4. Vortrag: Über die Gelübde allgemein
Dienstag Abend, 11. September 1883
Meine Kinder, wir halten Exerzitien besonders für die Professschwestern, weil die Professschwestern strengere Verpflichtungen haben als die Novizinnen. Da die Verpflichtungen verschieden sind, ist es angebracht, dass auch die Vorträge unterschiedlich sind.
Die Professschwestern haben Gelübde abgelegt. Das Gelübde ist ein Gott gegebenes Versprechen, durch das man sich zu etwas verpflichtet, das zu machen besser ist als es nicht zu machen. Es verpflichtet im Gewissen, es verpflichtet, als wäre es ein neues Gebot Gottes. Es ist eine Verpflichtung, die Gott angenommen hat, genehmigt hat, die er liebt. Dies ist eine Verpflichtung, die uns heilig sein muss.
Das im Ordensstand abgelegte Gelübde ist ein Akt, der nicht durch das Gesetz Gottes auferlegt wird, der aber in den evangelischen Räten steckt. Unser Herr hat gesagt: „Geh, verkaufe, was du hast, … dann komm und folge mir nach!“ (Mk 10,21). An anderer Stelle preist er die Ehelosigkeit und fügt hinzu: „Wer das erfassen kann, der erfasse es“ (Mt 19,12). Er ließ seinen Jüngern die Freiheit, bei ihren Verwandten zu bleiben, wie jedermann zu leben. Er hat sie nicht gezwungen, ihm zu folgen, aber er sagte ihnen: „Wenn ihr vollkommen sein wollt, kommt und folgt mir. Kommt, schließt in der Welt keine Bindungen, bewahrt euer ganzes Herz für mich.“ Man hat die Freiheit, Gelübde abzulegen oder nicht, aber wenn man sie ablegt, ist man verpflichtet, sie zu erfüllen. Das ist etwas Heiliges. Wenn zum Beispiel ein Priester, der durch die geistlichen Versprechen gebunden ist, Verpflichtungen in der Welt eingehen wollte, wäre die Kirche dagegen und diese Verpflichtungen hätten keinen Wert. Es ist das Wesen der Gelübde, dass sie den Stand der Person, die sie ablegte, für immer verändern. Da ist ein junger Mann, der in einen Orden eintritt. Durch diese Tatsache verschließt er sich anderen Laufbahnen, die ihm offen waren. Ihr seht es, meine Kinder, die Gelübde bringen eine Veränderung des Standes, der Lage. Durch die Gelübde werden wir eine andere Person, wir können nicht mehr sprechen, denken, handeln wie vorher.
Das Gelübde ist äußert gut, äußerst wünschenswert. Es ist gewiss, dass die Nonne, die ihre Gelübde erfüllt, der Liebe des Heilands würdig ist. Sie ist sicher, dass sie im Himmel eine besondere Belohnung erhalten wird. Im Himmel werden wir umso mehr erhöht und glücklich sein, je besser wir unsere Gelübde erfüllt haben. Der Ordensstand wird im Himmel mit einem besonderen Glanz erstrahlen. Nach dem heiligen Thomas [von Aquin] rivalisiert nur das Bischofsamt in Ehre und Würde mit der demütigsten Nonne, da auch das Bischofsamt ein Stand der Vollkommenheit ist. Am Tag, an dem man seine Gelübde ablegt, erhält man unvergleichliche Gnaden von Gott. Es ist wie eine Wiedergeburt, wie der Beginn eines neuen Lebens. Der Heiland überhäuft die Seele mit Segen. Ihr seht, meine Kinder, die Größe der Gelübde.
Ihr habt Gelübde abgelegt. Bittet inständig darum, die ganze Tragweite diese Gnade zu verstehen. Ich bedaure, dass ihr nicht Zeit habt, mehr zu studieren, um all das besser aufzunehmen. Bis jetzt war euer Leben mit euren apostolischen Arbeiten überladen. Tatsächlich haben nur wenige von euch eine genaue theologische Idee vom Wert der heiligen Gelübde. Und wie wäre das doch nützlich! Jemand, der die Geografie gut kennt, kann euch sagen: „Geht nicht an diesen Ort, denn dort gibt es häufig Erdbeben, das Klima ist ungesund …“ Ebenso würde euch die Theologie sagen: „Gebt Acht, unter diesen und jenen Umständen glaubt ihr, dass ihr in Sicherheit seid, dass ihr auf festem Boden steht, dies ist aber keineswegs der Fall.“ Daher ist mein lebhafter Wunsch, dass jede sich bemüht, die Verpflichtungen der Gelübde kennenzulernen, wie es Mgr. Mermillod wünschte.
Früher war in den Gemeinschaften, in den Familien die religiöse Unterweisung viel ernster, viel tiefer. Man kannte die Verpflichtungen, die Vorteile der Gelübde besser. Heute ist man zu oft weniger belehrt. Und dennoch ist diese Kenntnis von größter Wichtigkeit. Lasst mich also eure Aufmerksamkeit auf diesen Punkt lenken. Jedes Jahr spreche ich zu unseren Patres über die Gelübde, über das Wesen der Gelübde. Sie haben Theologie studiert, aber das genügt ihrer Verehrung nicht. Sie werden von den Gelübden sehr berührt. Für sie ist der Gehorsam etwas Heiliges. Unter den Oblaten gibt es keinen einzigen, der einen Pfennig oder ein kleines Bildchen ohne Erlaubnis annimmt.
Ich wiederhole es, ich wünsche mir sehr, dass ihr im Noviziat ein wenig Theologie lernen könnt. Nichts entzückt die Seele so sehr wie dieses Studium über Gott. Ich verstehe nicht, dass man dem lieben Gott gehört, ohne sich immer besser über seine Verpflichtungen zu informieren. Deshalb bemühe ich mich, euch eine genaue Kenntnis der Würde und der Tragweite der Gelübde einzuhämmern, die abzulegen ihr das Glück hattet. Sie sind so wichtig, dass sie über das zeitliche und das ewige Glück entscheiden. Wenn man ihnen untreu ist, ist man im Zustand der Sünde. „Also“, werdet ihr sagen, „wenn man Gelübde ablegt, ist es schwieriger, sich zu retten?“ Im Gegenteil, es ist zehnmal leichter, denn die Gelübde sind mächtige Mittel, damit wir zur Heiligkeit gelangen.
Diese Gnade, sich durch Gelübde zu binden, ist etwas so Gutes, dass Gott in seiner Liebe nichts Besseres gefunden hat. Es bedurfte all seiner Liebe, all seiner Macht, um uns die Gelübde zu geben. Der liebe Gott kann neue Himmeln, neue Erde schaffen, aber er kann uns nichts Wünschenswerteres als das Gelübde geben, das uns mit ihm vereint und zwischen ihm und uns keinen Zwischenraum mehr lässt. Durch den Gehorsam gibt er uns seinen Willen; durch die Armut gibt er uns seine Güter; durch die Ehelosigkeit schenkt er uns seine Liebe. Der liebe Gott kann uns nichts Besseres schenken als sich selbst. Die wahren Nonnen verstehen das gut. Selbst die heilige Jungfrau hatte Gelübde abgelegt, als sie in den Tempel eintrat. Sie war ihnen ständig treu. Wenn ich euch den heiligen Thomas [von Aquin] zitierte, würde er euch begeistern. Wenn man ihn liest, sieht man, dass der liebe Gott das arme menschliche Wesen nimmt und ihm sagt: „Suche für dein Herz keine andere Nahrung, ich schenke dir meine Liebe, alles, was ich bin.“ Welches Glück genießt daher die Seele, die das versteht und nichts anderes sucht! Dieses Glück ist unvergleichlich. Erfahrt es, erneuert eure Gelübde aus ganzem Herzen und ihr werdet im Paradies sein, ihr werdet Gott sehen, wie ihn die Engel sehen, ihr werdet ihn lieben, wie ihn die Cherubine lieben.
Unsere Gelübde sind Bande, aber Bande der Liebe, die uns mit dem lieben Gott vereinen, Bande, denen man große Achtung entgegenbringen muss. Es scheint mir, dass wir sehr bedacht sein müssen, unsere Gelübde zu beachten, jede Gelegenheit und jeden Gedanken auszuschalten, der dagegen wäre. Man muss sie mit Feuereifer halten. Die Ehe ist eine Vereinigung von Mann und Frau, um nur noch eins zu sein. Die Gelübde sind eine geistige Ehe, damit wir mit dem Heiland nur noch eins sind. Diese Bande sind heilig, man zerreißt sie nicht. Lassen wir uns von diesen Gedanken durchdringen. Wir werden nie genug darüber nachdenken können. Durch eure heiligen Gelübde gehört ihr dem Heiland, und wenn ihr den Gegenstand eurer Liebe tatsächlich liebt, werdet ihr nicht das Herz haben, euch zurückzunehmen, euch von ihm zu trennen. Ich gehe nicht auf andere Erwägungen ein, aber ich lege Wert darauf, euch eine Ahnung von der Wichtigkeit eurer Gelübde zu geben. Wir werden unseren Herrn bitten, dass wir unsere Einheit mit ihm besser verstehen, dass wir diese drei Bande lieben, die uns mit seiner Liebe, seinem Herz verbinden. Amen.