12. Vortrag: Über die Liebe
Samstag Abend, 15. September 1883
Meine Kinder, jetzt sind wir ans Ende unserer Exerzitien gekommen, und wir konnten tatsächlich nicht alle Themen behandeln, die nötig gewesen wären. Wir sagten einige Worte über den Gehorsam, und diese paar Worte sind sicher ungenügend. Ich sagte euch auch ein paar Worte über den Geist unserer Berufung. Spiritus est qui vivificat – Der Geist gibt das Leben in einer Kongregation. Ich habe euch gesagt, dass wir aus dem Haus unseres Herrn sind. Wir gehören ihm. Wir sind nicht dazu da, um ihn in diesem oder jenen Bereich seines Lebens nachzuahmen, wir sind da, um ihn in allem nachzuahmen. Wir hätten mehr Zeit gebraucht, um ein wenig nähre in die Einzelheiten einzugehen.
Heute Abend, meine Kinder, werde ich nur einige Worte der Ermutigung an euch richten können. Ich fordere euch alle auf, in alle dem, was euch bei diesen Exerzitien an Erkenntnissen aufgegangen ist, standhaft zu bleiben. Sie waren für euch ein Licht zur Klarheit dessen, was ihr gesehen habt, ihr habt vieles begriffen, ihr habt die Wichtigkeit eurer Gelübde erfahren und verstanden. Ich werde also von einer wesentlichen Frage zu euch sprechen, die sich auf unsere Gelübde und unsere Berufung bezieht: ich will nun von der Liebe unter euch reden.
Einige von euch haben das Gelübde der Liebe abgelegt und ich fordere euch auf, das ihr alle es macht. Macht es für zwei oder drei Monate und erneuert es dann getreu. Die Liebe ist so sehr das Wesentliche unseres Geistes, unseres Lebens, dass wir ohne sie keine echten Oblatinnen sind. Woraus besteht das Gelübde der Liebe? Es besteht hauptsächlich darin, unseren Mitschwestern nichts Hartes zu sagen, zu vermeiden, ihnen Schmerz zu bereiten, sie zu betrüben. Aber es ist nicht genug zu vermeiden, ihnen Schmerz zu bereiten, man muss auch das Mittel finden, ihnen angenehm zu sein. Durch das Gelübde der Liebe verpflichten wir uns, alles zu tun, dessen es bedarf, um liebenswürdig, herzlich zu sein, das heißt Übungen der Liebe, der Güte, der Milde in Bezug auf unsere Schwestern zu machen, ihnen in aller Einfachheit, allem Vertrauen unsere Zuneigung zu bezeugen, etwas das uns miteinander verbindet. Dazu verpflichtet euch euer Gelübde der Liebe. Dieses gut verstandenen Gelübde würde genügen, um euch zu heiligen. Es ist das schönste aller Gelübde, es ist das Gelübde der Einheit der Herzen, das den Heiland am meisten in die Gemeinschaft zieht. Unser Herr hat gesagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Unser Herr ist da, weil er es versprochen und bekräftigt hat, man muss es glauben.
Um das Gelübde der Liebe gut zu üben, müssen wir jedes schmerzhafte Wort und alles Verletzende dem Nächsten gegenüber vermeiden. Man muss fürchten, den Nächsten zu verletzen, wie man fürchtet, seinen Augapfel zu verletzen. Legt auf diese Aufgabe der Seele einen großen Wert, meine Kinder, die dazu dient, dem Nächsten Freude zu bereiten. Durch die Gnade Gottes werdet ihr nicht wirklich willentlich gegen die Liebe fehlen, ich weiß es. Es passiert euch jedoch, in vieler Art und Weise dagegen zu fehlen. Man spricht vielleicht zu leicht von der einen oder der anderen, von diesem oder jenem Haus, und oft denkt man nicht einmal daran, es zu beichten, dennoch ist es ein wirklicher Fehler, er ist Stoff des Beichtbekenntnisses. Für die, die das Gelübde der Liebe abgelegt haben, ist es ein Fehler gegen ihr Gelübde, für die, die es nicht abgelegt haben, sie müssen bedenken, dass der Heiland aus der Liebe ein Gebot gemacht hat, und dass sie im Gewissen verpflichtet sind, es einzuhalten. Sie machen also ebenfalls einen Fehler.
Man kann in seinen Worten gegen die Liebe fehlen, indem man sich ungünstig über die eine und die andere unterhält. Wenn es in diesem Jahr solche Fehler gab, müssen die, die sie begangen haben, dafür Buße tun und die Liebe üben. Es wäre sogar gut, dass sie das Gelübde ablegen, wenigstens für eine gewisse Zeit. Wir beichten, der liebe Gott verzeiht uns kraft des Sakramentes unsere Fehler und durch unsere Reue, aber dennoch bleibt eine gewisse Verwirrung, eine gewisse Betäubung auf dem Grund unseres Herzens, die bewirkt, dass wir uns nicht wohl fühlen. Die Verzeihung wird zwar der Reue gewährt, aber das genügt nicht. Nach der Beichte bleibt es uns, für diesen Fehler Buße zu tun. Wir sind dabei nicht zu streng. Ich glaube nicht, dass unserer Patres während des ganzen Jahres einen einzigen überlegten Fehler gegen die Liebe gemacht haben. Ich glaube es nicht. Man muss es ihnen nachmachen und in diesem Punkt sehr aufmerksam sein. Wir sind es vielleicht nicht genug, und dennoch, wenn man Oblatin ist und gegen die Liebe fehlt, fehlt man gegen seine Berufung. Wir üben die Liebe im Allgemeinen nicht genug sorgfältig. Wir sind nicht auf der Höhe des Gebotes unseres Herrn, nicht auf der Höhe der evangelischen Räte, nicht auf der Höhe unserer Berufung. Man fehlt auf so viele Weise gegen die Liebe. Seid also in dieser Hinsicht sehr heikel, meine Kinder.
Wenn uns eine Mitschwester Schmerz bereitet, soll man es dann jemandem sagen? Doch, ihr könnt es der Oberin sagen, der Meisterin, das ist gut, aber es muss auch sein, dass man es sagt, um sich zu entlasten, um nicht mehr daran zu denken. Aber wenn man es macht, um sich zu befriedigen, o, das ist schlecht, das ist Öl, das man ins Feuer schüttet, um es zu schüren. Man muss es sagen, aber ruhig und würdevoll. Der heilige Franz von Sales sagte, dass diejenigen, die so handeln, alles mögliche finden, nur nicht die, die die anderen verletzt haben. Wenn wir uns verletzt fühlen, so ist das, weil wir stolz und empfindlich sind, wenn wir sehr demütig wären, würden wir die Widersprüche leichter annehmen und wir würden der Person, die uns verletzt hat, leichter verzeihen, wir würden uns dem Willen unseres Herrn unterwerfen, der diese Schwierigkeit zulässt. Es liegt nicht zu sehr in unserer Natur, die Dinge so zu nehmen, aber mit ein wenig Mut und gutem Willen gelingt es.
Meine Kinder, da ich von der Liebe spreche, glaube ich, euch sagen zu müssen, dass es wesentlich ist, dass man darüber wacht. Manchmal hat man keine großen Skrupel, ein Wort über diese oder jene zu sagen und dann läuft die Liebe Gefahr, in unserem Herzen Schiffbruch zu erleiden. Ehe wir auseinander gehen, müssen wir ins diesem Punkt feste Vorsätze fassen. Wenn ich euch vorwerfe, die Liebe nicht genug zu üben, klage ich euch nicht fälschlicherweise an, ihr fehlt darin leicht und manchmal, ohne dass ihr es ahnt, ohne dass ihr darauf achtet. Hüten wir uns, in dieser Hinsicht unter dem Niveau der christlichen Frauen in der Welt, der gut erzogenen Personen zu bleiben, denn sie wahren zumindest den Anschein. Wenn ich euch das sage, glaube ich nicht, euch zu beleidigen. Ihr müsst alle darüber nachdenken, es erwägen.
Können die, welche ein Amt über andere haben, wie die Hausoberin, die Novizenmeisterin und andere, die eine Aufgabe haben, nichts über den Nächsten sagen? Doch! Es ist sogar ihre Pflicht für sie, aber es gibt sagen und sagen. Man darf nicht reden, um ein gewisses Gefühl der Rache, der gekränkten Eigenliebe zu befriedigen. Wenn man so spricht, setzt man sich der Gefahr aus, nicht die Wahrheit zu sagen und andererseits folgt man dem Hang seiner eigenen Empfindlichkeit.
Unser Herr sagte zu seinen Aposteln: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt“ (Joh 13,35). Und euch, meine Kinder, muss man auch daran erkennen, wie ihr einander liebt. Die Liebe wird euch als die Jünger, als die Kinder des Heilands erkennen lassen. Das ist das unfehlbare Kennzeichen, achten wir darauf.
Die liebe ist eine große Abtötung. Üben wir sie gut. Bitten wir den heiligen Franz von Sales, der so hervorragend Herr seines eigenen Herzens war, uns zu helfen. Sprechen wir nicht über die anderen, denn vor allem da sind die Verfehlungen beträchtlicher und wiederholen sich häufiger. Das ist Stoff einer sehr ernsten Gewissenserforschung, das ist Stoff der Beichte. Jede von euch muss sich also erforschen und sich die Gelegenheiten bewusst machen, in denen sie fehlt. Dann ergreift eure Maßnahmen, eure Vorsichtsmaßnahmen, um euch in diesem Punkt nicht von der Ordensregel zu entfernen. Das ist eine sehr wichtige Sache. Nichts würde mehr Ärgernis erregen als eine Oblatin, die ihr Gefühl über den Nächsten äußert und eine Mitschwester, mit der sie in Verbindung steht, ungünstig beurteilt. Das klingt nach einer Person der Welt, die sich nur darum sorgt, ihren eigenem Willen zu folgen. Wir werden uns in dieser Hinsicht gut erforschen und feste und großmütige Vorsätze fassen.
Ich habe euch für den Gehorsam gesagt, dass man entschlossen sein muss. Nun, meine Kinder, für die Liebe müsst ihr ebenfalls entschlossen sein. Eine Mitschwester sagt uns etwas, es verletzt uns, wir müssen es annehmen, wir müssen uns auf den letzten Platz stellen und annehmen, was sie uns sagt, wie eine Zulassung vom lieben Gott. Wir müssen uns unter die stellen, die uns beleidigt hat. Das mittel, dieses Zeugnis der Liebe zu üben, ist zu handeln wie die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte, nämlich: entschlossen zu sein. Man muss sich sagen: „Ich bin entschlossen zu gehorchen, ich bin entschlossen, liebevoll zu sein, jedem Gutes zu tun, alles guten Mutes anzunehmen.“ Sobald man sieht, dass man sich von der Liebe entfernt, muss man sich wieder hinbegeben. Wir müssen Entschlossene sein. Nur die gut entschlossenen Willen können nicht unterliegen, können das Gelübde der Liebe halten. Wir werden in dieser Hinsicht einen festen Entschluss fassen, damit diese Exerzitien gut und nützlich sind. Wenn wir gelernt haben zu gehorchen, wenn wir gelernt haben, von welchem Geist wir sind, und wie wir die Liebe üben müssen, werden die Exerzitien für uns gut sein.
Diese Tage der Einsamkeit waren kurz, aber sie waren nicht ohne tiefe Wurzeln in unsere Herzen zu pflanzen, und nicht ohne reiche Früchte zu tragen. Bittet den Gott einer jeden Liebe, euren Willen mit dem des Nächsten zu vereinen, damit ihr immer sanft, einfach, mildtätig und liebenswert seid. So müsst ihr mit dem Nächsten umgehen. Fassen wir wohl diese Vorsätze, legen wir sie in das Herz dessen, der für uns gestorben ist. Er hat jeden von uns eine unendliche Liebe gebracht, bringen wir also auch jeder eine sehr aufrichtige Zuneigung entgegen.
Eine heilige Seherin litt sehr, und als man sie fragte, für wen sie so leide, antwortete sie: „Für die Priester und die Ordensleute.“ Und da man sie mehr bedrängte, sagte sie weiter: „Man muss für die Ordensleute viel leiden.“ Man versteht, dass sie damit sagen wollte, dass die Ordensleute so große Verpflichtungen haben, dass der liebe Gott von ihnen seine so große Treue verlangt, dass es wie ein Abgrund ist, der zu füllen ist zwischen dem, das sie machten, und dem, das sie hätten machen sollen. Die Seherin opferte ihre Leiden, um diesen Abgrund zu füllen.
Fassen wir heute Abend den Vorsatz, die Liebe gut zu üben. Mögen die, die das Gelübde abgelegt haben, es erneuern, und die, die es nicht abgelegt haben, es ablegen, wenn ihnen der liebe Gott den Wunsch dazu eingibt, damit es wie das vierte Gelübde der Kongregation ist. Es gibt Kongregationen, die ein besonderes Gelübde ablegen: sich den Kranken oder dem Unterricht zu widmen, die Gefangenen loszukaufen, dieses oder jenes besondere Werk zu tun. Nun, meine Kinder, ich glaube, dass es gut wäre, dass ihr das Gelübde der Liebe ablegt, dass es euer viertes Gelübde ist. Wenn wir es einige Zeit gut geübt haben werden, wird es in uns eine so große, so bemerkenswerte Veränderung geben, dass man sagen wird, wenn man uns sieht: „O, ja, das sind wohl die Kinder des himmlischen Vaters, der seinen Tauf auf das Feld des Sünders wie auf das Feld des Gerechten sendet.“
Möge der Gott aller Liebe diese Gedanken, diese Vorsätze wohl in euer Herz legen. Amen.