1. Vortrag: Die Wichtigkeit der Exerzitien
Montag Vormittag, 10. September 1883
Meine Kinder, wir müssen gute Exerzitien machen, sehr ernste, die in jeder von uns die notwendigen Erneuerungen hervorbringen. Am Ende diese Exerzitien müssen wir, ich sage nicht verändert, aber im inneren Geist, im Ordensgeist erneuert sein. Wir müssen alle neuen Mut und neue Kräfte haben, um unsere große Arbeit fortzusetzen. Ich verhehle nicht, dass ihr viel zu tun, zu leiden habt. Ich kenne eure Schwierigkeiten, eure Arbeit, eure Verwirrungen. Ich weiß um die Last, die auf jeder von euch ruht. Beklagt euch nicht darüber. Dadurch heiligt ihr euch, tut ihr den Seelen Gutes, doch unter der Bedingung, dass ihr zutiefst Nonnen seid. Es müssen diejenigen, die sich in den Dienst des lieben Gottes stellen, in ihrer ganzen Seins- und Handlungsweise erbauend sein.
Um eure Aufgabe in den Werken gut zu erfüllen, ist es notwendig, dass ihr Heilige werdet. Wenn ich dieses Wort „Heilige“ verwende, spreche ich dann von der wahren Heiligkeit? Von der Heiligkeit einer Seele, die immer mit dem lieben Gott vereint ist? Ohne Zweifel. Von der Heiligkeit, die sehr sorgfältig die geringste Beschmutzung vermeidet? Sicherlich. Von der Heiligkeit, die Wunder wirkt? Warum nicht? Ihr werdet mir sagen: „Sie schicken uns also, um Wunder zu wirken, mein Vater?“ Ja, ich schicke euch, Tote aufzuwecken, Kranke zu heilen und den Armen das Evangelium zu verkünden. Wie viele Seelen gibt es heutzutage, die der Gnade gestorben sind, kranke und leidende Seelen!
Ihr habt also den Armen das Evangelium zu verkünden, denn die Welt ist sehr arm, sehr elend. Der liebe Gott wird in vielen Familien beiseite gelassen, wo die Erziehung nicht mehr wirklich christlich ist. Angesichts dieses Tatbestandes versteht ihr, wie notwendig es ist, dass ihr Heilige seid, und um Heilige zu sein, müsst ihr vor allem zutiefst Nonnen sein. Ihr werdet also in diesem Geist eure Exerzitien gut machen. Ihr werdet euren Beruf, eure Betrachtungen, eure Übungen machen, um euch zu heiligen.
Ich wünsch mir sehr, meine Kinder, dass ihr frömmer, mit dem lieben Gott mehr vereint werdet, dass diese Exerzitien für euch eine Erneuerung im Glauben und in der Frömmigkeit sind. Alle brauchen es, denn der heilige Augustinus sagte: „Es ist sehr notwendig, von Zeit zu Zeit den Staub von seinen Schuhen abzuschütteln.“ Wir werden also unsere Exerzitien so machen, dass wir den lieben Gott sehr reichlich finden.
Hier ist mein Wunsch: dass man nach den Exerzitien in jedem Haus mehr vom lieben Gott spricht, dass man ihm besser dient, dass man ihn mehr liebt. Das ist die Pflicht eines einfachen Christen und mehr noch einer Nonne.
Warum habt ihr Professschwestern Exerzitien für euch allein? Weil ihr die Seele der Gemeinschaft seid. Ihr müsst der Kongregation eine guten Impuls geben, und in Zukunft wird sie sein, was ihr gewesen sein werdet. Warum hielt sich der Orden der Heimsuchung so gut in ihrem ersten Eifer? Warum ist dort noch immer derselbe Geist? Weil die ersten Mütter Heilige waren.
Wir werden als die Exerzitien machen, meine Kinder, damit dieses Jahr ein wahrhaft frommes Jahr ist, damit ihr euch in der Übung der Ordensregeln und ihrer Beobachtung und in der Liebe erneuert, Tugenden, die die Nonne ausmachen; damit ihr keine Leute von Welt seid, die als Nonnen verkleidet sind, die nur einen Hut und ein färbiges Gewand brauchen, um weltlich zu sein. Man soll nicht wie jeder sein. Ich erinnere mich, dass Herr Auger (Professor am Priesterseminar in Troyes) in einem Vortrag, den er den Seminaristen hielt, erzählte, dass die Bewohner eines Dorfes kamen, um ihm für den Pfarrer zu danken, den er ihnen gegeben hatte. „Er macht alles wie wir“, sagten sie. Wohlan! Wir, meine Kinder, sollen nicht wie jedermann sein! Es liegt ein tiefer Gedanke in dem, was ich euch da sage. Wenn in der Arbeit, die wir verrichten, nur eine persönliche Handlung liegt, ist sie nichts wert. Es muss die Handlung Gottes sein. Wir sollen auch nicht den weltlichen Geist der Personen annehmen, bei denen wir uns befinden. Denn vor allem und in erster Linie muss man in uns die Nonne spüren, und man muss von uns sagen können: „Sie sind nicht ganz wie die anderen.“
Seht unseren Herrn: Er war sehr willfährig zu seinen Aposteln. Er ließ die Menge leicht an sich heran. Die Kinder kamen zu ihm, man berührte ihn, er war allen zugänglich. Aber man sagte nicht von ihm: Er ist wie wir, er hat wie wir gesprochen. Der Heiland wahrte seine ganze Würde.
Ich sage euch das alles, damit ihr zutiefst Nonnen werdet und damit ihr nicht nur Schwestern seid. Nicht, dass ich Schlechtes von den Schwestern sagen möchte, aber ich denke, dass ihr nicht wie irgendwer sein sollt. Denn das würde dann bedeuten, dass es die Kongregation nicht geben würde. Der Wille des lieben Gottes ist es dennoch, dass es sie gibt. Meine Schwester Marie-Geneviève hat es mir so manches Mal gesagt. Unsere Mutter Marie de Sales Chappuis machte mir für euch viele Vorhersagen. Sie machte mir besonders eine, die noch nicht eingetreten ist und die den Geist der Kongregation betrifft. Wir müssen sie in diesem Jahr verwirklichen. Ich werde euch deshalb quälen. Quält euch auch selbst, lasst euch nicht in Ruhe, ihr müsst alle dorthin kommen, wo euch die Gute Mutter will. Heißt das, dass ihr heiliger seid als die anderen? Nein, das heißt einfach, dass ihr den Willen Gottes erfüllen werdet. Ihr müsst die Exerzitien machen, um wahre Nonnen zu werden, um Gott besser zu lieben und ihm treuer zu dienen, damit ihr macht, was die Gute Mutter mir sagte, und dass ihr Versprechen wahr werde.
Meine Kinder, nehmt alle meine Worte sehr wichtig. Später wird man euch wieder dasselbe sagen, aber nicht mit derselben Autorität. Ich erhielt von Gott die Aufgabe, euch zu gründen, euch zu unterweisen und euch den Geist einzugeben, den ihr haben sollt. Versteht seinen Ernst, seine Wichtigkeit. Legt euer ganzes Herz hinein und helft mir durch eure Fügsamkeit. Die Erleuchtungen von Gott werden sehr reichlich sein und seine Gnade wird euch nicht fehlen. Werdet wie die kleinen Kinder. Seid wie dieser Prophet [Jeremia], zu dem Gott sagte, er möge die Kinder Israels besuchen gehen, und der ihm antwortete: „Ach, mein Gott und Herr, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung.“ Der Herr antwortete ihm: „Wohin ich dich auch sende, dahin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du verkünden. Fürchte dich nicht“ (Jer 1,6-7). So muss man mit Gott sein, meine Kinder. Dieses Vertrauen und diese Hingabe müssen die Grundlage unseres Geistes sein. Das muss etwas sein, das in unser Blickfeld, in den Klang unserer Stimme, in all unseren Gesten, in unsere ganze Seinsweise kommt, wie etwas, das uns durchdringt. Bemüht euch jeden Tag, es umzusetzen. Damit geht man gut und weit. Aber wenn man nicht daran denkt, vergisst man ganz, wie man leben soll. Dennoch muss man es in seinen Gedanken gegenwärtig haben. Deshalb machen wir Exerzitien. Seien wir also treu und genau bei allen Übungen, beim Stundengebet wie es angegeben ist, bei der Einhaltung der Stille, in dem wir nur in der Erholungszeit sprechen. Ich gebe zu, dass das ermüdend ist, aber opfert diese Anstrengung, um die Gnade für gute Exerzitien zu erhalten.
Meine Kinder, bei den Exerzitien machen wir nur die Abenderholung. Zur Zeit der Mittagserholung werdet ihr beten, werdet ihr euch beim lieben Gott ausruhen. Haltet euer Herz sanft mit unserem Herrn verbunden. Wenn ihr Muße habt, erzählt ihm eure Angelegenheiten, verbringt diese Tage der Ruhe bei ihm, als würdet ihr ihn sehen, und eure Exerzitien werden sehr fruchtbar sein.
Heute müsst ihr euch noch nicht mit eurer Beichte beschäftigen. Der heilige Franz von Sales will, dass man sich am ersten Tag der Exerzitien beim lieben Gott ausruht, weil man ihn vielleicht lange nicht in dieser Vertrautheit besucht hat. Wir müssen die Kenntnis mit ihm wieder auffrischen, unsere Angelegenheiten mit ihm behandeln. Das soll man weniger mit dem Kopf als mit dem Herzen machen, wie es unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis machte. Macht das gut, meine Kinder, und der liebe Gott wird mit euch zufrieden sein. Amen.