6. Vortrag: Die Gewissenserforschung über die Pflichten der Novizinnen zu ihrer Meisterin und die Pflichten der Ordensschwestern zur Oberin
Mittwoch Abend, 22. September 1880
Heute Abend, meine Kinder, werden wir die Gewissenserforschung über die Ordensregeln und die Satzungen fortsetzen. Gestern beharrten wir auf der Notwendigkeit, den lieben Gott unseren Herrn sein zu lassen, voller Macht über unsere Seelen und unseren Willen zu haben. Ihr müsst das alles verstehen. Eine Ordensgemeinschaft ist ein Haus, in dem Gott in allem und überall der Herr ist. Der heilige Franz von Sales sagte, dass nicht er die Satzungen gemacht habe, sondern dass er sie von Gott, vom Heiligen Geist empfangen habe. Es hat also Gott selbst die Ordensregel gemacht. Wenn ihr bald die Biografie über die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis lesen und meditieren werdet, dann werdet ihr sehen, dass bei ihr der liebe Gott alles war.
Zwar seid ihr, meine Kinder, nicht wie in der Heimsuchung von jeder Verbindung mit der Welt getrennt und durch die Klausur geschützt, aber erinnert euch, dass unser seliger Vater [Franz von Sales] die Heimsuchung mit seinem verteidigenden Körper klausurierte. Es bereitete ihm zuerst viel Kummer, seinen ersten Gedanken aufgeben zu müssen. Er tat es auf die Bitte des Erzbischofs von Lyon hin, aus Ehrerbietung für ihn, und er gab uns in dieser Begegnung ein großes Beispiel der Demut. Aber es war sein Gedanke gewesen, Oblatinnen zu gründen, und unter anderen Beweisen trägt der Gründungsstein der ersten Kirche der Heimsuchung die Worte eingraviert: „Kirche der Oblatinnenschwestern der Heimsuchung“. Wenn sich die Heimsuchungsschwestern dann klausurieren ließen, stimmte er nur mit Mühe zu. Als er sich eines Tages in Lyon befand, sagte der Erzbischof zu ihm: „Monseigneur, wir besuchen ihre Töchter.“ „Welche Töchter, Monseigneur?“ antwortete der heilige Franz von Sales. „Aber die Töchter der heiligen Maria!“ – „Das sind nicht meine, Monseigneur, das sind Ihre.“
Meine Kinder, als Monseigneur Mermillod für unsere Gründung nach Troyes kam, sagte er uns, dass er verwirklichen wolle, was der heilige Franz von Sales hatte machen wollen. Daher kann ich euch sagen, dass die Liebe unseres seligen Vaters [Franz von Sales] und der heiligen Johanna Franziska von Chantal zu uns sehr groß ist, und wir müssen befolgen, was sie vorgeschrieben haben.
Heute war ich sehr besorgt und sogar ein wenig traurig. Ich sagte mir: „Aber sie werden in alle Länder geschickt werden, allen Winden ausgesetzte sein! Wer wird sie beschützen? Wem werden sie sich anempfehlen? Wer wird diese Seelen stützen, ermutigen? Wer wird dafür sorgen, dass sie nicht allein sind?“ Ich sagte dem lieben Gott: „Man kann die Seelen nicht zwingen zu büßen und zu leiden!“ Ich war traurig. Aber dann habe ich mich gescholten, weil ich zutiefst fühlte, dass ihr den lieben Gott und die Ordensregel haben werdet. Es ist in der Ordensregel alles, was ihr braucht. Es ist dort das Brot des Friedens und des Glücks. Schwester Marie-Geneviève sagte mir: „Wenn ihr unseren heiligen Gründer [Franz von Sales] sehen würdet, wie er seine Aufgabe auf Erden und im Himmel erfüllt, und alle Seelen, die um ihn herum sind, wie sind sie glücklich!“ Das, meine Kinder, behält Gott der Kongregation vor.
Heute Vormittag sprachen wir von euren Pflichten gegenüber Gott. Jetzt werden wir von den Pflichten der Professschwestern zur Oberin und von den Pflichten der Novizinnen zu ihrer Meisterin sprechen. Ich beginne mit den Novizinnen.
Gemäß den Gesetzen der heiligen Kirche muss die Novizenmeisterin mindestens 35 Jahre alt und zehn Jahre Profess abgelegt haben, denn sie muss lange in der Kongregation sein. Es ist nicht notwendig, dass die Novizenmeisterin ein großes Genie ist, sie muss keine Frau von großem Geist sein, aber sie muss ein gutes Urteilsvermögen haben, eine gute Nonne sein, um ihren Novizinnen ein Vorbild sein zu können. Sie hat also die von der Ordensregel gewünschten Bedingungen. Da die Novizenmeisterin ihrem Amt allein nicht genügen kann, muss sie eine Assistentin zu ihrer Hilfe haben.
Das Noviziat bildet im Sinne der Kirche einen von der Ordensgemeinschaft getrennten Körper. Wenn wir ein Haus bauen, das für die Ordensgemeinschaft bestimmt ist, haben wir auf einer Seite das Gebäude für die Novizinnen und auf der anderen Seite das für die Professschwestern mit der Kapelle in der Mitte.
Meine Kinder, man wird euch aus der Biografie über unsere Mutter Marie de Sales Chappuis vorlesen, was zu ihrer Zeit die Novizinnen waren. Wenn wir mit unseren Patres darüber sprechen, sagen alle: „O, wir werden auch dorthin gelangen müssen!“ Wenn wir das für die Oblatinnen hätten, wäre es das Paradies auf Erden. Ich sehe nichts Vergleichbares mit dem Noviziat, das im Geist des heiligen Franz von Sales und unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis gemacht wird. Das ist ein Paradies des Glücks, der geistlichen Wonnen. Offensichtlich gibt es Versuchungen, aber wenn von Morgens bis Abends die Lehren befolgt werden, die von den Lippen unseres seligen Vaters [Franz von Sales] kommen, ist es das Paradies auf Erden. Aber es muss das Noviziat in dem Geist gemacht werden, den euch einzugeben ich versuche.
Mein Beichtvater sagte mir, dass ich im Gewissen verpflichtet sei, die Vorträge des Noviziats der Oblatinnen ebenso gut zu machen, wie ich sie für die Professschwestern und für unsere Patres mache. „Es ist notwendig“, sagte er mir, „dass Sie den Seelen reichlich geben, was Sie empfangen habe. Es ist Ihre Aufgabe, und Sie sind verpflichtet, für die Oblatinnen zu machen, was Sie für uns machen.“ Ich verstehe das. Meine Beschäftigungen haben mich bis jetzt daran gehindert, aber die Ewigkeit kommt mit riesen Schritten immer näher, man muss sich an die Arbeit machen. Ich werde es aus ganzem Herzen tun.
Meine Kinder, das so gemachte Noviziat ist das Paradies. Wenn die Herrschaft des eigenen Willens aufhört, beginnt der Wille Gottes. Man ist am Kreuz, aber man ist bei unserem Herrn. Wenn unsere schmerzende Hand auf seine mit Blut und Schweiß bedeckte trifft, sind wir dann nicht bei ihm, und sagt er uns nicht: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein?“ (Lk 23,43). Das so verstandene Noviziat ist wirklich ernst, es hat weder Platz für die Einbildung noch für die schönen Sätze. Da ist das Wahre, das Einfache, die Vertrautheit mit dem lieben Gott. Wir werden unseren Herrn nicht über schroffe Wege suchen, sondern wie ehedem die Jünger sagen wir ihm einfach: „Herr, wo wohnst du?“ Und er antwortet uns: „Kommt uns seht“ (Joh 1,38-39). Man wird euch die Tür öffnen, und ihr werdet eintreten; und ihr werdet zu unserem Herrn gelangen; und ihr werdet von seiner Güte erhalten, was eure Herzen brauchen.
O meine Kinder, möge das Noviziat in euren Augen von größter Wichtigkeit sein. Wie empfehle ich es eurer Sorge, eurer Liebe! Man wird den lieben Gott bitten, dass es hier sei, was sich unsere Mutter Marie de Sales Chappuis wünschte. „O!“, hat sie mir gesagt, „Wenn Sie sie erheben, wie es notwendig ist, wird es mehr Gnaden der Berufungen bei ihnen geben als sonst wo.“ Dazu muss man eintreten, wohin der liebe Gott sie stellte, diese Gnaden, man muss eintreten in das vertraute Heiligtum, wo er sich aufhält, um sie uns zu schenken.
Kommen wir jetzt zur Oberin der Ordensgemeinschaft. Was ist die Oberin einer Ordensgemeinschaft, welche Aufgaben hat sie? Die Oberin ist da, um zu veranlassen, dass die Ordensregel ausgeführt wird. Was sie befiehlt, ist in der Ordensregel enthalten. Kann sie davon befreien? Ja, für eine Zeit. Eine Kranke bittet ihren Beichtvater, am Freitag normal zu essen, er gestattet es ihr für die Zeit, so lange es nötig ist. Die Oberin kann auch für eine Zeit Befreiung gewähren, aber nie für immer. Alle Ordensschwestern müssen sich der Oberin in aller Einfachheit und Demut in der Art unterwerfen, die unser seliger Vater [Franz von Sales] angibt. Gehen wir ein wenig in die Tiefe.
Es ist in der Ordensregel ein sehr wichtiger Artikel. Es ist das Vertrauen, das man zur Oberin haben soll. Aber heißt das, ihr sagen, was man über sie denkt? Nein, die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte: „Wenn ich eine Schwierigkeit mit meiner Oberin hätte, würde ich um nichts in der Welt mit ihr darüber sprechen, ich würde mich dessen unbedingt enthalten.“ Ebenso ist es mit den Gefühlen, die die anderen für die Oberin haben. Die Oberin kann nicht fordern, dass ihr eine Ordensschwester sagt: „Man hat das über Sie gesagt.“ Sie würde es verlangen, dass man es ihr nicht sagen müsste. Wenn eine Schwester käme, ihr diese Enthüllungen zu machen, müsste ihr die Oberin sogleich Schweigen gebieten und ihr verbieten, diese Dinge mitzuteilen und ihr dann eine Buße geben. Die Oberin ist nicht aus Eisen, sie ist nicht aus Bronze. Ihr sät damit die Spaltung. Was geschieht nun? Ihr macht ihr ihre Aufgabe schwer, unerträglich. Ihr könnt über euch sprechen; wenn die Oberin euch schelten muss, wird sie es machen. Wenn eine Ordensschwester Missklang und Spaltung sät, indem sie öffentlich gegen die Oberin oder gegen die Ordensregel spricht, ist es eine äußere Gefahr, man muss es sagen. Aber eine Ordensschwester hat einen Augenblick der Versuchung, es entschlüpft ihr etwas, man soll es nicht sagen. Rom gestattet nicht mehr, dass die Abfassung des Rechenschaftsberichtes zur Verpflichtung gemacht wird. Sie erlaubt ihn nur für eine äußere Übertretung der Ordensregel. Da ist eine Schwester, die innerlich die Ordensregel übertritt. Sie muss es nicht der Oberin sagen. Die Oberin kann nicht fragen: „Haben Sie diesen Gedanken über mich gehabt? Hat jene Schwester dies oder das über mich gesagt?“ Nein. Dieses Gesetz ist eine Garantie, damit jede Schwester ihr Vertrauen zur Oberin bewahrt. Man kann seine Fortschritte in der Tugend sagen. Man kann sagen: „Ich habe im Gehorsam gewonnen oder verloren.“ Aber selbst das ist dem freien Willen überlassen. Es gibt keine Verpflichtung es zu machen, so ihr nicht die geringsten Skrupel haben könnt, eure inneren Anlagen nicht zu sagen. Doch, meine Kinder, macht es, wenn es euer Herz erhebt. Ihr geht an einem Brunnen vorbei, das Wasser ist köstlich, trinkt, wenn ihr wollt, aber man nötigt euch nicht dazu. Wenn ihr nicht trinkt, tut ihr euch nur selbst unrecht. Doch vermeidet die unnötigen Ergüsse, die von zu viel natürlicher Zuneigung zeugen. Die Oberinnen ihrerseits werden sorgen, diese Art von Herzensergüssen nicht hervorzurufen, indem sie bis in die Verteilung der Ämter die bevorzugen, die sich mit mehr Hingabe ausliefern. Jede muss das verstanden haben. Ich habe sehr klar gesprochen.
Meine Kinder, ihr habt alle eine Gewissenserforschung über die Beziehungen zu machen, die ihr mit eurer Oberin habt. Legt euch gut Rechenschaft ab, ob ihr etwas aus Groll gegen eine Schwester habt, ob ihr im Herzen der Oberin Bitternis verbreitet habt. Niemand kam je, um unserer Mutter Marie de Sales Chappuis zu sagen: „Man hat dies oder das von Ihnen gesagt.“ Meine Kinder, es gibt eine Bestrafung für den, der das Schlechte macht, und es gibt sieben für den, der den Misston aushaucht. Geht voll Vertrauen zu eurer Oberin, aber sagt nichts Unnötiges über die anderen; sagt um Gottes Willen nichts, das entweder euren Mitschwestern oder eurer Oberin schmerzen kann.
Seht, wie schön die Ordensregel ist. Jede gehorcht und erfüllt die Verpflichtungen. Was ich euch über das Noviziat sagte, sage ich euch über die gut geregelte Ordensgemeinschaft: der liebe Gott herrscht dort über alle nach den gleichen Gesetzen.
Meine Kinder, beten wir aus ganzem Herzen, dass die Kongregation in allem nach dem Willen Gottes eingerichtet ist. Und sie wird es sein, dessen bin ich sicher. Ich habe sichere Garantien dafür. Wir werden den lieben Gott bitten, er möge uns befähigen, seinen Absichten mit uns ganz zu entsprechen. Amen.