Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1880

      

8. Vortrag: Mittel, um die Übung der Liebe zu erleichtern

Donnerstag Abends, 23. September 1880

Meine Kinder, wir haben schon viel über die Ordensregel gehört, über die Beziehungen der Ordensschwestern mit der Oberin, der Novizenmeisterin, die Beziehungen der Oberin mit den Ordensschwestern und den Ordensschwestern untereinander. Heute Abend will ich euch noch ein Wort über die Nächstenliebe sagen.
Es muss die Liebe die hauptsächliche Übung unseres Lebens sein. Alle Personen, die mit uns in Verbindung stehen, müssen fühlen, dass uns ein Motiv der Liebe handeln und sprechen lässt. Sonst wären wir wie Nonnen, die keinen bestimmten Charakter, kein inneres oder äußeres Merkmal haben.
Es ist ein wichtiger Punkt in der Übung der Liebe, keinen ungünstigen Vergleich anzustellen von den einen oder den anderen, von einem Haus mit einem anderen, von der Handlungsweise dieser oder jener. Ihr werdet mir sagen: „Mein Vater, das ist sehr schwer. Während der Exerzitien fasse ich gute Vorsätze, aber nachher wird ein Augenblick kommen, wo ich nicht mehr können werde, ich muss reden.“ Meine Kinder, auch ich muss reden, wenn mich etwas quält. Manchmal ist man sehr verärgert, man muss reden, das ist wahr. Aber das ist schwer verboten. Man kann nicht laut reden. Man kann nicht zu dieser, zu jener reden, denn man könnte viel Übles anrichten. Man würde es zuerst sich selbst zufügen und dann dem Nächsten, wenn man ihm Ärgernis gibt. Es heißt, dass die Frauen das Bedürfnis haben, sich durch Reden zu erleichtern. Ich glaube, dass es wohl auch die Männer empfinden. Ich habe hundert Mal, ich glaube sogar tausend Mal mehr als ihr das Bedürfnis zu reden. Ah! Wenn ihr es wie unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis machen könntet! Unterbrechen wäre das Beste, aber das ist manchmal schwer, das weiß ich aus Erfahrung. Ich unterbreche mehrmals am Tag, aber es passiert mir auch für Momente, dass ich das Stück Faden ziehe, bevor ich ihn abschneide. Ihr seid nicht mehr aus Erz und aus Bronze als die anderen. Daher glaube ich, dass es sehr wohl eine Notwendigkeit gibt, erlaubterweise mit einer klugen und tugendhaften Schwester zu reden. Aber die Schwester, die euren Überschwang an Ungeduld empfängt, muss euch ganz sanft zur Demut, zum Vertrauen, zum Gehorsam, zum lieben Gott zurückführen, sonst würde sie wie jemand handeln, der zu einem Dieb sagen würde: „Ich komme, um mit Ihnen zu teilen, was ich gestohlen habe.“ Und der zustimmen würde, es zu tun. Dieses Mittel kann helfen, die Mühen zu ertragen, die Gott schickt. Ohne Zweifel hat es seine Gefahren, aber wenn ihr eine gute Nonne seid, kann es auch nützlich sein. Seid ihr hingegen eine schlechte Nonne, wird es euer Verlust sein.
Meine Kinder, wir müssen unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis nachahmen. Sie war das Vorletzte von sieben Kindern, und sie schlichtete alle Streitereien zwischen den Geschwistern. Wenn sie die Geschwister nicht versöhnen konnte, führte sie die Unzufriedenen zu ihrer Mutter, die sagte: „Dieser hat Recht, oder vielleicht hat er Unrecht.“ Man umarmte sich, und alles war erledigt. Das ist der Geist, den der heilige Franz von Sales unter uns herrschen sehen will, was er uns durch seine Ordensregel einzuhalten lehrt. Ist diese Ordensregel hart? Ist der liebe Gott hart zu der Seele, die sich heiligen will? O, nein! Seht vielmehr wie die Ordensregel Wohlbehagen und Leichtigkeit gibt, um ein zufriedenes Herz zu haben. Sehr, wie gut sie ist, wie sie die Mittel gibt, um uns glücklich zu machen, um uns zu heiligen.
Meine Kinder, der Schlüssel zu unserem ganzen Leben ist das Direktorium: Übt gut das Direktorium, und ihr werdet sehen, wie alles für euch Licht sein wird, denn dort ist alles so klar, dass es keinen Platz für die geringste Zweideutigkeit gibt. Ihr werdet sehen, dass der liebe Gott mit euch ist, dass ihr seine Kinder seid, dass ihr euch nur an ihn zu wenden braucht, um alles zu bekommen.
Der heilige Bernhard sagte zu seinen Novizen: „Seid eingedenk, dass wir nicht von der Erde sind, richtet euer Ohr zum Himmel … Hört ihr nicht schon den Gesang der Engel? Seht ihr nicht den Vater, der auf euch wartet, hört ihr nicht den Sohn, der euch ruft, fühlt ihr nicht den Heiligen Geist, der euch mit seiner Güte und Freude durchdringt? Seht ihr nicht die heilige Jungfrau, die euch segnet? Zwischen dem Himmel und dem claire vallée (clara vallis – helles Tal – Clairvaux) gibt es nur eine Tür und das ist der Eingang zum Himmel. Hier, meine Kinder, ist der Vorhof. Wenn sich die Tür öffnen wird, werdet ihr in den Himmel eintreten. Unser Gespräch, unsere Gewohnheiten, alles fühlt schon das Paradies.“ Die Mönche des heiligen Bernhard wurden so erzogen. Ihre Handlungsweise fühlte das Paradies. Der heilige Bernhard sagte: „Trotz meines Elends werde ich in den Himmel gehen, ich werde dort auf euch warten, ihr werdet hinkommen.“
Meine Kinder, auch wir sind während der Exerzitien an der Himmelstür. Aber werdet ihr nachher vergessen, was ihr erhalten habt? … Ah! Um Gottes Willen, vergesst es nicht! Wenn ihr das Direktorium befolgt, so ist es, wo immer ihr auch seid, in Paris, in Troyes oder in Morangis, immer die Himmelstür. Ihr könnt die Stimme der heiligen Jungfrau und des heiligen Franz von Sales hören.
Wir werden während unserer Exerzitien den Vorsatz fassen, ganz treu zu sein, und da werden wir schon im Vorhof zum Paradies wohnen. Wir werden lauschen, und ich versichere euch, mit ein wenig Aufmerksamkeit werdet ihr auch den Gesang der Engel hören! … Unser Herz wird in Ruhe sein, es wird sich am lieben Gott, seiner Gnade und seiner Liebe erfreuen. Es wird ihm ein Vorgeschmack des Himmels gegeben. Dann werden wir alle die wahren Töchter unseres seligen Vaters [Franz von Sales] sein und sagen: „Einige Tage noch, und wir werden uns ausruhen; einige Tage noch, und es wird das Glück ohne Ende und ohne Grenzen sein.“ Meine Kinder, ich wünsch es euch aus ganzem Herzen. Amen.