2. Vortrag: Man muss den Heiland suchen. In Nachahmung unserer Gründer
Montag Abend, 20. September 1880
Meine Kinder, heute Vormittag habe ich euch gesagt, welch gewichtige Gründe euch verpflichten, diese Exerzitien mit allem Ernst und aller Sammlung, zu der ihr fähig seid, zu machen. Ich erinnerte euch überblicksmäßig an den Gedanken der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis über eure Gründung, die Arbeit, die sie in Gott während ihres langen Ordenslebens gemacht hatte. Ich sprach zu euch von Schwester Marie-Geneviève. Ich sagte euch, dass unser Herr persönlich gekommen war, um seinen Willen kund zu tun. Ich versicherte euch, dass wenige Ordensgemeinschaften in ihren Anfängen so große Gnaden, so augenscheinliche Zeugnisse des Willens Gottes bekommen haben. Ich schloss daraus, dass diese Exerzitien für alle eine Zeit der Sammlung, der Erneuerung sein sollten, eine Zeit, die in jeder eurer Seelen eine wahre und dauerhafte Veränderung bewirken sollte.
Das ganze Leben der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis bestand darin, den Heiland zu suchen, ihn zu lieben, ihm angenehm zu sein, ihm stets seinen Willen zu schenken, mit einem Wort, sich an seine Fußspuren zu heften. Wenn ich sie nach der Messe sah, geschah es, dass ich sie mit Tränen überströmten Gesicht fand, und sie sagte mir: „Nun, wissen Sie etwas?“ Ich hatte Unrecht, ihre Fragen in Zweifel zu ziehen, vor allem in den Anfängen. Ich war damals nicht in der Lage zu sprechen. Aber ich muss zum Lob Gottes und seiner Dienerin sagen, dass wenige Tage vergingen, ohne dass sie den Heiland bat, mir zu sagen, was sie entweder für die Gemeinschaft oder für etwas ganz anderes machen sollte. Und immer hatte ich das Gefühl, dass ich klar die Antwort des lieben Gottes erkenne. Ich gebe ein Beispiel unter tausenden: das des hochwürdigen Herrn Liévre, dem außergewöhnlichen Beichtvater des Klosters, dem er sehr große Verdienste erwiesen hat. Er war seit einiger Zeit krank. Am Dreikönigstag erfuhr man, dass er sehr leidend war. Am nächsten Tag, dem 7. Januar sagte mir die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis: „War mit Ihnen heute etwas?“ Ich schaute sie an und sagte zu ihr: „Meine Gute Mutter, Herr Liévre wird sterben.“ Sie bestätigte meinen Gedanken und sagte: „Ja, seine Zeit ist beendet.“ Als sie mir diese Frage stellte, hatte ihr der liebe Gott die Gnade geschenkt, und sie hatte ihn gebeten, sie mir mitzuteilen. Ich sagte zu ihr: „Es ist dies oder das.“ Sie antwortete mir: „Ja“. Das war der Anfang aller ihrer Tage. Der liebe Gott wirkte so mit ihr, um sie für ihre große Treue zu belohnen. Was war tatsächlich das Ziel all ihrer Wünsche, des ganzen Aufschwungs ihrer Seele? Es war, dem lieben Gott Freude zu machen, ihn zu lieben, zu suchen, mit ihm diese Vertrautheit zu haben, die ein Teil der frommen Seele ist. Wenn sie eine Störung gehabt hatte, einen Gedanken der Zerstreuung, einen Schmerz, der sie aus dieser völligen Treue gebracht hatte, kehrte sie eiligst wieder dahin zurück, um den Heiland wieder zu finden.
Meine Kinder, die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis ist unsere Mutter. Sie wollte, dass es uns gibt. Wenn ihr eurer Mutter nicht ähnlich seid, wenn ihr nicht versucht, wie sie zu handeln, wenn ihr nicht Töchter der Betrachtung seid, wird sie euch nicht als ihre Kinder betrachten. Wie begann sie ihre Exerzitien? Sie suchte den Heiland. Und sie wollte, dass alle Seelen es ebenso machen. Wenn die Schwestern die Zeit der geistlichen Einsamkeit begannen, sagte sie ihnen: „Sucht zuerst, den Heiland wieder zu finden, und wenn ihr ihn wieder gefunden haben werdet, werdet ihr die Arbeit machen.“ Welche unter euch hat in diesem Jahr das Leben der Treue geführt, von dem ich zu euch spreche? Welche kann sagen: „Ich suchte nur den Willen Gottes und seine heilige Liebe?“ Kommen wir nicht, um uns über die Trockenheit unserer Seele zu beklagen, kommen wir nicht, um uns zu beklagen, dass wir die Widersprüche nicht ertragen können und nichts von dem, das etwas kostet. Wenn ihr Mühe habt, mit wem ertragt ihr sie? Mit welchem Mittel wollt ihr das Jocht des Herrn ohne die Gabe seiner Liebe ertragen? Mit euch selbst, mit eurer Philosophie? Wie wollt ihr die Heimsuchungen der Seele erdulden, das Gewicht der Mühe ertragen, wenn ihr alleine seid? Wenn ihr nicht den Heiland bei euch habt, verliert ihr eure Zeit. Sucht ihn also. Mögen sich eure Gedanken heute und morgen damit beschäftigen, den Heiland mit den Worten der Gemahlin des Hoheliedes zu suchen: „Sage mir, wo du bist, mein Geliebter, damit ich dich wiederfinde!“ Mögen eure Gedanken ganz bei dieser Suche sein. Ich sage nicht, dass ihr ihn mit der Kraft all eurer Gehirnwindungen suchen sollt, sondern sucht ihn ganz friedlich mit eurem Herzen. Wenn ihr ihn findet, nachdem ihr ihn gerufen habt, o, wie wird er euch gut sein! Ihr werdet zu ihm sprechen: „O guter und anbetungswürdiger Heiland, sag mir, wo befindest du dich? Wo beherbergst du die Seelen, die dich inmitten dieser verdorbenen Welt unter diesem Himmel vom Feuer der Sittenverderbnis lieben, wo man nur eine schlechte Luft atmet? O mein guter Meister, sage mir, wo ich dich suchen soll, wo wird dir meine Seele inmitten ihrer Schwächen begegnen. Wo wird dich mein Herz finden, um sich an dich zu hängen, um zu dir zu sprechen?“
Das, meine Kinder, müsst ihr während eurer Exerzitien machen. Sucht den Heiland mit euren Gedanken und vor allem mit eurem Herzen. Zieht ihn durch eure geistliche Sammlung an. Ihr macht während der Exerzitien nur die Erholung am Abend. Möge diese Erholung heilig sein und das Siegel tragen, das das Direktorium verlangt. Der heilige Franz von Sales sagt, dass sie gerne von guten Dingen sprechen sollt. Die guten Dinge sind die frommen Dinge. Die Nonnen sollen von unserem Herrn reden. Wenn wir die Welt lieben, werden wir von der Welt sprechen. Wenn wir uns selbst lieben, werden wir über uns selbst reden. Wenn wir nicht das Bedürfnis empfinden, über den Heiland zu sprechen, lieben wir ihn nicht. Sprecht also von guten Dingen.
Fürchtet nicht, dass euer Geist zu angespannt ist, um so den Heiland zu suchen. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis machte, was ich euch da sage, achtzig Jahre lang ohne zu ermüden. Ihr werdet es wohl acht Tage lang schaffen! Sucht also den Heiland an allen Plätzen dieses gesegneten Hauses. Am Abend werdet ihr ihm sagen: „Ich werde dich suchen, Herr, in der Stille der Nacht. Lass mich dich an diesem Ort der Ruhe finden.“ Wenn ihr durch die Alleen des Garten geht, sagt ihm: „Sprich hier zu mir, mein Heiland, und ich werde einen Stein des Zeugnisses setzen wie einst Jakob, und später werde ich an diesen Ort zurückkehren, wo du zu meiner Seele gesprochen hast, um doch dort wieder zu finden.“ Wie gut ist es, dorthin zurückzukehren, wo sich der Heiland uns verständlich machte! Sucht ihn auch in euren Exerzitienübungen, aber ohne Mühe. Geht fröhlich von einem zum anderen, selbst wenn euch das etwas kostet. Es ist unwichtig, in welcher Situation der Seele und des Geistes ihr euch befindet, seid sehr treu, das zieht den Heiland an. Wenn ihr ihn getreu gesucht habt, wird er sicher durch seine heilige Liebe zu euch kommen.
Ich fasse zusammen: Wir sind die Kinder unserer Mutter Mari de Sales Chappuis. Wir müssen sie nachahmen. Sie hat ihr Leben lang den Heiland gesucht, indem sie ihm durch ihr ganzes Sein bezeugte, wie sehr sie ihn liebte. Diese große Treue muss das besondere Siegel unserer Seele sein. Das ist übrigens nichts Außergewöhnliches, das soll unser Leben sein. Wir beginnen also, den Heiland zu suchen. Sie hat ihn achtzig Jahre lang gesucht, wir suchen ihn während dieser Exerzitien. Unser Geist und unser Herz werden ihn suchen und ihm sagen, dass wir ihn lieben. Wir werden ihn in der geistlichen Sammlung suchen. Wir werden ihn an der Stelle wiederfinden, wo wir ihm einmal begegnet sein werden. Wir werden ihn in unseren Übungen suchen, in dem wir ohne Mühe von einem zum anderen gehen. Und wenn wir ihn gefunden haben, diesen guten Meister, wird uns nichts mehr zu wünschen bleiben, denn er gibt jeder Seele, was sie braucht, um heilig zu werden. Meine Kinder, wenn ihr euch während eurer Exerzitien seiner bedient für alles, was ihr zu tun habt, wird er euch seine Gnade geben. Er wird euch Kraft und Mut geben, und diese Exerzitien werden für euch sehr gut sein. Amen.