Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1875

      

6. Vortrag: „Der Geist der Frömmigkeit begleite die Oblatin bei allen ihren Übungen und ihren Beziehungen zum Nächsten“

Donnerstagnachmittag, 30.09.1875

Meine Kinder, der hl. Paulus sagt uns, dass die Frömmigkeit zu allem nützlich ist, dass sie für unser gegenwärtiges Leben nützlich ist, dass sie für das zukünftige Leben nützlich ist. Eine Oblatin muss fromm sein. Wenn sie nicht im Herzen die Frömmigkeit hat, ist sie keine wahre Oblatin, ist sie außerhalb ihrer Berufung. Das Eigene des Geistes des hl. Franz v. Sales ist die Frömmigkeit. Diese Frömmigkeit, die macht, dass wir den lieben Gott aus ganzem Herzen lieben. Diese Frömmigkeit, die sich all unserer Handlungen, unseres ganzen Inneren bemächtigt. Diese Frömmigkeit, die in uns ist, um uns einen sanften und liebenswerten überlegenden Geist zu geben, um uns einen Geist der Heiligkeit bei allem, was wir machen, in allen Umständen, in denen wir uns befinden, mitzuteilen, diese Frömmigkeit, die der Duft der Seele ist, wie der hl. Hieronymus sagt. Diese Frömmigkeit, die wie das Aroma aller Düfte ist, und ihren Wohlgeruch überall hin trägt vor Gott und vor dem Nächsten. Diese Frömmigkeit, die macht, dass wir keine trockenen Seelen sind, keine kalten Seelen, die nachlässig gehen, sondern Seelen, die alle ihre Handlungen, alles, was sie zu machen haben, machen, weil Gott es befiehlt. Ich gehe auf einige Einzelheiten ein.

Die fromme und demütige Oblatin vernachlässigt ihre Morgenübung nicht. Sie macht sie mit Ruhe, Mut und Liebe. Sie ist da in der Gegenwart Gottes, sie bereitet sich darauf vor, diesen Tag liebevoll und ernst zu verbringen. Dann kommt die Betrachtung. Da muss die Frömmigkeit einer Oblatin hauptsächlich zum Ausdruck kommen. Was habt ihr, was beansprucht ihr auf dieser Erde? Welche Güter besitzt ihr da? Die Erde ist nichts mehr für euch: sie ist ein Durchzugsort, ein Weg, ein Pfad, auf dem ihr geht, ihr könnt euch nicht daran binden. Ihr fühlt, dass ihr ein anderes Leben sucht, eine andere Stadt, die besser ist, die im Himmel ist. Muss die Betrachtung nicht sehr gut sein, wenn ihr Töchter des Himmels seid, wenn ihr im Paradies wohnt? Oh, wie gibt uns die so verstandene Frömmigkeit etwas Gutes, Süßes, wie hält sie uns gesammelt, wie geschieht Süßes und Heiliges in unserer Seele!

Oh, meine Kinder, macht eure Betrachtung mit aller Frömmigkeit, zu der ihr fähig seid! Die Frömmigkeit ist ein Manna, ein erster Strahl der aufgehenden Sonne, der erste Blick unseres Herrn, der uns so viel sagt, der bewirkt, dass wir ihn gut verstanden, gut angenommen haben. Ihr müsst von der Frömmigkeit umgeben, wie von einem Mantel umhüllt sein, ihr müsst unter dem göttlichen Einfluss wie unter einem Kleidungsstück sein. Heißt das, dass ihr ohne Zerstreuung sein werdet? Nein, aber wenn ihr bei der Betrachtung gesammelt seid, wenn ihr gemäß der Regel auf den Knien bleibt, einfach zu Gott geht, wird diese harte, diese mühsame Zeit für euch dreimal verdienstvoller sein, als wenn ihr Tröstungen hättet.

Versteht mich gut: eure Betrachtung soll gesammelt sein. Habt keine von diesen Haltungen, von diesen Bekleidungen, die von der Abwesenheit des Ordenslebens, der Abwesenheit des lieben Gottes zeugen. Wenn ihr die Hände nicht falten könnt, wie die hl. Regel es sagt, verlangt Dispens dafür. Ich weiß, dass das ermüdet und sogar Übelkeit verursachen kann. Bittet um die Erlaubnis und faltet eure Hände nur für drei oder vier Minuten, nur so lange ihr den Betrachtungspunkt lest. Haltet sonst die Haltung ein, die die hl. Regel vorschreibt. Haltet eure Hände gefaltet und denkt an unseren Herrn, der die Arme ausgestreckt hatte, als er für uns am Kreuz starb. Ob ihr kniet oder sitzt, vermeidet die Haltungen, die ein Sich-gehen-lassen künden, die die Freiheit der Handlung zeigen, erinnert euch, dass ihr Nonnen seid, und dass die Betrachtung etwas Frommes, Gesammeltes sein soll. Vermeidet die lässigen Haltungen, die die Weichheit der Welt künden. Vermeidet dies vor allem!

Gehen wir jetzt zur hl. Messe über: geht zur hl. Messe, bringt alle Anlagen hin, zu denen ihr fähig seid, um sie zu hören, wie der hl. Franz von Sales will, das wir sie hören. Wenn die Gedanken der Messe für euch zu vielfältig sind, nehmt dennoch einige davon, um die Messe zu hören, wie unser seliger Vater sie hörte. Haltet euch gut, vor allem in Gegenwart von weltlichen (Personen bzw. Dingen). Ihr seid nicht klaustriert, ihr seid im Blickfeld der Welt, und ihr werdet es immer sein. Betrachtet die Zeremonie der Messe. Wenn ihr nicht müde seid, bleibt die ganze Messe auf den Knien. Im Augenblick der Erhebung versetzt euch noch ehrfürchtiger in die Gegenwart Gottes und verneigt euch tief. Im Augenblick der Kommunion macht man eine weniger tiefe Verneigung, wie der hl. Franz von Sales sagt. Während der restlichen Zeit der Messe bleibt gesammelt! Beim Evangelium muss man aufstehen, man muss die Rubrik, den von den Regeln der Kirche gekennzeichneten Brauch beobachten. Man mache all das mit großer Sammlung, mit großer Frömmigkeit und man denke, dass unser Herr da ist, auf dem Altar. Haltet euch in großer Achtung. Denkt auch, dass die Engel da sind, rund um den Altar, auf dem unser Herr ruht, um ihn mit euch anzubeten. Jede von euch muss sich anbieten, muss sich schenken.

Oh, die Messe, wenn ihr sie hört, wie eine wahre Oblatin sie hören soll, wie ihr euch unserem Herrn schenken würdet! Dieser Oblate – denn unser Herr ist ein Oblate – er gibt sich hin, er bietet sich an, er macht seine Opferung, er opfert sich… Auch ihr, meine Kinder, seid Oblatinnen, das ist euer Los, ihr müsst euch in besonderer Weise schenken. In den Werken des hl. Franz v. Sales sieht man, wie er schöne Dinge sagte, und wie er von den hl. Müttern der Heimsuchung verstanden wurde, wie sie machen wollten, was er ihnen empfahl! Sie wohnten fromm der hl. Messe bei, sie verstanden es, sich zu sammeln, sich zu verschmelzen, sich in Gott zu verlieren! Das ist die große geistige und übernatürliche Lehre des hl. Franz von Sales. Ihr seht, was er sagte, dass wir uns selbst mit ihm mit der ganzen Kirche anbieten müssen. Wie muss dies mit einer großen Frömmigkeit, mit einer tiefen Anbetung gemacht werden!

Gehen wir zum Stundengebet über: ob ihr es alleine sprecht oder mit der Gemeinschaft, sprecht es fromm. Wenn ihr nicht fühlt, was ihr sagt, soll euer Wille fromm sein. Wenn ihr das Stundengebet sprecht, denkt, wenn ihr einen Vers sagt, dass eure Schwestern die Engel sind, die mit dem anderen antworten. Wenn ihr das Stundengebet alleine sprecht, denkt wieder, dass ihr es mit eurem guten Engel betet, und dass jeder seinen Vers sagt. Das Stundengebet ist das Mittel, Gott seine Pflicht zu erfüllen, sich zu beglückwünschen, hier herunten auf Erden dasselbe Stundengebet zu sprechen, wie die Engel und die Heiligen oben im Himmel. Das Stundengebet gehört zu den wichtigsten Dingen des Ordenslebens. Man findet schwer wahre Nonnen ohne Stundengebet.

Meine Kinder, wenn ihr bei eurer Abendbetrachtung das hl. Sakrament besucht, sagt unserem Herrn: „Komm in die Wüste meiner Seele, komm ganz nahe zu mir.“ Sprecht zu ihm über eure Fehler des Tages, über euer Elend, ruht bei ihm aus, gebt euch dem guten Meister hin. Ihr müsst ihm wohl sagen, dass er bei euch bleibt. Und wenn die Stunden vergehen, wenn der Tag bald endet, müsst ihr ihm auch sagen, dass ihr ihm eure Fehler, euer Elend überlasst. Oh, wie sehr wünschte ich, dass ihr bei allen euren Übungen die Frömmigkeit habt!

Meine Kinder, die Frömmigkeit bei allen euren Übungen genügt nicht. Ich empfehle euch noch die Frömmigkeit zueinander. In diesem Sinne haben wir viel, sehr viel zu tun. Man behandelt sich nicht genügend Frömmigkeit, es gibt nicht genug Beziehungen von Nonne zu Nonne, man behandelt sich nicht wie Gemahlinnen unseres Herrn, das ist nicht in der Ecke, im Verborgenen der Frömmigkeit vermerkt, wie der hl. Franz von Sales sagt. In der Erholung muss man oft gute Dinge sagen. Man möge sich gut erholen. Aber wenn der Augenblick gekommen ist, sich der hl. Gegenwart Gottes zu erinnern, muss man es fromm machen, wie es die hl. Regel angibt.

Meine Kinder, vor allem in euren Beziehungen zueinander müsst ihr fromm sein. Ihr müsst einander achten. Behandelt euch nicht wie Ritter, das wäre gegen den Geist unseres seligen Vaters handeln. In euren Beziehungen muss etwas Sanftes, Einfaches, etwas Frommes, Gesammeltes sein. Mit einem Wort: seid in euren Beziehungen zueinander, in euren Beziehungen zu Fremden, zu jedermann einfach, tragt das Siegel der Milde, das Siegel der Frömmigkeit, der Einfachheit! Es ist nicht eure Aufgabe, Gendarme und Polizeihauptleute zu sein, euer Amt ist das unseres Herrn, der den Docht nicht auslöscht, der noch raucht, der den zerschlagenen Rosenstrauch nicht bricht. Der Apostel sagt uns: „Möge sich eure Frömmigkeit allen mitteilen. Möge Jesus Christus in euch wohnen.“

So muss eure Frömmigkeit zu euch, zu jedem und in allen euren Übungen zum Ausdruck kommen. Tragt dieses Siegel, das euch sanft, einfach, religiös macht, welches das besondere Siegel eurer Berufung sein wird. Vermeidet den unpassenden Ton, vermeidet es zu schreien, die Stimme zu erheben. Macht es nicht wie die Leute der Welt. Der Charakter einer Oblatin ist die Ruhe unseres Vaters, des hl. Franz von Sales. Er war sanft, einfach und fromm. Wie erinnerte er an den Heiland, wohin immer er ging, wie trug er die Seelen durch seine Frömmigkeit zum lieben Gott! Erinnert euch daran. Wir sind seine Kinder, wir müssen Haltungen der Familie haben. Und eine Oblatin wäre nicht Oblatin, würde sie nicht als Oblatin leben.

Meine Kinder, bittet unseren Herrn sogleich, wenn er auf dem Altar sein wird, um euch zu segnen, um diesen Geist der Frömmigkeit, dieses Benehmen von Frömmigkeit mit jedermann, damit die Frömmigkeit das Siegel eurer Seele ist und ihr werdet sehen, wie sie euch für eure Beziehungen untereinander nützlich sein wird. Sie wird euch für die gegenwärtige Zeit, für die zukünftige Zeit und für die Ewigkeit nützlich sein. Oh, nun wird es nicht mehr nur Frömmigkeit sein, sondern Liebe! Es wird nicht mehr nur die Milde sein, sondern die große, die unendliche Güte Gottes, die euren Willen leiten wird, die eure Herzen erfreuen wird, und das während der ganzen Ewigkeit! Amen.