Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1880

      

1. Vortrag: Aufgabe der Oblatinnen. Kundgabe des göttlichen Willens für ihre Gründung

Montag Vormittag, 20. September 1880

Meine Kinder, Exerzitien sind immer etwas sehr Ernstes. Und ich kann sagen, dass eure Exerzitien heuer wichtiger sind denn je, weil die Zeiten anders sind, die Versuchungen von allen Seiten kommen, alle Seelen, alle Menschen erfasst. Wenn man in der Vergangenheit Versuchungen hatte, die den Glauben angriffen, greifen sie jetzt alle unsere Gefühle an. Man zweifelt an den Wahrheiten der Religion, man hat Schwierigkeiten, seine Verpflichtungen zu erfüllen, man empfindet Müdigkeit und Abscheu angesichts der zu erfüllenden Aufgaben, man leidet an den Illusionen der Welt, des Fleisches. Alle diese Gefahren vereinigen sich in dieser Zeit, um uns einen grausamen Sturmangriff zu liefern.
Ich brauche euch nicht allgemeine Überlegungen zu machen, um euch zu informieren. Es genügen eure eigenen Erfahrungen und was in euch vorgeht. Sagt mir, dass ihr alle nicht verführt seid, die einen bei dem einen, die anderen bei dem anderen, ob ihr nicht versucht seid, an eurer Berufung entmutigt zu werden. Sagt mir, ob sich die Versuchung nicht auf alles bezieht, was der liebe Gott von euch verlangt, auf die Verpflichtungen, die ihr unterworfen seid, mildtätig zu sein, von sich selbst befreit zu sein und den Gehorsam zu lieben. Seid ihr nicht hingerissen, den anderen das Recht zu verweigern, ihrem Willen nachzukommen, während ihr nach eurem Willen handeln wollt? Ob es unter euch eine einzige gibt, die sagt: „Nein, ich werde überhaupt nicht versucht, ich mache leicht, was ich zu machen habe.“ Sie irrt. Sie wird von ihrer Eigenliebe versucht. Die Versuchung ist allgemein verbreitet. Sie ist im Geist, in der Seele, im Herzen, im Körper, im Menschen. Sie ist überall, sie ist weiter verbreitet denn je. Da ist nichts, wo man sich vor ihr verstecken kann. Professen, Novizinnen, Postulantinnen … alle werden mehr oder weniger von ihr heimgesucht. Da ist nicht eine einzige, die die Versuchung nicht getroffen hat. Das geht so weit, dass man wahrhaftig sagen kann, dass die Versuchung allgemein ist. Was muss man also machen? Muss man den Mut verlieren, die Gedanken der Welt annehmen, das Lager unseres Herrn verlassen? Muss man, um seinen Willen zu erfüllen, den Himmel verlieren und die Hölle verdienen? Nein, aber man muss wachsam und großmütig sein. Es gibt keinen Grund, sich Illusionen zu machen. Die diesjährigen Exerzitien sind wesentlich notwendig, es muss die Umwandlung, die sie erwirken werden, gründlich, radikal sein.
Meine Kinder, wenn ihr in euch das Wirken des Teufels, seine Versuchungen, seine Einflüsterungen völlig vernichten wollt, sagt euch wohl, dass ihr euch alle ändern müsst, von der ersten bis zur letzten. Also sind diese Exerzitien äußerst wichtig. Aber – ich wiederhole es – sie werden nur wirklich gut sein, wenn ihr alle verändert daraus hervorgeht, die einen mehr, die anderen weniger. Sie müssen euch dem lieben Gott zurückgeben, auch nicht in euch lassen. Denn schließlich habt ihr alle eine Aufgabe und ihr müsst euch befähigen, sie zu erfüllen. Ich habe meine. Mit der Gnade Gottes hoffe ich, sie zu erfüllen, so lange ich lebe.
Die Kongregation ist nicht etwas, das beiläufig gemacht wird. Sie ist nicht aus einem menschlichen Wollen entstanden. Gott wollte sie. Was ihr zu machen habt, ist eingeschrieben in die Pläne Gottes, im Buch des ewigen Lebens. Nicht ich wollte das, sondern der Heiland. Er hat den heiligen Franz von Sales erwählt, er ließ ihn vor seinem Thron erscheinen, er hat ihm eine Aufgabe gegeben. Aber dieser große Heilige kann sie nur mit Seelen erfüllen, die dazu erwählt sind. Wer sind diese Seelen? Man hat es mir gesagt: Ihr seid es. Die Worte, die mir gesagt wurden, wurden von der Gnadenwahl bestätigt. Ich glaube daran. Ich habe dreißig Jahre lang Widerstand geleistet, aber ich widerstehe dem Herrn nicht mehr. Ich will mich nicht wie Adam in einer Ecke verstecken und sagen: „Herr, du hast mich gerufen und ich habe dir nicht geantwortet.“ Ich will ihm vielmehr sagen: „Herr, du hast mich direkt und persönlich gerufen, ich will dir gehorchen und die Befehle ausführen, die du mir gegeben hast.“
Sie ist schön, eure Berufung, meine Kinder. Ihr seid berufen, die Verdienste des Heilands zu verwenden, sie in den Seelen anzuwenden, damit euer Leben auf der Erde das Abbild seines Lebens, des Lebens der heiligen Jungfrau ist, um wie die heiligen Frauen zu sein, die mit unserem Herrn gelebt haben, die ihm gefolgt sind, die ihm geholfen haben, das Evangelium zu verbreiten. Wenn ihr treu seid, wird er zu euch sprechen, wie er zu Maria sprach, die zu seinen Füßen weilte, wie er zu Marta sprach, als er zu ihr sagte: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen“ (Lk 10,41). Oder später: „Dein Bruder wird auferstehen“ (Joh 11,23). Ihr müsst unseren Herrn in den Seelen auferstehen lassen. Ihr müsst sein Leben wieder aufleben lassen, ihr müsst ihn sehen, hören, lieben. Er soll in eurer Mitte sein, dafür seid ihr hier. Versteht ihr eure Aufgabe? Das ist sie. Ich spreche zu euch ohne Gleichnisse.
Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis erhielt große Gnaden. Sie sagte mir, dass diese Gnaden der Welt mitgeteilt werden sollten und das dies die Aufgabe der Seelen wäre, die dem Weg folgen würden, über den ich zu euch spreche. Schwester Marie-Geneviève ihrerseits sagte mir, dass eure Berufung vor Gott groß sei. Ihr wisst es, sie hat mir oftmals wiederholt, dass sie beauftragt sei, nicht nur während ihres Lebens für euch zu beten, sondern während der ganzen Ewigkeit. Ich glaube also, was sie mir über euch sagte, und sie versicherte mir, dass der liebe Gott will, dass euer Leben vor ihm groß ist, dass er es derart will, dass ihr ihn durch eure Nächstenliebe, durch euer inneres Leben irgendwie auf Erden darstellt.
Ich wollte mich lange nicht unterwerfen und an diese Aufgabe glauben. Aber unser Herr hat selbst persönlich gesprochen. Und von dem Augenblick an, da er sprach, muss ich gehorchen. Ihr müsst also alle den Sinn eures Lebens, den Geist eurer Kongregation verstehen, in die ihr eingetreten seid. Ihr müsst alle zur Quelle eures wahren Ordenslebens gehen, zum heiligen Franz von Sales, zu unserer guten Mutter Mari des Sales Chappuis, zur Schwester Marie-Geneviève. Ihr müsst euch alle an die Dinge erinnern, die vom lieben Gott gewollt sind und die durch die Gnaden eurer Wahl geweiht sind. Ich weiß es, es gibt Schwierigkeiten, Versuchungen, da sind die Wirrnisse des Anfangs und eine Menge schmerzlicher Dinge, die nicht von allen verstanden werden können. Aber es ist nicht weniger notwendig, dass jede sich an das hält, was Gott von ihr will. Ihr müsst euch alle von der ersten bis zur letzten ändern, euch alle auf den Weg machen, auf den zu gehen die Oblatinnen gerufen sind, dass ihr euch an alles anpasst, was man von euch will, damit ihr in euch den willen Gottes ausdrücklich verwirklicht. Was muss man dafür tun? Ich werde es euch während der Exerzitien sagen: Das ist schwer, das ist äußerst ernst.
Sagt mir, meine Kinder, warum wollt ihr euch nicht ergeben? Warum wollt ihr in euch selbst mit eurem Eigenwillen bleiben? Da würdet ihr euch absondern. Ihr wäret nicht mit dem Heiland, ihr wäret allein, ihr hättet keinen Frieden, kein Glück mehr, ihr würdet die Gabe Gottes verlieren. Ich glaube nicht, dass ich euch zu starke Dinge sage. Der liebe Gott wird bestimmt die Seele einer jeden von euch erleuchten können. Ihr müsst gut zuhören, was sich euch sagen werde. Diese Exerzitien müssen für euch der Brunnen sein, aus dem ihr schöpfen sollt. Ich halte euch nicht einfach Vorträge. Ich will euch in das Wahre versetzen, euch zeigen, was gemacht werden muss, wie der liebe Gott geliebt werden soll. Man kann nur Oblatin sein, wenn man sich auf diesen Standpunkt stellt. Wenn ich euch das sage, bin ich mir dessen ganz sicher. Ich war fünfunddreißig Jahre, ich könnte sagen vierzig Jahre in dieser Schule. Ich habe es nicht sogleich gelernt, ich habe dreißig Jahre gekämpft. Ich wusste wohl, wozu ich verpflichtet wäre. Man kann nur Oblatin sein, wenn man ganz von der Lehre des heiligen Franz von Sales lebt. Das verlangt einen sehr großen Großmut. Daher findet man keine Vielzahl von Berufungen. Oblatin sein heißt das Direktorium mit der größten Treue zu üben, heißt nur für den Heiland mit diesem inneren Leben zu leben, das macht, dass wir nicht mehr uns gehören. Mögen die hören, die Ohren haben zu hören, und die, die nicht versteht, sich demütigen. Sie möge handeln wie die kleinen Kinder und ihr Unvermögen, ihre Unwissenheit erkennen. Man kann in jedem Alter durch den Verstand Kind sein. Näher euch dem Heiland und sagt ihm: „Mehre in mir das Licht und den Glauben. Lass mein Herz aus deinem Mund das göttliche Wort empfangen. Lass mich gut verstehen und ganz machen, was du willst.“
Ihr werden den Übungen der Exerzitien mit großer Treue ohne Zwang und Anstrengung folgen. Man braucht mit dem lieben Gott nicht mehr gehemmt zu sein als ein Kind im Haus seines Vaters. Geht mit eurem Herzen zum Heiland. Seid ihr nicht überall mit ihm? Ihr werdet dem Heiland überall begegnen: in dieser Kapelle, im Gemeinschaftsraum, im Haus, in den Alleen des Gartens. Unser Herr ging mehrmals über den Weg, der von hier zur Gemeinschaft führt. Hört auf ihn, seid nicht gleichgültig. Bittet ihn, eurer Seele zu erscheinen, in euch zu bleiben, und er wird dort bleiben. Verstehen wir, dass wir alle der Gnade entsprechen müssen, zu unseren guten Vorsätzen zurückzukommen, zu den Anlagen, die der liebe Gott am Tag unserer Berufung in uns hineinlegte.
Meine Kinder, ist es schwer, was der liebe Gott von uns verlangt? Vielleicht, aber wenn es schwer ist, verdient der liebe Gott es nicht, dass wir uns bemühen? Die gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagte: „Man muss alles geben, um alles zu haben. Und wenn man alles vom lieben Gott hat, ist man sehr glücklich.“ Wisst ihr, was das Leben einer wahren Oblatin ist? Es ist das Paradies auf Erden. Eine wahre Oblatin ist eine völlig glückliche Seele. Ihr Leben ist ein Leben, das schon im Himmel ist. Heißt da,s dass man nicht mehr leidet? Nein, ohne Zweifel. Selbst unser Herr empfand auf Erden Angst und Schmerz, aber er war im Willen Gottes, seines Vaters. Trotz seines Leidens hatte er das von der Gottheit untrennbare Glück. Wenn unser Herr in Nazaret das Brot der Armut aß, genoss er da nicht den Anblick seines Vaters, war seine Seele nicht sehr glücklich? Dieses Glück soll unseres sein.
Wie oft habe ich unserer Mutter Marie de Sales Chappuis gesagt: „Aber, meine gute Mutter, es ist das Paradies auf Erden. Wird man im Paradies glücklicher sein?“ – „Sagen sie das nicht,“ nahm sie das Gespräch wieder auf. „Man würde nicht verstehen, man würde daran Anstoß nehmen. Dennoch ist etwas wahres dran.“ Das heißt nicht, dass man nicht leidet, aber der obere Teil unserer Seele genießt die Gegenwart Gottes und seine Tröstungen. Das wünsche ich euch, dahin werdet ihr gelangen, wenn ihr gute Oblatinnen seid, wenn ihr wahre Töchter unseres seligen Vaters [Franz von Sales] seid, wenn ihr macht, was er empfohlen hat, wenn ihr sein Direktorium ausführt. Sehr das Gesicht dieses seligen Vaters [Franz von Sales], wie es Güte und Frieden atmet! Wenn ihr die gute Mutter Marie de Sales Chappuis gesehen hättet, wie schön war der Ausdruck ihres Gesichtes. Und Schwester Marie-Geneviève auf ihrem Totenbett! Ich sagte: „Ihr Seele ist schon im Himmel, so wie ihr Gesicht strahlt!“ Und so war es bei allen Schwestern, die ich in der Heimsuchung sterben sah. Die gute Schwester Thérèse-Emmanuel hatte mit siebzig Jahren das Gesicht eines glücklichen kleinen Kindes. Dieser Friede, dieses Glück, das ist das wahre. Der liebe Gott will, dass wir ihn darum bitten. Das zu suchen seid ihr hergekommen. Ich wünsche mir sehr, dass ihr heute Vormittag versteht, was euer Leben ist, was ihr sein sollt. Der liebe Gott selbst geruhte, in dieser Hinsicht seinen Willen zu offenbaren. Er ist selbst gekommen, um es zu bestätigen und seine Befehle zu geben. Meine Kinder, ich bescheinige es euch vor Gott mit aller theologischen Wissenschaft, die ich haben kann. Wer würde es wagen, seinem heiligen Willen zu widerstehen?
In den letzten Tagen las ich die Biografie von Herrn Johannes Baptist de la Salle, dem Gründer eines wunderbaren Ordens [Schulbrüder]. Es ist wirklich sehr schön, was der liebe Gott für jede Ordensgemeinschaft in seinen Anfängen machte. Wohlan! Ich bestätige euch vor dem im Tabernakel gegenwärtigen Heiland, dass an der Quelle unserer Kongregation das göttliche Eingreifen ebenso sehr, wenn nicht mehr als anderswo fühlbar war. Ich bekräftige es euch. Ohne Zweifel hängen wir es nicht an die große Glocke. Die Kinder des heiligen Franz von Sales müssen schweigen, die dürfen nichts ausposaunen. Aber ich behaupte vor dem liebenGott, den ich in meinem Herzen empfangen habe, ich nehme ihn als Zeugen, dass sich seine Liebe und Güte selten so zeigt, wie bei uns. Ihr könnt einwenden: „Mein Vater, Sie sind wie die Kinder aus gutem Haus, die sagen: Nichts ist so schön wie bei uns Zuhause.“ Meine Kinder, ich habe dennoch die Erfahrung, die es gestattet, Vergleiche anzustellen.
Müsst ihr also kalt, ungerührt, ohne Herz angesichts so vieler Gnaden bleiben? Müsst ihr sie in Verlust geraten lassen? Wenn ihr sie nicht wollt, wird diese Gabe auf andere übergehen. Versteht, warum ihr manchmal versucht und entmutigt seid. Ihr müsst gereinigt sein, durch die Versuchungen hindurch gehen. Die Versuchung wird euch heimsuchen, ihr braucht sie, um euch auf diesen Weg zu bringen, um aus euch Oblatinnen nach dem Herzen Gottes zu machen.
Ich lege Wert darauf, den Willen Gottes für euch zu bekräftigen, euch die Erhabenheit eurer Berufung verständlich zu machen, euch zu wiederholen, dass unser Herr selbst kam, nachdem er mir seine Boten geschickt hatte, um mir seinen Willen kundzutun und mir seine Befehle zu geben.
Am 14. September feiert man in Einsiedeln das große Fest der Abtei und gleichzeitig den Jahrestag einer außergewöhnlichen Tatsache. Es war im zehnten Jahrhundert. Man sollte die Kirche des Klosters weihen. Die Weiheprälaten hatten sich verspätet. Und da sieht der heilige Gründer Meinrad, der am frühen Morgen in die Kirche gekommen war, unsere Herrn, der in Begleitung der heiligen Jungfrau und von Engeln und Heiligen selbst nach genau aller von der heiligen Kirche vorgeschriebenen Riten die Weihe des Gebäudes vornimmt. Als die Bischöfe zur Weihe kamen, setzte sie der heilige Geistliche in Kenntnis, was soeben geschehen war, und alle fielen auf die Knie und sagten: „Wir werde nicht an dem rühren, was der Herr selbst geweiht hat.“
Meine Kinder, unser Herr ist auch gekommen, um selbst zu weihen, was wir machen. Die menschliche Hand hat nicht daran zu rühren. Er wollte, dass wir nach dem Geist des heiligen Franz von Sales gegründet werden. Er trug es uns auf. Er weihte uns. Rühren wir nicht an der heiligen Arche, am Werk Gottes. Der liebe Gott hat es gewollt, unterwerfen wir uns sehr demütig seinem heiligen Willen. Ich sage nicht, dass es keine Dornen geben wird, aber unser Herr wird mit uns sein. Wir werden Glück und Seelenfrieden haben, weil der, der uns sagte: „Geht auf diesem Weg“, uns gut führen wird, das versichere ich euch. Und wenn sich die Tür der Ewigkeit öffnen wird, werden wir den Himmel sehen. Wir werden ohne Furcht durch diese Tür gehen können, denn wir werden im Willen Gottes gearbeitet haben. Und wenn wir die Exerzitien machen, meine Kinder, so ist es, um in unserer Sterbestunde dieses Glück zu verdienen. Amen.