Ihr habt ein Gelübde gemacht, aber worin gehorcht ihr, wenn ihr euch der Ordensregel und dem Direktorium nicht unterwerft?
Das Gelübde des Gehorsams verpflichtet nicht nur dazu, der Oberin zu gehorchen, sondern zuerst der Ordensregel. Die Ordensregel ist den Oberinnen übergeordnet. Der Heiland ist der König unserer Herzen, die heilige Jungfrau ist ihre Königin und die Ordensregel ist der Ausdruck ihres Willens. Ihr werdet mir sagen: „Aber das ist eine sehr große Unterwerfung.“ Ohne Zweifel, aber ist es eine Unterwerfung, die unglücklich macht? O, nein, versucht es und ihr werdet sehen, welches Glück dieses Leben des Gehorsams verschafft, welcher Friede es begleitet.
Und diesen Gehorsam muss man sogleich, genau und ganz erfüllen. Ihr habt eure Betrachtung zu einer bestimmten Zeit zu machen. Ihr sollt sie weder um eine Minute früher noch um eine Minute später machen. Ihr seid verhindert und ihr könnt eure Betrachtung nicht machen. Bittet um die Befreiung, und diese Befreiung ersetzt die Betrachtung, da ihr den Gehorsam erfüllt.
Ordensmitglied sein heißt in jeder Hinsicht, in jedem Augenblick durch die Ordensregel gebunden zu sein. Man muss also in allem, was die Ordensregel ist, ganz und schnell gehorchen. Das sind die Eigenschaften des wahren Gehorsams.
Man erzählt, dass ein junger Benediktiner, der während seiner Arbeit Betrachtung machte, die Erscheinung des Jesuskindes hatte. Der junge Ordensmann schaute es an, betrachtete es, als er die Vesper läuten hörte. Er ging sogleich weg, um das Stundengebet zu singen. Als er zurückkehrte, fand er das Jesuskind wieder, das ihm viel Gutes sagte und das hinzufügte, dass er gut daran getan habe, es beim ersten Schlag der Glocke zu verlassen, denn sonst wäre es selbst weggegangen und nicht wieder zurückgekehrt. Der junge Ordensmann war weiterhin sehr genau und wurde ein großer Heiliger. Man erzählt, dass andere Ordensleute, die damit beschäftigt waren, Manuskripte abzuschreiben, die halb fertigen Briefe verließen und bei ihrer Rückkehr fanden sie den Brief oder sogar die ganze Zeile in Gold beendet. Diese Wunder zeigen, dass die Genauigkeit im Gehorsam ein sehr großes Recht auf das Herz Gottes gibt. Gewöhnen wir uns an, so der Ordensregel zu gehorchen.
Ihr werdet mir vielleicht einwenden: „Wir sind sehr überlastet“, werdet ihr sagen. Ich weiß es, ihr seid zerstreut durch eure Beschäftigungen, ihr habt alle möglichen Geschäfte, die euch Sorgen bereiten, das ist wahr. Doch wenn wir sehr entschlossen sind, sehr in den lieben Gott gefestigt, hindern uns unsere Sorgen nicht daran, die Ordensregel zu üben. Sie vereinen uns vielmehr mit unserem Herrn. Verliert nie aus den Augen, dass ihr dieses Gelübde abgelegt habt. Die Art, wie ihr es erfüllt, muss Gegenstand eurer Überlegungen, eurer Gewissenserforschungen, eurer Beichten sein. Ich beharre darauf, dass ihr die Notwendigkeit versteht, in er ihr euch befindet, ein Leben des Gehorsams zu führen. Wenn ihr zu einer bestimmten Übung nicht gehen könnt, bittet um eine Befreiung, so dass die Ordensregel nicht aufhört, ihre Herrschaft über euch auszuüben.
Die Ordensregel verpflichtet alle du in allen Einzelheiten unserer Beschäftigungen. Diejenigen, die Hilfskräfte sind, müssen der Amtsschwester gehorchen. Wenn man das tut, gehorcht man nicht der Person, sondern der Ordensregel. Man ist oft versucht, nicht jeder Person gleich zu gehorchen. Und dennoch, wenn jemand Autorität über uns hat, müssen wir uns unterwerfen. Es ist sehr schön, es ist sehr groß, sich irgend jemandem zu unterwerfen. Man muss diese Wahrheit gut verstehen, es ist ein äußerst wichtiger Punkt. Wenn ihr einer bestimmten Person nur aus Betrachtung ihrer Lebensweise gehorcht, die euch gefällt oder weil ihr sie liebt, wie werdet ihr einer anderen Person gehorchen können, die ihr weniger schätzt oder die ihr nicht liebt?
Es muss, meine Kinder, euer Gehorsam zur Ordensregel und ihre Beobachtung vollständig sein. Ihr müsst der Ordensregel in allen Umständen eures Lebens unterworfen sein. Sie ist nur da für eure Seele, für eure Führung, nicht nur für das Stundengebet, für eure Gebete, sondern auch um eure verschiedenen Beziehungen zu ordnen und eure Aufgaben zu regeln. Da ist zum Beispiel die Novizenmeisterin. Sie ist durch die Ordensregel verpflichtet, die Novizinnen zu überwachen, ihre Fehler zu korrigieren, sie zu lehren, sich abzutöten, Gott zu lieben. Sie hat ihren Novizinnen gegenüber Verpflichtungen, und diese Verpflichtungen hat sie kraft der Ordensregeln. Ebenso haben die Novizinnen besondere Verpflichtungen gegenüber ihrer Meisterin.
Auch die Ökonomin hat gegenüber der Gemeinschaft Pflichten. Sie muss von ihren Verpflichtungen durchdrungen sein. Die Ordensregel befiehlt, dass sie zuvorkommend ist. Es müssen sich ihr die Schwestern wie angegeben unterwerfen. Auch die Oberin muss machen, was ihr vorgeschrieben ist. Die Ordensregel ist also für alle gemacht, sie schränkt die Funktionen von „jeder“ ein, und diese Funktionen müssen genau ausgeführt werden. Ich werde darauf zurück kommen. Heute Vormittag will ich euch verständlich machen, dass diese Verpflichtungen die Folge des Gehorsamsgelübdes sind, das ihr abgelegt habt. Ihr könnt keine Nonnen sein, ohne euch dem Gehorsam zu unterwerfen. Man muss viel Aufmerksamkeit und Zuneigung haben, um das Vorgeschriebene möglichst pünktlich und in allen von der Ordensregel beschriebenen Einzelheiten zu erfüllen. Das kostet viel, ich weiß es. Die Beobachtung der Ordensregel hat ihre Stacheln. Das Schwierigste ist die Beobachtung der Gelübde. In gewissen Fällen kann man sich von der Übung der Armut befreien lassen. Ebenso ist es selten, dass eine Nonne das Gewicht ihres Gelübdes der Keuschheit fühlt, während der Gehorsam eine Unterwerfung unter alle Instanzen ist, was am meisten gegen unsere Natur ist, ich nach Unabhängigkeit strebt.
Ihr seid in diesem Augenblick versammelt, das ist aus Gehorsam. Wenn ihr bei Tisch sein werdet, wird es aus Gehorsam sein. Wenn ihr das Stundengebet verrichtet du in der Erholung seid, werdet ihr dies alles aus Gehorsam sein. Es ist ein Netz, das euch umgehängt ist, ein Joch, unter dem ihr steht. Wohlan! Ist das ein Unglück? O nein, unter der Bedingung, dass man fröhlich, großmütig gehorcht. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte diesbezüglich: „Es gibt ein Mittel, zu dem ihr vor allem entschlossen sein müsst.“ Unsere Kirchenväter haben das gut verstanden. Sie waren in allem entschlossen, den Gehorsam zu beachteten. Alles andere war nichts mehr für sie. Sie schauten weder nach rechts noch nach links. Ihr müsst es wie sie machen. Bei eurer Profess habt ihr gesagt: „Mein Gott, ich verspreche dir die Gelübde. Ich werde gehorchen, dazu bin ich entschlossen.“ Für die Männer ist es leichter, sie sind zu einer großen Entschlossenheit befähigter. Für die Frauen ist es schwieriger. Sie hängen mehr an den Einzelheiten. Aber wenn es schwieriger ist, dann ist es auch verdienstvoller. Ihr müsst euch also gut für den Gehorsam entscheiden und nicht bei dem stehen bleiben, das ihr seht, das ihr glaubt, das ihr für gut haltet. Wenn ihr das gut verstanden habt, ist der Gehorsam nicht mehr schwierig, aber wenn man seine Entschlossenheit unterbricht, wenn man sich beklagt, überlastet zu sein, mit dem oder jenem beschäftigt zu sein, dann ermüdet die Kraft, die Stärke geht verloren. Man wird wie ein Lumpen, man zieht einen Fetzen hinter sich her. Nehmt also schnell eine Schere und schneidet ihn ab diesen Fetzen. Unterbrecht eure Gedanken, eure Überlegungen. Man will etwas anschauen, man macht es wie die Frau Lots, die zur Salzsäule erstarrte, weil sie zurückschaute. Lot konnte sie nicht retten. Schneidet also diese Fetzen gut ab, der Lumpensammler wird sie aufheben, kümmert euch nicht mehr darum.
Ich beharre, meine Kinder, auf der Notwendigkeit zu gehorchen, denn ein Gelübde ist nicht nichts. Wenn ihr der Ordensregel nur wie eine Person der Welt gehorcht, die diese aus allen möglichen Gründen gleich verlässt, worin seid ihr dann Nonnen? Welcher Unterschied ist zwischen euch und dieser Person? Keiner. Erfüllt ihr tatsächlich eure Gelübde? Nein, und seid ihr dennoch dazu verpflichtet? Sicher.
Ich fasse zusammen: Wem muss man gehorchen? Dem lieben Gott, der Ordensregel, dem Direktorium, der Oberin. Wie muss man gehorchen? Man muss sogleich gehorchen, die Übungen nicht auf später verschieben, alles tun, was wir zu machen haben. Wenn ihr nicht machen könnt, was angegeben ist, muss man um Befreiung bitten.
Welche Belohnung wird der Nonne, die gehorcht, vorbehalten sein? Die Belohnung wird unendlich, grenzenlos sein. Die gehorsame Seele wird nur von Siegen sprechen, von Siegen, die sie auf dem Herzen des lieben Gottes davongetragen hat, sie wird für ihn alles sein, was sie will. Siege über ihre Mitschwestern, weil sie für jene um sie herum nach dem süßen Duft der Unterwerfung riechen wird, der sie direkt zum lieben Gott trägt. Versetzen wir uns in diese Gefühle, damit wir zu dieser wünschenswerten Haltung gelangen.
Dieser Gehorsam muss sich auf alles erstrecken. Er regelt unsere Beziehungen mit dem lieben Gott, unsere Beziehungen mit den Mitschwestern, er regelt unsere Aufgaben. In allem müssen wir uns dem Gehorsam anpassen. Das ist die übermenschliche Tugend, das ist die Tugend unseres Herrn. Er hatte seine Ordensregeln für alle Augenblicke seines Lebens. Bei der Hochzeit von Kana wollte er sein Wunder nicht vor der angegebenen Stunde wirken. „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4). Es ist die Stunde, die der Vater ihm befohlen hat. Wenn wir unseren Herrn lieben, werden wir gehorsam sein wie er, werden wir alle Handlungen aus Liebe zu ihm machen. „Mein Gott, es ist für dich!“ Und man gehorcht sogleich. Wenn wir überlegen, verlieren wir bloß Zeit. Unser Herr war gehorsam bis zum Tod, er gehorchte seinen Henkern. Wir werden daran denken, wir werden an Jesus denken, der bis zu seiner Vergegenwärtigung in der Heiligen Eucharistie gehorsam ist, an Jesus, der der Stimme des Priesters gehorcht.
Seien wir zum Gehorsam Entschlossene, meine Kinder, machen wir es uns zur Gewohnheit, aus Liebe zu unserem Herrn zu gehorchen, und wenn wir das machen, werden wir das Gelübde des Gehorsams erfüllen. Amen.