9. Vortrag: Über den Eifer für das Seelenheil der Kinder
Freitag Vormittag, 24. September 1880
Bis jetzt, meine Kinder, haben wir die verschiedenen Verpflichtungen eures Ordenslebens gestreift, die Verpflichtungen, die euch persönlich betreffen, eure Pflichten Gott, eurer Oberin, euren Mitschwestern gegenüber. Wir haben sie gemeinsam betrachtet. Heute habe ich ein anderes Thema zu behandeln.
Was ist der besondere Zweck eures Instituts? Dem nächsten das geistige Wohl zu verschaffen. Im Messstipendium, das ich soeben für euch zu Ehren des Festes unserer Lieben Frau von der Barmherzigkeit aufgeopfert habe, erinnert und die heilige Kirche daran, dass die heilige Jungfrau die Gründung eines Ordens für die Befreiung der Gefangenen anregte (Orden der Allerseligsten Jungfrau Maria von der Barmherzigkeit zum Loskauf der Gefangenen – Mercedarier-Orden). Zu jener Zeit verwüsteten die Sarazenen stets die Küsten des Mittelmeeres und machten zahlreiche Christen zu Sklaven. Die Ordensleute legten das Gelübde ab, ihr Leben dem Rückkauf der christlichen Sklaven zu widmen. Wenn sie sie nicht mehr mit Geld befreien konnten, traten sie selbst an ihre Stelle. 1198, ein Jahrhundert früher, hatten schon der heilige Johannes von Matha (1154–1213) und der heilige Felix von Valois (1127–1212) den Trinitarierorden gegründet, der sich auch der Befreiung von Gefangenen widmete. Diese Ordensgemeinschaft besaß 1789 zwei Häuser in Troyes, eines in der rue de Trinité, das andere im Vorort Saint Jacques. Man berichtet, dass sich diese Trinitariermönche in die heidnischen Staaten aufmachten, um dort die christlichen Sklaven loszukaufen und sie nach Troyes zu bringen. Man machte eine Prozession, wo man die Gefangenen sah, die mit kleinen silbernen Ketten gefesselt waren und von als Engel verkleideten Kindern geführt wurden. Man empfing sie so am Stadttor und führte sie zum Dom, wo der Bischof die Messe feierte. Er ließ dann die Ketten fallen und gab die Sklaven ihren Familien zurück. Solche Zeremonien waren sehr schön und sehr rührend. Die Kinder, die solche Schauspiele vor Augen hatten, und Zeugen waren von der Ergebenheit dieser Männer, die sich in Gefangenschaft begaben, um aus Liebe zu unserem Herrn ihre Brüder zu befreien, behielten es in Erinnerung, und es gab ihnen hohe Gefühle und bewies ihnen, wie das Ordensleben Wertschätzung und Bewunderung verdient.
Ohne Zweifel ist heute in der Kirche Gottes die heldenhafte Hingabe für den Nächsten nicht selten, obgleich sie sich in verschiedenen Formen darbietet, aber sie vollzieht sich unbemerkter. Viele ahnen sie nicht einmal und haben keine Vorstellung von diesen großen Beispielen an Glauben und Nächstenliebe. Deshalb ist es so schwer, gute Nonnen auszubilden. Viele Seelen, die in ihrer Familie diese schöne Überlieferung des Glaubens nicht gefunden haben, die die Tugend liebenswert und verständlich macht, sind ganz ausgetrocknet. Es fehlt ihnen etwas, weil sie die wirklichen Schönheiten unserer Religion nie kosteten. Daher müssen sie neu Tatkraft aus dem Gemeinschaftsleben schöpfen, um zu erhalten, was sie durch die erste Erziehung nicht bekamen.
Wenn viele von uns der Wohltat beraubt wurden, in einem wirklich christlichen Umfeld aufzuwachsen, haben wir Kinder um uns, die noch viel ärmer sind, als wir es waren. Oft haben sie keine Familie, oder wenn sie eine haben, was erhalten sie von ihr? Sie finden dort weder das Beispiel eines christlichen Lebens noch den Opfergeist. Man spricht vielleicht noch einige Gebete, man geht vielleicht noch zur Messe, aber man versäumt sie ohne Gewissensbisse, wenn die Kleidung nicht der Eitelkeit entspricht. Man führt ein zerstreutes Leben, man sucht das Vergnügen, man geht ins Theater, und die wenigen guten Gefühle, die man hatte, verflüchtigen sich bald. In früherer Zeit wurden die Kinder streng erzogen. Bei den Mahlzeiten schickte man sie zum Nachtisch weg. Man führte sie in die Dinge der Welt nicht ein. Aber heute findet man diese Erziehungsart nicht mehr, nicht einmal in den christlichen Familien.
Meine Kinder, nachdem, was mir Monseigneur Mermillod und die gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagten, sind wir berufen zum Rückkauf der Seelen beizutragen, wie sich die Trinitarier für den Loskauf der Sklaven verwendeten. Deshalb dränge ich euch, euch zu heiligen, euch ganz dem lieben Gott zu schenken, euch an euer Direktorium zu hängen. Was könnt ihr machen, wenn ihr selbst von euren persönlichen Zuneigungen, von eurem Eigenwillen erfüllt seid? Ihr sollt die Seelen mit dem Gold der Liebe zurückkaufen. Wo ist dieses Gold? Woher werdet ihr es nehmen? Ihr habt nichts. Aber unser Herr hat gesagt: „Bittet und ihr werdet empfangen.“ (Joh 16,24). Wenn ihr ihn gebeten hättet, hätte er euch das reine, strahlende Gold gegeben, mit dem ihr die in der Welt und der Sünde gefangenen Seelen zurückkaufen könntet sowie die vom Teufel auf die Pfade des Todes gezogenen Seelen. In der Apokalypse heißt es: „Darum rate ich dir: Kaufe von mir Gold, das im Feuer geläutert ist, damit du reich wirst.“ (Offb 3,18). Meine Kinder, erbittet dieses Gold vom ewigen König eurer Seelen. Er besitzt es, er wird es euch geben. Was ist dieses im Feuer geläuterte Gold? Es ist das Gold der Treue zu eurem Direktorium, es ist das Gold der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Das sei der Gegenstand eures Gebetes. Möge es Gott gefallen, dass ihr um dieses Gold bittet und fleht. Ihr seid nicht einsam, ihr seid von allen diesen kleinen Seelen umgeben, die voll Elend sind. Sagt mir, wenn ihr ein Goldstück mitten auf dem Weg sehen würdet, würdet ihr es dahinrollen lassen, wo ihr es gefunden habt? Nein, ihr würdet sagen: „Das ist ein wertvoller Gegenstand, ich werde ihn wohl reinigen, um mich seiner zu bedienen.“ Die Seele dieses Kindes ist etwas viel Wertvolleres. Unser Herr hat sie mit seinem Blut zurückgekauft, er hat sie oft mit seinen Sakramenten genährt. Es ist eine verschmutzte Perle, sie rollte mitten auf den Weg. Nehmt sie an, helft ihr, sich zu reinigen, sie wird in alle Ewigkeit strahlen.
Meine Kinder versteht dieses Aufgabe gut. Sie ist notwendiger denn je. An dem Tag, als Monseigneur Mermillod kam, um unseren ersten Schwestern den Schleier zu überreichen, sagte er, wie ihr wisst, dass ihr berufen seid, die Seelen zu heiligen, dass ihr die Hilfskräfte des Klerus sein werdet. Als ich unserem heiligen Vater Papst Pius IX. schrieb, ließ er mit antworten – worum zu bitten ich nicht gewagt hätte – in sehr väterlicher Weise, dass er all unsere Bemühungen segne, und er schloss mit diesen Worten, die alle Zuneigung seiner Seele enthüllen: „Ich segne euch und eure Werke aus ganzem Herzen.“ Das ist eure Gründung, die Bekräftigung des Willens Gottes für euch. Wie ehedem die Mönche des Ordens unserer lieben Frau von der Barmherzigkeit seid ihr also dazu berufen, die Seelen zurückzukaufen. Um die Seelen, die dem Teufel gehören, zurückzukaufen, müsst ihr reich sein. Wie werden wir diesen Reichtum bekommen, der uns das Gold in die Hand legen wird? Durch den Opfergeist. Gold in unsre Hände legt uns unser Direktorium, die Nächstenliebe. Fasst also den Vorsatz, es nie an Hingabe für den Nächsten fehlen zu lassen. Macht dem lieben Gott nicht das Gelübde, sondern gebt ihm das Versprechen, in seiner Heiligen Gegenwart zu leben, nicht dieses materielle Leben zu führen, das sich nur mit sich selbst beschäftigt, das alles auf sich bezieht. Seid nicht frei wie Töchter im Haus ihrer Mutter oder wie Hausfrauen, sondern führt das Leben heiliger Nonnen, die von der Beobachtung ihrer Ordensregel ganz eingenommen sind. Das ist das Gold. Ihr habt das Gold in der Hand, ihr könnt diese kleine Seele kaufen. Wieviel ist sie wert? Wie viele Fehler hat sie gemacht? Wie viele Fehler hat sie vielleicht veranlasst? Wie viel verdankt sie der Gerechtigkeit Gottes? Wo werdet ihr das Mittel holen, ums sie zu retten? Es kann nur das eine Gold diesen Rückkauf tätigen, daher die strenge Verpflichtung zu machen, was ich euch während der Exerzitien gesagt habe. Nur durch unsere persönliche Heiligung können wir die Seelen zurückkaufen, sonst wären wir eine tönende Zimbel, Bäume ohne Früchte, von denen man sich nichts erwarten kann. Das sind wir, wenn wir nicht wirklich gute Nonnen sind.
Meine Kinder, unsere Mutter Marie de Sales Chappuis sagte mir, als wir von euch sprachen: „Sie werden mehr Gnaden bekommen als viele anderen, weil sie mehr brauchen werden.“ Ihr seid verpflichtet, euch zu heiligen, um am Heil der Seelen, die euch anvertraut sind, zu arbeiten. Aber eine Schwester wird mir sagen: „Ich koche.“ Eine andere: „Ich bin in der Wäschekammer, wie soll ich die Seelen zurückkaufen?“ Wenn es auf einem Schiff niemanden gäbe, der kocht, würden die Matrosen verhungern. Wenn niemand den Heizkessel versorgte, würde das Schiff auf dem Meer stehen bleiben. Meine Kinder, ihr habt alle Anteil, ihr wirkt alle durch eure Arbeit am Heil der Seelen mit. Ich kannte eine Bekleidungsschwester in der Heimsuchung, die sagte: „Gib, Herr, der, die dieses Kleid tragen wird, den Geist der Betrachtung, jener den Geist der Liebe.“ Und ich weiß, die Trägerinnen dieser Kleider fühlten den Einfluss dieses Gebetes. So wirkt die Arbeit der Heiligen.
Morgen ist das Fest der heiligen Maura von Troyes. Ihr wisst, dass sie ein Chorhemd für den heiligen Prudentius, Bischof von Troyes machte. Und der heilige Bischof berichtet: „Bis jetzt war ich kalt, wenn ich das heilige Opfer feierte, aber wenn ich jetzt dieses Chorhemd anziehe, das Maura mir schenkte, zerfließe ich in Tränen, weil die Hand, die dieses Kleidungsstück gemacht hat, die Hand einer Heiligen ist.“ Was gab dem Kraft, das Maura berührte? Es war die Heiligkeit dieses Mädchens. Wenn es sich nicht geheiligt hätte, hätte es nicht die anderen geheiligt. Sie gehörte ganz dem lieben Gott, und alles, was sie machte, wurde für ihn gemacht und hatte eine besondere Gnade, um ihn den Seelen mitzuteilen.
Beten wir, arbeiten wir für das Heil der Seelen. Seht, wie viele arme kleine Kinder dazu verurteilt sind, das Brot der Gottlosigkeit zu empfangen, sich von allem Schlechten zu ernähren. Was für ein Schmerz! Man lehrt sie Böses, oder was man sie lehrt, hat eine schlechte Grundlage. Man wird sie lesen lehren, um ihnen schlechte Schriften vor Augen zu führen, rechnen, um in ihr Herz den Durst nach Geld zu legen. Man wird sie nichts von der Religion lehren, sie sind nur Sklaven!
Meine Kinder, ahmt diese ergebenen Männer des Mittelalters nach, die sich gruppenweise engagierten, um die Sklaven zurückzukaufen. Bedenkt, was ich euch soeben sagte: Liebt die Welt nicht und nichts, das von der Welt ist. Liebt diese armen kleinen Seelen, rettet sie. Sie stecken im Morast, und nach dem Morast der Erde werden vielleicht die Flammen der Hölle kommen. Denkt an Jesus, denkt, dass ihm eure Arbeit, eure Leiden Seelen zurückgeben sollen, und macht mir Freuden etwas für sie.
Möge Jesus, der göttliche Sieger, der Sieger der Welt, auch in euch siegreich sein. Er möge euch den Mut geben, euch selbst zu besiegen. Und dann werdet ihr die Kraft haben, die Welt zu besiegen. Amen.