5. Vortrag: Über die Armut
Mittwoch Vormittag, 12. September 1883
Heute Vormittag, meine Kinder, will ich zu euch über das Gelübde der Armut sprechen. Ich sagte es euch gestern, die Gelübde sind etwas sehr Ernstes, aber auch etwas sehr Glückliches. Die Nonne, die ihre Gelübde ganz, vollkommen erfüllt, ist der glücklichste Mensch, den es auf Erden gibt. Unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte: „Wir müssen Entschlossene sein.“ Das heißt: dass wir alles machen, was notwendig ist, um die Gelübde vollkommen zu erfüllen und das mit Großmut, mit einer gänzlichen Entschlossenheit, also gut.
Was ist das Gelübde der Armut? Es ist ein Gelübde, durch das wir uns verpflichten, nichts zu haben, nichts zu besitzen. Es ist klar, nichts zu haben, an nichts sicher erfreuen, nur zu haben, was uns die Gemeinschaft, der Gehorsam gibt. Aber es gibt nicht nur das Gelübde der Armut, es gibt auch die Tugend der Armut, die darin besteht, zu lieben, was arm ist, von allem losgelöst zu sein.
Meine Kinder, einige Nonnen – ich sage nicht alle – haben eine große Schwierigkeit, das Gelübde der Armut zu halten. Eine Person, die in der Welt große Güter besessen hat, und sich großmütig zur Armut entschließt, sagt sich: „Ich muss arm sein, deshalb verlasse ich alles.“ Und ihr fällt es leichter arm zu sein als andere, die im Kloster findet, was sie zu Hause nicht hatte. Andererseits sagt man, dass man reich sein muss, um tatsächlich arm zu sein, und dass nur die gut ausgestatteten Häuser dieses Gelübde vollkommen erfüllen können. Das erklärt sich so: Wenn man alles hat, was man braucht, kann man den Entschluss fassen, nichts mehr für sich haben zu wollen, sich von allem zu lösen. Aber wenn es an allem fehlt, was man braucht, ist es schwieriger, den wahren Geist der Armut zu haben, weil das Bedürfnis jeden Augenblick fühlbar ist. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke, aber ich denke: wenn eine Gemeinschaft gut ausgestattet ist, ist es leicht das zu tun, was die Ordensregel verlangt. Wenn es aber nicht so ist, muss sich jede einschränken, um zu bekommen, was man braucht, und daher kommen die kleinen privaten Besitze. Versteht ihr das? Diese Überlegungen sind ein wenig theoretisch, aber ihr müsst sie kennen, um euch vor dieser Klippe zu schützen.
Die Armut wird also leichter in einer Gemeinschaft geübt, wo es Überfluss gibt. In der Lage, in der wir uns befinden, können wir nicht aus dem Vollen schöpfen. Die Gemeinschaft ist nicht reich und jede fühlt, was ihr fehlt. Das kann die Aufmerksamkeit, die Sensibilität und manchmal sogar die Empfindlichkeit erregen und die Übung des Gelübdes wird dadurch für einige Charaktere schwieriger. Die Armut übt ihr gezwungenermaßen, aber wenn ihr sie im frommen Sinne des Wortes übt, werdet ihr sicher einen großen Verdienst haben. Dazu dürft ihr nichts für euch haben, keinen Beisitz. Hängt euer Herz an nichts! Für die Dinge, die in eurem Gebrauch sind, müsst ihr die Erlaubnis des Gehorsams haben und bereit sein, sie sogleich aufzugeben, wenn die Oberin es von euch verlangt. Das ist eine Trennung und die Trennungen sind immer bitter, aber es ist viel mehr wert, sich von kleinen Gegenständen zu lösen und die Gewissheit zu haben, dass sich uns nichts in den Weg stellen wird, um uns daran zu hindern, ins Paradies zu gehen. Man soll also nichts Eigenes haben, weder ein Buch, noch ein Bild, noch eine Reliquie, noch irgendetwas ohne Erlaubnis. Wenn man von euch etwas verlangt, müsst ihr es großmütig geben. Seid in dieser Beziehung feinfühlig, und der liebe Gott wird feinfühlig mit euch sein.
Man soll nicht nur nichts besitzen, sondern es lieben, nichts zu haben, es lieben arm zu sein. Die Ordensregel sagt es, man soll es lieben, die schlechteste Zelle, das älteste Kleid, die abgenütztesten Schuhe zu bekommen. All das soll unsere Wonne sein. Das muss man machen, wenn wir es so machen, wenn wir diese Dinge lieben, werden wir unseren Herrn erfreuen.
Selbst unser Herr wollte arm sein. Er sagte: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Mt 8,20). Das ist das Beispiel, das er uns gegeben hat. Als Herr des Universums wollte er nichts besitzen. Machen wir es wie er, lieben wir es, arm zu sein, von allem losgelöst. Die heilige Johanna Franziska von Chantal liebte die Armut sehr. Sie achtete immer darauf, dass ihr das Schlechteste, das Ärmste, das am wenigsten Gute gegeben wurde. Warum? Weil sie unseren Herrn verstanden hatte. Die heilige Klara von Assisi übte ebenfalls dieses Gelübde der Armut hervorragend. Da sie kranke war und sich nicht aufrecht halten konnte, ließ sie an jeder Seite ihres Bettes eine Mistgabel stellen, um ihre Arme darauf stützen und so arbeiten zu können. Nehmen wir diesen Geist der Armut gut an, meine Kinder. Lieben wir, was nicht ganz gut ist, was nicht nach unserem Geschmack ist und wir werden im Himmel einen großen Schatz erhalten, wir werden dort einen schönen Platz verdienen und schon hier herunten wird uns Gott unser Herr mir seiner Liebe erfüllen. Die Armut wirkt Wunder, bringt Heilungen, sie erhält vom lieben Gott alles.
Die Armut beinhaltet die Ordnung, die Sorge um unsere Sachen, und wenn wir da fehlen, müssen wir uns dessen in der Beichte anklagen. Unser Herr liebt die Armut, die er selbst in Nazaret übte. O, meine Kinder! Machen wir es genauso wie er! Bemüht euch also um die Übung der Armut, in dem ihr nichts besitzt, nichts beschädigt, das ihr in Gebrauch habt, und liebt, was nicht ganz gut ist. Die Armen kleiden sich nicht, wie sie wollen, sie essen nicht, was sie wollen, sondern was man ihnen gibt. Seht die „Kleinen Schwestern der Armen“! Sie gehen hausieren um das, was sie brauchen. Daher ist der liebe Gott mit ihnen, er segnet sie, er wirkt Wunder für sie. Seht die Bettelorden! Wovon leben sie? Von den Produkten ihrer Bettelei, von dem, was man ihnen gibt. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis hatte einen Schwester bei den Kapuzinerinnen in Fribourg. Wenn ich sie besuchte, bewunderte ich die Armut des Klosters. Es kommt manchmal vor, dass im Kloster nichts mehr ist, dann wird die Glocke geläutet und die Leute vom Land bringen Lebensmittel. Sie essen also nicht, was sie wollen, sondern, was sie bekommen.
Als ich eines Tages bei der Heiligen Messe wie immer für euch aus ganzer Seele betete, hatte ich ein sehr starkes Gefühl, dass ich, um euren Willen und eure Urteilskraft zu unterwerfen, jede von euch in die Abhängigkeit von etwas bringen sollte, das ihren Willen abtötet. Meine Kinder, wir haben keine großen Abtötungsübungen. In anderen Kongregationen gibt es besondere Fastenzeiten, ihr habt keine. Deshalb hegen mehrere von euch persönliche Wünsche. Die eine sagt mir dies, die andere sagt mir das, eine andere findet, dass man ein strengeres Noviziat machen sollte. Lasst solche Gedanken sein, bemüht euch mehr, euch nach dem Ordensgeist, dem Willen Gottes auszubilden. Deshalb möchte ich euch diese Exerzitien halten, deshalb will ich, dass ihr sie gut macht, damit sie euch ebenso wie unseren Patres nützlich sind. Welche wunderbare Einfachheit fand ich bei ihnen! Sie wollten ihre Pflichten besser kennenlernen, wie die kleinen Zehnjährigen, die sich auf die Erstkommunion vorbereiten. Es gab bei ihnen dieselbe Treuherzigkeit, dieselbe Offenheit des Herzens, wie bei den kleinen Kindern. Warum? Weil die Gnade Gottes in ihnen wirkte. Sie verstehen wohl die Übung und den Geist der Armut, da sie über nichts verfügen, nicht einmal über einen Pfennig ohne Erlaubnis.
Meine Kinder, unterwerfen wir großmütig unser ganzes Leben dem Joch des Ordensstandes. Lieben wir die körperliche Abtötung besonders bei den Mahlzeiten. Ihr wisst, dass ich euch zu sehr liebe, um euch zu quälen. Es ist mein ganzer Wunsch, dass ihr gute Nonnen werdet, dass ihr Heilige werdet, dass ihr wahrhaftig die Grundpfeiler der Kongregation seid. Ihr müsst dorthin gelangen, und eines unserer großen Mittel wird die Armut sein. Seht die Armen: sie essen, was man ihnen gibt. Wenn man ihnen Brot gibt, essen sie Brot. Wenn man ihnen Fleisch gibt, essen sie Fleisch. Wenn man ihnen ein Ei gibt, essen sie ein Ei. Wenn man ihnen nichts gibt, essen sie nichts. Um den Verstand, den Geist, den Willen zu unterwerfen, muss unser Körper geschwächt sein. Unsere sündige Natur ist so gemacht.
Wenn ihr kochen würdet, wie es euch gefällt, wenn ihr zufrieden wäret, dass sie nach eurem Geschmack ist, wäret ihr keine Nonnen. Man muss das gut verstehen. Ich mache eine Einschränkung für die, deren Gesundheit schwach ist, für die, welche krank sind, die dieses oder jenes Nahrungsmittel nicht essen können. Ihr versteht? Aber es ist etwas anderes, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und etwas anderes zu handeln, wie man will, zu machen, was man für seine Nahrung als angemessen hält. Meine Kinder, ich will euch im Laufe dieser Exerzitien verständlich machen, was ich mir von euch erwarte. Ich wünsche mir, dass ihr sehr fromm werdet, das wird das beste mittel sein, die Zukunft der Kongregation zu sichern. Das Elend, unter dem so viele Oberinnen stöhnen, kommt meistens von einem Mangel an Treue, die Armut zu üben. Man richtet es sich, wie man will, man lebt, wie man kann. Was kommt? Alle möglichen Übel und Mühen.
Frisch auf, meine Kinder, fassen wir Mut, nehmen wir diesen Weg der Armut und Abtötung. Die ganze Heiligkeit, die ich im Laufe meines Lebens antraf, alles Erbauende, das ich sah, waren auf dieser Grundlage gegründet. Daher stellen wir in unsere Satzungen den Artikel, der zu diesem Thema in allen von Rom genehmigten Ordensregeln aufscheint: bei jedem Mahl müssen wir die Abtötung üben, das Brot der Abtötung essen. Das Direktorium sagt: Sie sollen nicht vom Tisch aufstehen, ohne sich abgetötet zu haben. Übt also diese Abtötung gut. Ich kann mich nicht beklagen, Gott sei Dank seid ihr alle gut. Aber ich möchte euch noch mehr von euch selbst losgelöst und abgetötet sehen.
Stellen wir uns auf die Bedürftigkeit ein, meine Kinder, stellen wir uns ganz darauf ein. Versteht mich gut. Jede Schwester, die krank ist und etwas Besonderes braucht, kann es sagen, und sie kann es nicht nur, sondern es ist eine Pflicht für sie, sie muss es tun. Die Oberin muss beurteilen, was zu machen ist, und die Schwester muss sich dem Urteil im Gehorsam fügen.
Es wird also in den Satzungen, die wir genehmigen lassen werden, ein Artikel sein, der die Abtötung betrifft. Nichts ist natürlicher. Oftmals habe ich mit Reimser Kardinal Thomas-Marie-Joseph Gousset (1792-1866) gegessen und es gab immer ein Gericht der Abtötung. Seine Eminenz sagte lachend: „Nehmen Sie, das sind die Konfitüren des Kardinals, nehmen sie nicht viel davon, denn sie sind teuer, man muss Buße tun.“ Man aß ein wenig davon und am liebsten hätte man dann einen Luftsprung gemacht, aber man hat sie dennoch gegessen. Ihr müsstet auch eure Konfitüren des Kardinals von Reims haben, denn ihr müsst euch ein wenig abtöten.
Ich versichere euch, wenn mit der liebe Gott die Gnade gäbe, an eurer Stelle zu sein, wäre ich es aus ganzem Herzen, ich würde ihn aus ganzer Seele bitten, großmütig zu sein. Die Abtötung in der Nahrung oder in allem anderen zu üben ist wohlgetan. Dadurch korrigiert man seine Fehler, seinen Stolz, seine Eigenliebe, seine Liebe zur eigenen Urteilskraft, die Selbstsuche. Wenn einige glauben, in diesem Sinne nicht Nonne sein zu können, werden sie mir nach dem Vortrag sagen: „Mein Vater, was Sie gesagt haben, passt mir nicht. Das ist keineswegs mein Gefühl.“ Äh! Das ist nicht euer Gefühl? Aber es ist das Gefühl der Heiligen Kirche! Man wird es nicht versäumen, einen Artikel in unsere Ordensregeln einzufügen, der die Abtötung betrifft.
Ohne Abtötung gibt es kein Ordensleben, weil es keine Armut gibt. Seit man die Gelübde abgelegt hat, muss man sie erfüllen. Denken wir wohl daran und nehmen wir alles fröhlich an, was uns in der Nahrung wie auch in der Kleidung etwas kostet. Das ist alles hervorragend. Befolgen wir den Rat des heiligen Paulus, tragen wir in uns, in unserem ganzen Sein immer Tag und Nacht die Abtötung unseres Herrn Jesus Christus. Warum sind die Kranken die Bevorzugten des lieben Gottes? Weil sie die Bürde des Leidens, des Schmerzes tragen. Sie nehmen an den Leiden unseres Herrn teil. Lazarus war der Freund unseres Heilands und er hatte eine schwache und zarte Gesundheit. Das Ordensleben ist kein Wonneleben. Versteht ihr, meine Kinder, die Notwendigkeit, die Armut und folglich die Abtötung zu üben? Noch einmal, die Armen machen nicht, was sie wollen, kleiden sich nicht, wie sie wollen, essen nicht, was sie wollen.
Warum macht ihr euch arm? Um den göttlichen Heiland nachzuahmen, um unserem Herrn ähnlich zu sein. Geht zum Pfarrer von Ars, geht zu unserem Herrn in Nazaret, ihr werdet die wahre Armut sehen. Selig die Herzen, die diese Tugend verstehen, und die sich so in die Nachfolge des Heilands begeben! Wie sehr möchte ich die Liebe zur Armut in euren Herzen einpflanzen! Wie möchte ich euch alle in der Liebe des Herzens unseres Herrn sehen, der die Armut liebte, wie würde er euch lieben! Amen.