Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1883

      

10. Vortrag: Über den Geist unserer Berufung

Freitag Abend, 14. September 1883

Liebe Kinder, erinnern wir uns an die Überlegungen von heute Vormittag: jeder muss gehorchen und sich der Ordensregel unterwerfen. Es ist meine Absicht, dass jeder innerlich und äußerlich seine Ordensregel erfüllt, dass jeder gegenüber seinen Aufgaben gehorsam ist. Die Ordensregel gibt an, was die Oberin, die Assistentin, die Ökonomin, die Novizenmeisterin, die Hausoberinnen machen müssen. Es muss jede bereit sein für das, was die Ordensregel angibt. Die Funktionen der Oberin sind durch die Satzungen bestimmt, ebenso wie die Funktionen der Assistentin, der Ökonomin und der anderen Amtsschwestern, woraus folgt, dass jede sich dem hingeben muss, das befohlen wird. Die Verfehlungen bezüglich des Stundengebetes sind mehr oder weniger schwere Fehler, denn durch das Gelübde des Gehorsams versprechen wir, allem treu zu sein, was unser Stundengebet betrifft, wir verpflichten uns zu machen, was für unsere Aufgaben angegeben ist, und alle Schwestern werden angehalten, ihre Ämter genau auszuführen,wie es die Ordensregel angibt. Es ist das mittel, die Ordnung, den Frieden und auch die Gemeinschaft dauerhafter zu machen, das Bestehen der Kongregation auf Dauer zu sichern.
Heute Abend will ich euch ein kleines Wort über die Frömmigkeit sagen, die den Oblatinnen besonders eigen sein muss, über das besondere Siegel, das ihr haben müsst.
Meine Kinder, euer besonderes Siegel soll sein, in allem unseren Herrn nachzuahmen, ihn nicht nur in seinen göttlichen Tugenden nachzuahmen, sondern auch in der Gesamtheit seines zeitlichen Lebens. Die Oblatinnen gehören zu den Seelen, von denen unser Herr sagte: „Die, welche den Willen meines Vaters tun, sind meine Mutter, meine Brüder, meine Schwestern“ (Mt 12,50). Ihr seid berufen, in seiner Nähe zu leben wie seine Apostel, wie Marta und Maria, wie Lazarus, wie der heilige Johannes, die mit ihm lebten, die in seinem Haus waren und so zu sagen zu seiner Familie gehören. Nicht alle Christen sind zum gleichen Glück berufen. Der Heiland hatte tatsächlich viele andere Jünger, aber sie lebten nicht in seiner Nähe. Was ich euch da sage, ist nicht nur ein frommer Gedanke, es war die Überzeugung der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis und es ist auch meine. Ihr müsst vom Haus unseres Herrn sein, so dass unser Herr bei euch sein muss und ihr bei ihm. Unser Herr ist der Hausherr, und jede muss tun, was er will, nach seinem Geschmack handeln. Er ist der Herr, er befiehlt, wir müssen ohne Überlegung, ohne Rückzug gehorchen. Ist es für alle Christen gleich? Nein, ich wiederhole es, unser Herr lebte nicht mit allen seinen Jüngern im selben Haus. Er unterhielt sich mit ihnen, aber nicht immer. Es hatten aber die, welche in seiner Nähre lebten, einige Vorrechte. Das waren die heilige Jungfrau, der heilige Johannes, die Apostel. Welche waren die Freunde unseres Herrn? Es waren in Betanien Lazarus, Marta und Maria. Das sind seine Freunde, das ist sein bevorzugtes Haus. Also müssen auch die Oblatinnen vom Haus unseres Herrn sein.
Versteht das gut. Ein König hat zahlreiche Untertanen, die aber nicht von seinem Haus sind. Er hat Minister, die nie zu ihm gehen, sie sind nicht in seiner Nähe. Ebenso ist es beim Papst. Er hat seine Kardinäle, seine Angestellten, aber nicht alle leben in seiner Nähe. Derjenige, der in seiner Nähe lebt, ist sein Kämmerer. Er empfängt die Besucher des Papstes, er verließ uns nicht, als wir den Heiligen Vater besuchten. Er sprach mit großer Ehrfurcht darüber. Er hat uns sehr gut empfangen. Wir gaben ihm ein Bild der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis und er brachte allem, was wir ihm sagten, großes Interesse entgegen.
Wohlan! Meine Kinder, die Oblatinnen werde eingesetzt, um im Haus unseres Herrn zu sein. Das ist ihre Berufung. Außerhalb haben sie keinen Grund zu sein. Sie müssen bescheiden und sanft sein wie unser Herr. Wie er sollen sie sprechen und handeln. Sie sollen ihn überall sehen, wie ihn die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sah. Wie sah sie ihn? War es eine Tatsache? Ich könnte es euch nicht sagen, aber sie sah ihn in dem Sinne als sie versuchte wie er zu handlen, als sie in allem seinen Eingebungen folgte und als sie ihn für alles, was sie zu machen hatte, zu Rate zog. Wenn sie fern gewesen wäre, hätte sie nicht so mit ihm handeln können. Es ist eure Berufung: zu tun, was dem Heiland angenehm ist. Unsere Kirchenväter haben das gut verstanden. Sie haben verstanden, was das besondere Siegel unseres Instituts sein soll. Ich muss es euch ausdrücklich sagen, denn die Gemeinschaft muss wohl wissen, was der Grund ihres Geistes sein soll. Ihr seid seine Kinder aus gutem Haus, da ihr aus der Familie des Heilands seid, euer Lebensort soll ganz dem seinen entsprechen. Das ist unser ganz besonderes, ganz spezielles Siegel. Das ist unser unterscheidender Charakter, deshalb bestehen wir. Wenn es nicht deshalb wäre, gäbe es keine Oblatinnen. Wenn man nicht vom Haus unseres Herrn ist – ich wiederhole es – sind wir nicht Oblatinnen. Versteht ihr, warum euch das verpflichtet? Alle, die im Haus des Heiligen Vaters sind, haben an seiner Würde teil und sind von seinem Geist durchdrungen. Wir befinden uns gut, so wohl, dass wir sagen: „Wir sind hier bei unserem Vater, da sind wir zuhause, da sind wir ganz zuhause.“ Wenn ihr also vom Haus des Heilands seid, müsst ihr ihm in eurer Art zu sprechen und zu handeln ähnlich sein. Das ist unsere Berufung, ihr seid vom Haus unseres Herrn wie Marta und Maria.
Welche Leichtigkeit also seine Betrachtung zu machen, seine Pflichten zu erfüllen! Und – ich wiederhole es – das ist nicht nur ein frommer Gedanke, das ist nicht nur, was ihr werden könnt, das seid ihr tatsächlich, wenn ihr treu seid. Das ist der Gedanke von derjenigen, die die Eingebung zu eurer Gründung hatte. Das ist der ausdrückliche Wille der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis. Sie hat mir Wunderbares gesagt, sie hat es mir hundert Mal wiederholt. Sie vertraute mir alles an, was ihr Gott schenkte und sie sagte mir: „Das wird der liebe Gott später machen.“ Wie oft, wenn ich ihr nicht zuhören wollte, sagte sie mir: „Der liebe Gott hat mir Sie geschickt, an Sie soll ich mich wenden. Das ist der Plan des lieben Gottes, das will er. Das ist nicht für mich, sondern für Sie. Die Wirkungen sind für die Werke, die von Ihnen gegründet werden, für die Seelen, die kommen werden, um sich um Sie zu versammeln. Sie werden Zeugnis geben von diesen Gnaden, von dieser Kraft, von dieser Salbung, um sie anderen Seelen mitzuteilen.“ Sie sagte mir das zehnmal, täglich, sie hat es mir tausende Male wiederholt. Und jetzt stehe ich einerseits angesichts dessen, was ihr seid, angesichts eurer noch zu schwankenden Willen und andererseits angesichts des Willens der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis und all dessen, das sie mir gesagt und behauptet hat. Versteht ihr die Wirrnis meiner Lage? Es ist an euch, allen diesen Gnaden zu entsprechen, an euch auszuführen, was Gott verlangt.
Noch einmal, meine Kinder, es ist die Grundlage eurer Berufung. Ihr seid eingerichtet, um nahe bei unserem Herrn zu leben, um ihn anzubeten, um ihm zu dienen wie die Engel in der Wüste, wie Marta und Maria in Betanien, wie die heilige Jungfrau. Seht, was der heilige Franz von Sales im Kapitel über das Stillschweigen sagt: Ihr müsst euch wie Maria Magdalena zu Füßen unseres Herrn aufhalten. O, würdet ihr das gut verstehen, würde sich jede von euch völlig ändern. Würdet ihr ganz von Zuhause fortgehen, wie ein Kind, das man in ein Internat gibt, wie ein Mädchen, das heiratet, wie eine Person, die sich bei einer anderen niederlässt, um sie nicht mehr zu verlassen. Ihr seid hier her gekommen, es ist das Haus des Herrn. Wie die Jünger habt ihr den Heiland gefragt: Herr, wo wohnst du? Und der Heiland hat euch geantwortet: Kommt und seht (vgl. Joh 1,39). Wenn ihr daran denkt, welche Achtung hättet ihr für euer heiliges Gewand! Welche Achtung für das Haus, in dem ihr wohnt, für alles, was ihr zu tun habt. Welche Achtung für eure Oberin, für eure Mitschwestern, für euch selbst.
Wenn man den Heiland sieht, ist man nicht versucht, etwas anderes zu betrachten. Seht ihn also, meine Kinder. Und ihr könnt ihn sehen, da ihr bei ihm seid. Bittet ihn um die Gnade, den Geist eurer Berufung gut zu verstehen und die ganze Gemeinschaft wird ihr Aussehen verändern. Aus Matten werdet ihr Tätige werden, aus Gleichgültigen werdet ihr Ergebene, ganz Hingegebene werden. Möge die heilige Gnade des Heilands es euch wohl verstehen lassen. Amen.