Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1880

      

7. Vortrag: Über das Verhalten der Oblatinnen untereinander

Donnerstag Vormittag, 23. September 1880

Meine Kinder, gestern Abend sprach ich über die Novizenmeisterin, ihre Aufgaben für die Novizinnen und von den Aufgaben der Novizinnen für ihre Meisterin. Ich sprach auch von den Aufgaben der Oberin für die Ordensschwestern und den Aufgaben der Schwestern für die Oberin. Heute werde ich von den Aufgaben der Ordensschwestern füreinander sprechen. Diese Aufgaben bilden den Grund des Institutsgeistes. Als der heilige Franz von Sales die Oblatinnen der Heimsuchung Mariens gründete, hatte er die Absicht, sie nur auf die Liebe zu gründen. Er hätte sich gewünscht, ihnen keine anderen Gelübde aufzuerlegen. Deshalb sagte er am Anfang des Direktoriums: Wir haben kein anderes Band als das Band der Liebe. Später musste er aufgrund des Drängens anderer Bischöfe hin die Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams verpflichtend machen. Aber der erste Gedanke war, dass seine Kongregation nur durch die Liebe verbunden ist, denn die Liebe ist das Band der Vollkommenheit. Wenn also unser seliger Vater [Franz von Sales] der Bewegung seines Herzens gefolgt wäre, hätte er seinen Töchtern keine andere Verpflichtung gegeben. Es ist nämlich sicher, dass die Liebe viele Gnaden anzieht, wenn sie gut eingehalten wird. Es haben nicht alle den gleichen Charakter. Die Personen, die wir gern haben, selbst die, die uns am nächsten sind, haben fast alle etwas, das uns nicht gefällt. Sie denken nicht wie wir, wir finden sie manchmal ein wenig eigenartig. Andere Charaktere sind uns völlig entgegengesetzt. Diese ist langsam, jene ist zu plötzlich, eine andere hat nach unserer Meinung kein Herz, eine andere drängt sich bei der geringsten Gelegenheit nach vorne. Daher, meine Kinder, kann die gut geübte Übung der Liebe uns zur Vollkommenheit gelangen lassen.
In der Heimsuchung von Annecy ging die Assistentin, die die heilige Johanna Franziska von Chantal vertrat, da diese gerade für eine Neugründung abwesend war, eines Tages zu Schwester Claude-Simplicienne, die allgemein als sehr unschuldiges und einfaches Wesen galt, und sagte zu ihr: „Hüten Sie sich davor, eine Heuchlerin zu sein, damit man euch nicht für tugendhafter hält als ihr seid.“ Das gute Mädchen empfand daraufhin große innere Schmerzen, ließ sich aber äußerlich nichts anmerken. Sie hielt sich plötzlich für eine Heuchlerin und bekundete von da an offen all ihren Widerwillen. Eine Mitschwester kam, um mit ihr zu sprechen. Sie antwortete ihr: „Meine Schwester, ich verstehe nicht, was sie mir da sagen.“ Dieser sagte sie: „Sie stören mich.“ Jener: „Sie verhalten sich schlecht.“ Man benachrichtigte die Mutter Oberin Péronne-Marie de Châtel. „Meine Mutter, wie kommt es“, sagten ihr die Mitschwestern, „dass Schwester Claude-Simplicienne, die so sanft war, nun so schwierig wird? Wie hat sie sich so verändert?“ Als Schwester Simplicienne befragt wurde, antwortete sie: „Meine Mutter, ich war eine Heuchlerin. Man hielt mich für gut, ich war es aber nicht. Es ist vernünftig, dass ich meine Mitschwestern aufkläre.“ Ihr seht, meine Kinder, dass diese Schwester, die so sanft und heilig war, dennoch heftige Kämpfe empfand, um die Liebe zu üben, und dass sie sich überwinden musste, um sanft zu sein.
Es müssen sich die Novizinnen üben, nie ihre Gefühle über diese oder jene auszudrücken, nie etwas von dem kundzutun, das sie gegen die Liebe empfinden. Meine Kinder, wenn ihr nicht Oblatinnen seid, wenn ihr nicht den entscheidenden Charakter dazu habt, seid etwas anderes. Bleibt nicht hier. Für euch ist die Liebe die erste von allen Pflichten. Ich wünsche, dass sie sich jede zum Gelübde macht. Mehrere von euch machten es im letzten Jahr. Dieses Gelübde verpflichtet euch, nichts gegen eure Mitschwestern zu sagen oder zu machen. „Man muss alles für den Nächsten machen, außer sich zu schenken“, hat der heilige Franz von Sales gesagt. Die größte aller Tugenden ist die Liebe, sie bringt uns am nächsten zu Gott. Der heilige Johannes sagt uns: „Wenn ihr sagt, dass ihr Gott liebt, und nicht die Nächstenliebe habt, lügt ihr.“ (vgl. 1 Joh 4,20). Meine Kinder, sagt mir, wie ihr den Nächsten liebt, und ich werde euch sagen, wie ihr Gott liebt. Das Band der Liebe ist das Band der Vollkommenheit, das heißt, es würde allein das Band der Liebe genügen, dass wir vollkommen und wahre Töchter unseres seligen Vaters [Franz von Sales] wären.
Meine Kinder, macht nie eine verletzende Überlegung über diese oder jene Mitschwester. Man soll nie von seiner Mitschwester sprechen, dass sie, wenn sie es hörte, sehr verletzt sein könnte. Achtet den Charakter unserer Mitschwestern, ihr Elend, ihre Schwächen. Ihr habt eure. Der liebt Gott gibt nicht allen den gleichen Charakter. Warum wollt ihr dem Werk der Schöpfung widersprechen? Der liebt Gott will es so. Warum wollt ihr, dass sie anders sind? Ihr wollt doch euren Geist, euren Stolz nicht unterwerfen. Ihr wollt also euren Willen Gott nicht unterwerfen.
Versteht jedoch gut, da ist die Novizenmeisterin, die Oberin, die eine Autorität über euch haben. Sollen sie eure Fehler nicht sehen, um sie zu verbessern? Sie würden gegen ihr Amt fehlen, wenn sie es nicht machten, aber sie müssen alle notwendige Vorsicht walten lassen. Der Bischof sagte vor der Priesterweihe: „Wenn jemand etwas gegen den zu sagen hat, der sich dem Priestertum anbietet im Namen Gottes und für Gott möge er sich vertrauensvoll erheben und sprechen; aber er sei eingedenk, wenn er es macht, dessen was er selbst ist.“ Es ist in der Kirche und aus gewichtigerem Grund in der Ordensregel des heiligen Franz von Sales nie gestattet, zurechtzuweisen, ohne daran zu denken, was man selbst ist. Man muss sich daran erinnern, dass man selbst stolz und wenig liebevoll ist, dass man selbst reizbar, elend und sehr klein in den Augen des lieben Gottes ist. Wenn ihr das bedenkt, werdet ihr euch im Geist der Demut und der Liebe verbessern. Versteht also gut, dass die so gemachte Verbesserung die Liebe nicht verhindert, im Gegenteil, denn wenn die Oberinnen sie nicht machten, würden sie gegen die Liebe zum Institut fehlen, dem sie dienen müssen, gegen die Mitschwestern, die sie auf dem Weg der Vollkommenheit voranbringen müssen.
Man muss also mit Liebe und Mild zurechtweisen, in dem man sich erinnert, was man ist und bedenkt, dass uns die Mitschwester, die wir zurechtweisen, vor Gott weit überlegen ist. Gott beurteilt die Herzen. Nicht wir sollen unsere Mitschwestern beurteilen. Wir müssen sehr sanftmütig sein. Wenn die Zurechtweisung so gemacht wird, herrscht Liebe. Die zurechtgewiesene Schwester widersteht weder Gott noch den Oberinnen. Sie fühlt, dass richtig ist, was man ihr sagt, dass sie sich unterwerfen muss. Ich wiederhole es, die Oberinnen müssen die Mitschwestern in Liebe zurechtweisen, sie schulden die Liebe den Mitschwestern und der Gemeinschaft.
Meine Kinder, die Mitschwestern müssen miteinander mit Ehrfurcht und Achtung umgehen. Wenn sie einander begegnen, sollen sie einander grüßen, ohne miteinander zu sprechen, nur ein Kopfnicken. Wenn man im selben Arbeitszimmer ist, grüßt man sich nicht jedes Mal, wenn man aneinander vorbeigeht, aber sonst soll man nicht daran fehlen. Wenn man einer Schwester begegnet, wäre es eine Novizin, Postulantin, muss man ihr zunicken, wobei man denkt, dass man den Heiland grüßt, der durch die Gnade und die Heilige Kommunion in ihrem Herzen gegenwärtig ist. Sie ist sein Tabernakel. Wenn ihr an derselben Beschäftigung arbeitet, wenn ihr einer Schwester etwas reichen müsst, werft es ihr nicht hin, wie es die Meisterin einer Werkstatt mit einem Lehrling machen würde, die sie fühlen lassen möchte, dass sie ihr untergeordnet ist. Ihr müsst es ihr achtungsvoll in die Hand geben. Macht das, wie es unser seliger Vater [Franz von Sales] sagt, mit Ehrfurcht. Seid unter euch in euren Handlungsweisen achtungsvoll. Eure Worte sollen die Milde fühlen lassen. Wenn die Oberin eine Schwester zurechtweist, darf sie keinen Ton der Selbstgefälligkeit annehmen. Sie soll vielmehr bescheiden sprechen, ohne jedoch eine demütige und erniedrigte Miene anzunehmen, die nicht angebracht wäre.
Die Schwestern untereinander sollen keine Miene von Überlegenheit annehmen, keine schnellen, wenig höflichen Worte verwenden. Wenn uns das passiert, wenn wir mit der Mitschwester allein sind, sollen wir niederknien und sie um Verzeihung bitten. Wenn es nur wenig ist, macht man nur eine leichte Wiedergutmachung. Wie soll man sie machen? Durch ein kleines Wort, ein kleines Nichts, das zeigt, dass man wieder gut machen will. Wenn man es mit einem schlechten Charakter zu tun hat, der die Dinge schlecht annimmt, muss die Oberin die Wiedergutmachung vor sich machen lassen.
Sehen wir nun, wie man sich bei den Gesprächen zu verhalten hat. Ihr wisst ja, dass man nie während des Stillschweigens sprechen darf, nie ein Gespräch führen soll, denn so beginnt man, seine Berufung zu verlieren. Der Heilige Geist und die Engel ziehen sich zurück. Man darf nur während der Erholung sprechen und immer liebevoll und herzlich. Man darf nie ein verletzendes Wort sagen, nie jemanden tadeln. Der heilige Franz von Sales verbietet die Scherze, die Spöttereien über die Nationen, die Provinzen, er verbietet noch strenger die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Nächsten, die Späße über die eine oder die andere der Mitschwestern. Das ist eine Abtötung, aber man muss sie sich auferlegen. Um zu handeln, wie unser seliger Vater [Franz von Sales] es will, müssen wir Gutes sagen. Es darf unsere Erholung nie vorbeigehen, ohne dass wir ein Wort vom lieben Gott gesagt haben. Wenn ihr die Erholung mit den Mädchen macht, versucht bei Gelegenheit etwas Gutes und Frommes einfließen zu lassen. Möge die, die es etwas kostet, es als Erste machen. Der liebe Gott wird sie gut belohnen. Man muss über alles hinwegkommen, das etwas kostet. Nun kostet das oft, ein gutes und frommes Wort zu sagen, weil man nicht den Anschein erwecken will, sich als Prediger hinzustellen, aber macht es dennoch und vergesst es nie, denn so führt ihr die Seelen zum lieben Gott, zu seiner Liebe zurück. Ich verlange, ich befehle im Namen des Gehorsams, dass man keine Erholung verbringt, ohne etwas über den lieben Gott zu sagen. Das ist es also für die Erholung und die Liebe.
Meine Kinder, mit einem gewissen Schmerz geben ich euch heute noch nicht die Heilige Kommunion, aber so ist es Brauch. Bei den Exerzitien empfängt man nicht die Heilige Kommunion, ehe man nicht gebeichtet hat. (Das Dekret Sacra Tridentina Synodus des heiligen Pius X. über die tägliche heilige Kommunion [1905] hat diesen Brauch aufgehoben). Denken wir also ernsthaft an die lauen, kalten, fast nichtigen Kommunionen, die wir während des Jahres machten, und opfern wir dem lieben Gott dieses Fasten unserer Seelen auf, um den künftigen Kommunionempfang gut zu machen. Ihr seid übrigens dennoch nicht fern von unserem Herrn. Ihr umgebt seinen Tabernakel. Er ist durch seine göttliche Liebe in eurem Herzen. Macht oft die geistige Kommunion während dieser Tage, wo ihr die Kommunion nicht empfangt, wenn ihr die Messe mitfeiert. Fleht den lieben Gott an, er möge in eure Seele kommen, um sie zu heilen und zu reinigen.
Meine Kinder, ich bitte den lieben Gott, der die Liebe selbst ist, er möge euch das Gefühl und das Verständnis für das geben, was ich euch soeben in diesem Vortrag gesagt habe. Amen.