Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1883

      

6. Vortrag: Über die Armut - Fortsetzung

Mittwoch Abend, 12. September 1883

Meine Kinder, heute Vormittag sprach ich zu euch über das Gelübde der Armut, heute Abend will ich wieder darüber sprechen, weil die Übung der Armut im Ordensleben wesentlich ist. Es ist vielleicht die Tugend, die die Leute der Welt am meisten bemerken. Ihr müsst euch also ganz besonders um sie bemühen, um die Welt damit zu erbauen und so dem Heiland Seelen zu geben. Die Armut soll wie ein Mantel sein, der euch umgibt, der euch von allen Seiten einhüllt.
Ich weißt, dass mich im Kloster der Heimsuchung von Troyes die äußerst große Armut am meisten berührte. Es gibt dort keine kostbaren Möbel, es ist dort alles arm und einfach, wie es mehr nicht sein kann. Die Wäschekammer besteht aus alten Kästen, die eine Schwester vor fünfzig oder sechzig Jahren gebracht hat. Ich sah die Gefährtinnen der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis, vor allem die Schwester Paul-Séraphine die Liebe zur Armut bis ins Übermaß treiben. Alles, was am wenigstens gut, am meisten abgenützt war, war für sie. Sie zog immer äußerst arme Kleidung an. Genauso wie man die schönen Dinge lieben und sich daran erfreuen kann, ebenso kann man auch lieben, was arm ist. Das ist nicht kindisch. Diese Liebe zur heiligen Armut ist ein großes Merkmal dafür, dass man Nonne ist, dass man ganz nahe beim Heiland ist, dass man seinen Geist hat. Oftmals habe ich diese Bemerkung gemacht, dass alle Gefährtinnen der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis diese übergroße Liebe zur Armut hatten. Ich habe euch schon die Geschichte meiner Schwester Marie-Louise erzählt. Eines Tages sah ein Maurer, der im Heimsuchungskloster arbeitete, wie Schwester Marie-Louise aus ihrer Tasche ein ganz durchlöchertes Taschentuch zog. Als der gute Mann am Abend nach Hause kam, erzählte er es seiner Frau und bat sie um Taschentücher für diese arme Nonne. Am nächsten Tag brachte er ihr tatsächlich ein halbes Dutzend. Sehr, wie sehr Schwester Marie-Louise die Armut liebte. Ohne Zweifel war sie ein wenig originell, aber sie war eine Heilige. Wenn ihr auch eine sein wollt, müsst ihr die Mittel ergreifen, um dahin zu gelangen. Das Mittel der Armut ist hervorragend. Man opfert sich sehr schnell und sehr gut durch die Übung dieser Tugend, glaubt mir.
Das Gelübde, das ihr abgelegt habt, ist sehr wichtig. Diejenigen, die es abgelegt haben, können nur mit Erlaubnis der Oberinnen etwas besitzen. Was sie essen, gehört ihnen nicht, noch gehört ihnen ihre Kleidung. Was muss man machen, um ernsthaft gegen das Gelübde der Armut zu sündigen? Man muss ohne Erlaubnis über eine gleiche Summer verfügen, deren Diebstahl eine Todsünde wäre. Die Sünde, die man da begeht, gleicht der Sünde des Raubes, da der Ordensangehörige versprochen hat, nichts zu besitzen, und er über etwas verfügt. Ich wiederhole es: seine Sünde gleich der eines Diebes. Eine Nonne, die ohne Erlaubnis über eine Summer verfügt, muss es beichten und dafür Buße tun. Sie begeht einen wahren Diebstahl, da sie nichts haben darf. Ich spreche nicht von der Ökonomin, die ausgeben muss, was für die Gemeinschaft und für sie selbst notwendig ist. Aber da ist eine Ökonomin oder eine Hausoberin, die etwas für sich kauft, das außerhalb von dem ist, das sie den anderen gibt. Sie kauft sich zum Beispiel ein drittes Paar Schuhe, während die anderen Schwestern nur zwei Paare haben. Wenn sie es ohne Erlaubnis macht, sündigt sie. Die Sache ist klar und wenn ich verbiete, dass eine über etwas verfügt, so ist es, weil man sonst gegen die Pflicht des Ordenslebens fehlen würde. Ihr verfügt über dies und das, ihr handelt nach eurem willen, ihr habt nicht den Ordensgeist. Deshalb verlangt die Ordensregel, dass alles Geld des Hauses der Ökonomin übergeben wird, und dass diese die nötigen Ausgaben tätigt.
Wenn ihr die Armut nicht übt, sagt mir, welchen Unterschied gibt es da zwischen euch und einer Person in der Welt? Ich sehe keinen, außer eurer Ordenstracht, aber ihr tragt nicht den wahren Charakter des Ordenslebens. Das ist sehr ernst. Vor dem lieben Gott bin ich für die Einhaltung der Ordensregeln verantwortlich, und ich muss euch sagen, was in dieser Hinsicht eure Pflichten sind.
Bezüglich der Armut stellen die Theologen diese Frage: Ist es einer Nonne gestattet, einen Freund, jemandem aus ihrer Familie um Geld zu bitten, um darüber frei zu verfügen? Alle Theologen sagen, dass es ein Fehler ist, und dass dieser Fehler tödlich sein kann, wenn man ihn selbstverständlich ohne Erlaubnis macht. Ich könnte euch dafür schreckliche Beispiele anführen. Aber wenn man um die Erlaubnis bittet und die Oberin es gewährt, ist es etwas anderes. Selbst wenn man Geld verlangt und man nachher der Oberin sagt: Mutter Oberin, ich verlangte es für dies und das, ich hatte die Absicht, Sie um die Erlaubnis zu bitten, aber ich hatte keine Gelegenheit dazu, nun unterbreite ich Ihnen die ganze Summe ihrem Urteil. Vielleicht machte ich diese Bitte aus Unbußfertigkeit, aber nicht, um Sie zu etwas zu nötigen.“ Es ist klar, dass da kein Fehler vorliegen kann. Aber wenn man sich dieses Geldes ohne Erlaubnis bediente, würde man einen tödlichen Fehler begehen.
Kann eine Nonne um Geld als Almosen für sich bitten? Nein, das kann sie nicht. Wenn sie es macht, macht sie einen Fehler. Sie darf auch nicht über eine Geldsummer für andere verfügen, da sie nicht das Recht hat, es für sich selbst zu machen oder stehlen zu gehen. Eine andere Frage: Ist es einer Nonne gestattet zu jemandem zu sagen: „Diese Familie hat Probleme, ist bedürftig, wollen sie mir eine gewisse Summe für sie geben?“ Ja, das kann man mit Erlaubnis der Oberin machen. Kann diese Nonne die Summe selbst übergeben? Ja, vorausgesetzt, dass sie alles gibt. Kann sie sie für etwas anderes verwenden? Nein, denn da würde sie ein Eigentumsdelikt begehen. Eine Nonne kann so entgegennehmen, um es den Armen zu geben. Sie muss das Geld der Oberin übergeben und sagen, zu welchem Zweck es ihr gegeben wurde, der erfüllt werden muss. Kann man um Geld für seine Verwandten bitten, wenn sie bedürftig sind? Ja, das kann man machen, aber nicht ohne vorher die Angelegenheit dem Gehorsam unterworfen zu haben. Wenn man euch Geld zu diesem Zweck übergeben hat, dürft ihr es nicht in euren Möbeln aufbewahren, sondern ihr müsst es der Oberin bringen. Man dürfte nicht sagen: „Hier sind tausend Francs, die ich soeben erhielt, ich gebe davon zwanzig heute meinem Vater, in acht Tagen werde ich meinen Bruder sehen, und ihm zehn davon geben, und so weiter.“ Das darf man nicht tun, man muss vielmehr das Geld der Oberin übergeben und sagen: „Mutter Oberin, ich halte es für notwendig, dies oder das zu schicken, wenn Sie es erlauben.“ Aber man kann nicht darüber selbst verfügen.
Ich kannte eine Ordensschwester, die eine gewisse Summer erhalten hatte, und die sie verwenden wollte, wie sie es verstand. Sie war starrköpfig, der liebe Gott hat sich von ihr zurückgezogen. Ihr Leben war sehr traurig, ihr Ende unglücklich. Andere Schwestern von derselben Ordensgemeinschaft hatten einen gewissen Teil ihrer Einkünfte verlangt, um sich nach ihrem Belieben zu bedienen, nun: diese Ordensgemeinschaft konnte überhaupt nichts erreichen. Alles Elend kam über sie. Es gibt zahlreiche schreckliche Beispiele, Züchtigungen, die sich die Ordensleute zuziehen, die die Armut nicht einhalten. Der liebe Gott duldet diese Dinge nicht.
Der heilige Hieronymus erzählt, dass viele Ordensleute, die das Gelübde der Armut abgelegt hatten, in der Wüste in kleinen Hütten lebten. Es standen fünf Tausend unter einem Oberen. Sie lebten einzeln in ihrem Kloster und machten Matten. Nun war da ein Ordensmann, der sich mit der Ordensregel nicht zufrieden gab. Er dachte, dass das, was man machte, gut war, aber er wollte lieber etwas anderes machen und begann, Leinen zu weben. Er hatte sich einen Webstuhl besorgt, den er sorgfältig versteckte, damit man ihn nicht sah. Dieser Ordensmann verfiel sehr schnell in eine große Lauheit. Sein Leben wurde immer weniger ordensgemäß, man bemerkte in ihm große Zerstreuung und man wusste nicht, was dieser Veränderung zuzuschreiben war. Schließlich starb der Einsiedler. Als man seine Zelle durchsuchte, fand man den Webstuhl. Man suchte weiter und fand hundert Taler, das sind ungefähr 300 Francs. Das berührte den Ordensoberen. Er schrieb an die Abteien, um sie um Rat zu bitten, was man mit diesem Geld machen sollte. Sie versammelten sich. Es waren alles ausgezeichnete Männer. Man beriet, was man machen werde. Einige sagten: „Man muss es den Armen geben.“ Andere: „Man muss es ins Meer werfen.“ Aber man beschloss, den Ordensmann samt seinem Geld in einem Misthaufen einzugraben und jeder Einsiedler sollte den Fuß auf ihn stellen und sagen: Möge dein Geld mit dir verderben. Das hatte eine sehr große Wirkung in der ganzen Wüste. Es machte einen tiefen Eindruck auf alle Ordensmänner. Mehrere hatten die Offenbarung, dass dieser Unglückliche in der Hölle ist. Seht, wie schrecklich die Strafen des lieben Gottes sind, wenn man gegen die Armut fehlt. Seid also in dieser Beziehung sehr sorgfältig.
Viele fromme Ordensgemeinschaften haben solche Tatsachen in ihren Akten. Kurz nach dem Tod des heiligen Franz von Assisi wollte ein Laienbruder lesen lernen. Das war damals den Laienbrüdern verboten, weil die Ordensleute, die nicht in einem Buch lesen können, im Allgemeinen besser im lieben Gott lesen. Sie hören nur auf die Stimme Gottes, auf den Gehorsam, auf die Ordensregel und werden dadurch sehr verinnerlicht. Die Wissenschaft ist gut, wenn man sich ihrer für den lieben Gott bedient, aber ein Bruder, der nur das Kloster zu fegen hat, braucht nicht viel zu wissen. Diesem unglücklichen Bruder kam also der Gedanke, ein Psalmenbuch zu stehlen, um lesen zu lernen. Er beging damit zwei Fehler: einen gegen die Armut, den anderen gegen den Gehorsam. Es gelang ihm, lesen zu lernen, aber bald darauf starb er. Man hat seinen Diebstahl bemerkt. Am Abend nach seiner Beerdigung hörte man grausige Schreie von der Sakristei her. Der Sakristan eilte herbei und sah diesen Unglücklichen ganz von Flammen umgeben. Er betrat die Sakristei, um sich dieser Tatsache zu versichern. Alle anderen Ordensmänner kamen und sahen dasselbe. Man fand den Sakristan wie tot auf dem Boden liegen. Nach und nach kam er wieder zu sich und erzählte, was er gesehen hatte, und sein Bericht bestätigte, was die anderen ebenfalls kurz zuvor gesehen hatten. Mehrere hatten die Offenbarung, dass dieser unglückliche Bruder verdammt war. Ihr seht, dass das ein sehr großer Fehler ist. Er hatte lebenslang gegen sein Gewissen gekämpft, das ihm sagte, dass er schlecht handle. Er kannte seine Aufgabe, aber er widerstand der Gnade.
Aus diesem Beispiel ist der Schluss zu ziehen, dass ihr ohne Erlaubnis nie über irgendetwas verfügen dürft. Da geht ein Ordensmann auf Reisen. Man gibt ihm Geld. Kann er ein Bild, irgendein Andenken kaufen? Nein, wenn er – noch einmal – dazu nicht die Erlaubnis hat, weil das Geld, das er bekommen hat, nicht dazu bestimmt ist. Ihr werdet mir sagen: „Aber, mein Vater, das ist sehr streng …“ Das ist streng, ja, in diesem Sinn, dass ihr hart bestraft werdet, wenn ihr Schlechtes macht, wenn ihr nicht treu seid, aber es ist keineswegs streng, wenn ihr Gutes tut, also wenn ihr tut, was euch in dieser Hinsicht angegeben wird, dann wird es für euch eine unendliche Quelle der Milde, Gnade und des Segens sein.
Bitten wir Jesus, den göttlichen Armen des Tabernakels, Jesus, den Armen auf dem Stroh seiner Krippe, das Jesuskind im Haus zu Nazaret, bitten wir ihn um den Geist der Armut, um unser Gelübde gut zu erfüllen. Schauen wir in unser Gewissen, ob wir es bis jetzt so verstanden haben, ob wir es so geübt haben. Bitten wir unseren Herrn, uns zu erleuchten, uns einen sehr starken, sehr großmütigen Willen zu geben, damit wir es in Zukunft besser machen. Amen.