5. Vortrag: Die Gewissenserforschung über die Ordensregel
Mittwoch Vormittag, 22. September 1880
Meine Kinder, wir haben in diesen zwei Tagen unsere Seelen auf die Beichte vorbereitet. Daher werden wir heute die Beichten beginnen können, und jede wird der Anordnung folgen, die ich für die Gewissenserforschung angegeben habe: die Sakramente, dann die Gelübde, und wenn man sie noch nicht abgelegt hat, wird man dieser Anordnung nicht weniger folgen müssen, denn man muss sich bereit machen, seine Gelübde abzulegen, in dem man sich in den Tugenden übt, die sich darauf beziehen. Dann wird man sich über die Übungen des Tages erforschen, über die Fehler und Mängel, in die man am häufigsten fiel: Stolz, Eigenliebe, Anhänglichkeit an sein Wohlbehagen. Man wird sehen, ob man Neid, Eifersucht, Heißhunger hat. Ich spreche nicht über die Gebote Gottes. Ich glaube, dass keine von euch ernsthaft gegen die Gebote Gottes und der Kirche sündigt. Aber die Hauptsünden, unsere Standespflichten müssen das wesentliche Thema der Beichte sein.
Meine Kinder, ihr werdet immer den Hinweisen folgen, die ich euch während dieser Exerzitien gebe, denn sie sind äußerst wichtig nicht nur für jede einzelne sondern für die gesamte Kongregation. Unsere Mitschwestern werden mehr, die Versuche, die wir bis jetzt machen mussten, genügten. Sie wurden studiert, sie wurden verstanden, und jetzt ist es meine Absicht, dass die Ordensregel ganz beobachtet wird. Der heilige Franz von Sales sagte, dass er die Ordensregel nicht aus seinem Gehirn nahm, sondern dass sie ihm von Gott selbst eingegeben wurde. Ihr müsst euch also mit äußerster Wichtigkeit daran halten. Sie bestimmt unsere Pflichten zur Oberin, die Pflichten der Oberin zu den Mitschwestern und jene der Mitschwestern untereinander, die Pflichten der Novizenmeisterin und die der Novizinnen zu ihrer Meisterin. Schließlich gibt sie die Verpflichtungen an, die bei den Beschäftigungen zu erfüllen sind, mit denen jede betraut ist. Meine Kinder, ich werde euch die Ordensregel klar und in den Einzelheiten erklären, denn sie muss gut verstanden werden, damit sie gut eingehalten wird.
Wahrscheinlich werden wir in einiger Zeit wie die anderen Ordensgemeinschaften unseren Heiligen Vater, den Papst, um die Genehmigung dafür bitten. Und dann wird die Kongregation endgültig errichtet sein. Sie ist schon errichtet, aber sie hat noch nicht ihren ganzen Saft, weil sie noch nicht auf dem Hauptbaum eingeritzt ist, weil sie noch nicht direkt von Rom erhoben ist. Wir können es nicht machen, ehe wir nicht die Ordensregel völlig geübt haben. Wenn ich sie euch gut erklärt haben werde, werdet ihr verstehen, wie weise sie ist, wie sie uns zu Gott bringt, und wie glücklich sie uns macht, weil sie unsere Seele in die Abhängigkeit von Gott bringt. Und sich Gott unterwerfen heißt herrschen.
Bis jetzt, meine Kinder, haben wir die Ordensregel nicht ganz geübt. Wir mussten beginnen, Versuche zu machen. In der Ordensregel des heiligen Franz von Sales sind die Beziehungen der Oberin zu den Mitschwestern sehr speziell. Ihr werdet sehen, dass die von unserem seligen Vater [Franz von Sales] ergriffenen Maßnahmen sowohl von Sanftmut als auch von Stärke geprägt sind. Es ist das Kräftigste und zugleich auch Sanfteste. Es sind starke und feste Bande, und es sind auch sanfte und wertvolle Hilfen.
Heute liest man im Stundengebet das Gleichnis des Herrn, der von seinen Dienern für die Talente, die er ihnen anvertraut hat, Rechenschaft verlangt. Derjenige, der fünf bekommen hat, leistet Rechenschaft und wird belohnt. Derjenige, der nur zwei erhalten hat und auch gemacht hat, was er konnte, auch der wird vom Herrn belohnt. Derjenige, der nur ein Talent erhalten hat und der es nicht verwertete, wird getadelt. „Herr, ich wusste“, sagte er seinem Herrn, „dass du ein strenger Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast; weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt. Hier hast du es wieder.“ (Mt 24,24-25) Der Herr nennt ihn einen schlechten Diener und bestraft ihn. Meine Kinder, wir müssen das Wenige, das wir haben, verwerten, fruchtbringend anwenden. Wenn wir es verwerten, ist der Herr zufrieden, denn er sieht unseren guten Willen. Ich sage euch das, um euch zu ermutigen. Kommen wir nun zur Ordensregel zurück.
Die Ordensregel lehrt uns, was wir dem lieben Gott gegenüber zu machen haben. Sie bestimmt die Übungen der Frömmigkeit, die wir während des Tages erfüllen müssen und das Leben der völligen Einheit, die wir mit dem lieben Gott haben sollen, durch das Mittel des Direktoriums. Erfüllen wir diese Ordensregel gut? Beachten wir sie? Ohne Zweifel bildet sich mehr als eine ein, dass sie sie beobachtet. Und dennoch sind wir nicht genug Nonnen. Möge keine, was ich hier sage, auf die eine oder andere ihrer Gefährtinnen anwenden, möge sie es auch sich selbst anwenden. Der liebe Gott hat nicht genügend Platz in unserem Leben. Wir sind zu sehr bei uns selbst. Im Vorbeigehen nehmen wir mit der Fingerspitze Weihwasser aus dem Becken, und das geben wir Gott, das Übrige – die Hand, der Arm, das Herz – gehört uns. Was ist der liebe Gott für uns? … Eigentlich gelten bei uns nur wir etwas.
Achten wir gut darauf, meine Kinder. Die eine will dies, die andere jenes. Diese macht, was ihr gefällt aus Einfältigkeit, aus Launenhaftigkeit. Die andere aus Starrsinn, weil sie vor allem und über alles will, was sie will. Eine andere, weil sie ihr Wohlbehagen liebt. Sie will sich nicht einschränken, sie will Ruhe haben. Eine andere schließlich, weil sie an der Freiheit ihres Geistes hängt. Sie urteilt, sie denkt, was sie will. O, wie möchte ich dieses „Ich“ zurechtstutzen, zerquetschen, meine Kinder! Es entfernt die Seele von unserem Herrn … Die Qualität dieses „Ich“ ist nicht wichtig, sobald es „Ich“ ist, ist es nicht mehr der liebe Gott. Darauf muss man wohl achten. Der erste Punkt der Ordensregel ist die Liebe zu Gott, dann zur Oberin, dann zu den Mitschwestern. Wenn aber das „Ich“ herrscht, wo ist dann der liebe Gott? Man bildet sich zu oft ein, dass man ihn liebt, weil man viel betet. Das ist ein Irrtum! Und ich frage euch, wer würde zustimmen, behandelt zu werden, wie viele Christen den lieben Gott behandeln? Was geben sie ihm? Was opfern sie ihm? Sie geben ihm, was sie nichts kostet. Und ihr selbst, meine Kinder, gebt ihr ihm, was euch etwas kostet? Opfert ihr ihm großmütig, was ihr gern habt? Nein, nicht immer. Ich werde mir mit einem ein wenig gewöhnlichem, aber sehr genauen Vergleich helfen. Ihr seid an einen Tisch, der nicht gut gedeckt ist. Es gibt viele Speisen, die euch missfallen. Ihr liebt nur eine oder zwei. Unser Herr ist mit euch an diesem Tisch, und ihr gebt ihm alles, was ihr nicht mögt. Und der Beweis ist, dass ihr an eurem Charakter, an eurem Willen festhaltet. Ihr redet weiter, ihr beschränkt euch nicht. Da ist eure Speise, euer Gericht, unser Herr soll nicht daran rühren. Er hat nicht das Recht dazu.
Meine Kinder, das ist das Übel der Zeit. Wenn eine ansteckende Krankheit in einem Land wütet, fühlt es jeder. Es ist einem schlecht, man ist krank. Nun, bei den Seelen ist es das Gleiche. Sie fühlen allgemeines Unbehagen. Ich glaube, ihr versteht mich gut und jede nimmt sich ihren guten Teil aus dem mit, was ich sage. Die Ordensregel lehrt uns, wie unserer Beziehungen zu Gott sein sollen. Gott soll den ersten Platz in unserem Leben einnehmen. Wenn ihr mit eurem Willen vorangeht, sagt ihr wohl von Zeit zu Zeit zum lieben Gott: „Hier hast du, ich gebe dir das.“ Ja, aber da euch das nichts kostet, verlangt der liebe Gott von euch noch etwas anderes. Also antwortet ihr ihm: „Ja, mein Gott, ich will wohl, ich schenke dir mein Herz“, aber ihr schenkt es ihm nicht. Ihr habt es, und ihr verwahrt es gut. Welche hat ihm tatsächlich stets ihr ganzes Herz geschenkt? Für Augenblicke schenkt ihr es ihm, aber ihr nehmt es sehr schnell wieder zurück. Welche hat es ihm ganz geschenkt, gab es ihm zum vollständigen Besitz? Das ist die große Wunde sehr vieler Seelen. Man lebt für sich und nicht für Gott. Meine Kinder, diese Krankheit des Eigenwillens ist ohne Zweifel bei euch nicht schwer genug, um euch ins Grab zu führen, aber ihr seid dennoch davon ergriffen, da ihr euch von dem nicht trennen wollt, was ihr am meisten liebt.
Ihr kennt in der Bibel die Geschichte von Rahel, der Frau des Jakob (vgl. Gen 31,34-35). Da sie vom Haus ihres Vaters zwei kleine Götterbilder mitnehmen wollte, versteckte sie diese im Sattel des Kamels und setzte sich darauf. Laban, der das Verschwinden der beiden kleinen Statuen bemerkt hatte, kam, um das Zelt seiner Tochter zu durchwühlen. Sie weigerte sich, aufzustehen, und gab vor, dass sie leidend sei, und Laban konnte nichts finden. Sie nahm also die beiden kleinen Götterbilder in das Land der Hebräer mit. Aber wir sehen in der Heiligen Schrift, dass sie damit nicht glücklich war und jung starb. Man achte sehr wohl darauf, meine Kinder, das ist sehr ernst. Wir müssen also prüfen, welche die zwei kleinen Götterbilder sind, die wir hüten. Welche sind die Speisen, die wir für uns zurückbehalten und die anzutasten unser Herr nicht das Recht hat. Handelt der liebe Gott so mit uns? O nein! Er behält nichts zurück, er schenkt sich uns ganz mit all seiner Liebe.
Seht also wohl, meine Kinder, was ihr euch vorzuwerfen habt. Wenn ihr es nicht wisst, fragt den lieben Gott. Und wenn ihr seine Stimme nicht hören könnt, wenn euch eure Gewissen nichts sagt, fragt unsere Mutter Oberin, unsere Mitschwestern, sehr, was sie euch vorwerfen, denn es ist sehr wahrscheinlich das Hindernis, das ihr ganz, vollkommen dem lieben Gott schenken sollt, was er von euch will.
Meine Kinder, dieses erste Gespräch über die Ordensregel verlangt, um gut verstanden zu werden, dass ihr viel betet. Es soll jede für sich selbst und für die Kongregation beten, damit der Geist Gottes auf jeder von euch ruht, und dass ihr alle das Hindernis seht, das euch abhält, eure Pflichten Gott gegenüber zu erfüllen.
Möge unser Herr, der das wahre Licht, der Glanz des Himmels ist, zu euch allen sprechen und euch zeigen, was euch in Bezug auf die Ordensregel und vor ihm fehlt, damit ihr heute seht und versteht, was euch hindert, zu ihm zu gehen. Amen.