Exerzitienvorträge für die Oblatinnen Februar 1874

      

6. Vortrag: Über den Eifer für das Heil der Seelen

Samstagvormittag, 14.02.1874

Meine Kinder, während dieser Exerzitien sprach ich zu euch bis jetzt von euren Pflichten Gott und euch selbst gegenüber, d.h. von dem gewohnheitsmäßigen Zustand, in dem eure Seelen leben sollen. Ich erklärte euch die Art euch selbst zu vergessen und der Gnade Gottes zu entsprechen. Heute betrachten wir diese Worte unseres Herrn: „Geht, lehret alle Nationen, verkündet die gute Nachricht den Seelen, die im Schatten des Todes sind, macht sie nicht nur durch eure Worte bekannt, sondern mehr noch durch eure Taten, verkündet, dass die Herrschaft Gottes kommt, und dass der Herr da ist, der zur Seele kommt, die ihn seit langem sucht.“

Obgleich diese Worte nicht positiv an euch gerichtet sind, meine lieben Kinder, entsprechen sie euch völlig. Und am Ende dieser Exerzitien, am Tag vor der Einkleidung, der Profess ist es der Augenblick sie auf euch anzuwenden. Heute Vormittag werden wir also von dem sprechen, was wir den anderen geben sollen, von der Nächstenliebe.

Die Caritas hat einen doppelten Gegenstand: die Gottesliebe und die Nächstenliebe. Gott hat nicht nur gesagt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben. Er hat hinzugefügt: und deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn wir also unseren Nächsten wie uns selbst lieben, haben wir nicht die Nächstenliebe. Der hl. Apostel Johannes, der geliebte Jünger, empfiehlt uns auch die Nächstenliebe mit diesen Worten: „Meine Kinder, meine kleinen Kinder, liebt einander.“ Durch eine ganz besondere Gnade, durch die Gabe seiner Reinheit, seiner Unschuld hatte er erreicht, dass die Stadt Ephesus, deren Bischof er war, nicht wie alle des römischen Reiches war, die zu dieser Zeit von der Ungläubigkeit waren. Als er nun an die 100 Jahre alt war, und kaum noch gehen konnte, ließ er sich zu seinem Volk bringen, um einige Worte an es zu richten: „Meine Kindlein“, wiederholte er ihnen, „liebet einander.“ Seine Anhänger sagten ihm verärgert und müde: „Aber, Vater, Sie sagen immer dasselbe!“ Er antwortete ihnen: „Es ist die Vorschrift des Herrn, und wenn ihr sie beachtet, ist alles da.“

Meine Kinder, ich sage euch wie der hl. Johannes: „Liebet einander.“

Aber nicht nur diese Liebe zu euren Schwestern sollt ihr haben, sondern auch die zu den Seelen, die eines Tages in den Himmel eingehen sollen, um dort Gott zu lieben und sich der ewigen Belohnung erfreuen. Diese Vorschrift der Nächstenliebe, von der ich zu euch spreche, ist die Liebe zu den zum Preis des Blutes unseres Herrn losgekauften Seelen, zu diesen Seelen, die er mit seinem Blut kennzeichnete! Welcher ist nun euer Nächster: alle Seelen ohne Ausnahme. Ihr sollt sie lieben und für sie beten. So wird das Stundengebet für alle Seelen gebetet. Es wird nicht nur für die Kongregation gebetet, sondern für alle Seele auf Erden. In allen Übungen der Gemeinschaft sollt ihr an alle Seelen denken, die Jesus Christus gerettet hat, geheiligt zum Preis seines Blutes, und dies besonders in der Betrachtung, bei der hl. Kommunion, ihr sollt sie dem lieben Gott nennen. Euer Gebet ist für sie der Weihrauch, der zum Himmel aufsteigt. Die Wirkung dieses Gebetes kommt auf diese Seelen wieder wie ein Tautropfen hernieder, und dieser Tautropfen führt sie zu Gott zurück, der sie mit seiner Gnade berührt. Diese Seelen werden eines Tages gerettet werden, weil ihr für sie gebetet haben werdet. Ihr werdet sogar gerettet haben, die ihr nicht gekannt haben werdet und für die ich nicht besonders betet, aber der liebe Gott wird sich eures Gebetes bedienen, um sie zu retten. Diese Seele wird für immer glücklich sein, ihr werdet sie vom Weg zur Hölle zurückgezogen haben, um sie für immer unseren Herrn lieben zu lassen. Ihr Glück wird doppelt sein, hundertfach, weil ihr für sie gebetet haben werdet. Der liebe Gott wird euch im Himmel die Seelen zeigen, die ihr werdet gerettet haben. Und weil euch diese Seelen sagen werden, dass sie euch ihr Heil verdanken, wird auch euer Glück doppelt sein.

Besonders für die Seelen, die euch anvertraut sind, für die Seelen, die in eurem Gebiet sind, sollt ihr alles machen und beten. Sagt euch also: „Oh, ich werde mich diesen Seelen widmen, die Gott mir gibt, da ich Oblatin nicht nur für mich bin, sondern für diese Seelen, die mir anvertraut sind. Ja, ich werde mich schenken, ich werde mein ganz Selbst für das Heil der Seelen geben. Ich bin nicht Nonne für mich allein, sondern um Hilfskraft des Priestertums, des Wortes Gottes, der Sakramente zu sein.“ Oh, versteht das, mein Kinder!

Wenn der junge, zu Füßen des Altars kniende Priester aus den Händen seines Bischofs die Gewalt empfängt, die Sünden zu verzeihen, das Wort Gottes zu verkünden, die Sakramente zu verwalten, ist er tief berührt. An die Treue des Priesters ist die Frucht aller Gnaden gebunden, die ihm in dem Augenblick der Weihe an Gott geschenkt werden. In diesem Augenblick, wo er sich fragt, welche Seelen ihm der liebe Gott geben wird. Wird er des hl. Amtes würdig sein? Er weiß nichts darüber. Was behält ihm Gott in diesem Teil des Feldes des Vaters der Familie vor? … Wie muss er Gott um die Kraft und den Mut bitten, die er braucht, um diese schöne Aufgabe zu erfüllen: Seelen für Gott gewinnen! Das Gleiche gilt auch für euch, meine lieben Kinder. Gott wird von euch Rechenschaft verlangen für die euch anvertrauten Seelen. Ihr könnt auch sagen: „Wozu bin ich fähig?“ – Nun, hört zu:

Die hl. Kirche feiert jedes Jahr die Bekehrung des hl. Paulus. Nun, was war der hl. Paulus? Er war ein Verfolger. Er ging nach Damaskus, um die Christen zu verfolgen. Unterwegs hört er eine Stimme, die zu ihm sagt: „Saulus, Paulus, warum verfolgst du mich?“ Niedergeschmettert durch die Gnade ruft er aus: „Herr, was willst du, dass ich mache?“ Und Gott wählt ihn aus, um aus ihm ein Gefäß der Erwählung zu machen.

Meine Kinder, ihr seid nicht ohne Zweifel, und ich werde sogar sagen, sicher auch schuldig wie der hl. Paulus. Aber so wie er, habt auch ihr Gott beleidigt. Vertraut euch der göttlichen Gnade an, die in euch wohnt, und wie der hl. Paulus werdet ihr in den Seelen Wunder der Gnade wirken. Wie werdet ihr dieses Amt ausüben? Es wird durch eure Ratschläge, eure Milde, eure Liebe, euren guten Charakter sein. Es dürfen die Mädchen in euch nichts als Heiliges, Frommes, Ernstes sehen. Es gebe in euch einen ernsten, aufrichtig religiösen Grund. Wenn sie sich euch nähren, sollen sie immer von euch den Ernst des Ordenslebens fühlen. Ihr sollt sie in eurer Betrachtung, euren Opfern und Leiden unserem Herrn nennen. Vergesst sie nicht. Hat uns unser Herr am Kreuz vergessen? Oh, nein, Herr, du dachtest nicht an deine Leiden, deine Empfindungen, sondern an uns. Für uns hast du gelitten, hattest du Durst! Und was hatten wir gemacht, um so dein Herz einzunehmen? Wir hatten es nicht verdient.

Oh, wie ist eure Aufgabe doch schön, liebe Kinder! Ich habe weniger Vertrauen zu dem Gebet, das wir für uns sprechen, als zu dem für die anderen: ich habe zu diesem grenzenloses Vertrauen. Wie ist dieses Gebet Gott angenehm! Da kommen zwei Kinder zu ihrer Mutter: das eine verlangt und bittet nur für sich. Ohne Zweifel wird ihm seine Mutter gut sein, denn sie liebt es und wird ihm gewähren, was es verlangt. Aber sie fühlt sich nicht von einem besonderen Gefühl berührt, wie sie es ist, als sie ihre andere Tochter sagen hört: „Meine Mutter, ich bitte dich nichts für mich, aber ich bitte dich, meine Schwester zu beschenken.“

Für uns ist es ebenso, wenn wir unseren Herrn für die anderen bitten. Wie ist dieses Gebet Gott angenehm! Daher erhört er es immer, denn es berührt sein Herz. Im Gebet für die Mädchen, mit denen ihr betraut seid, werdet ihr die guten Ratschläge schöpfen, die ihr ihnen geben werdet. Ihr werdet darin die Kraft, den Mut und das Vertrauen finden, das ihr braucht. Wir sind alle die Kinder unseres himmlischen Vaters. Geht zu ihm, bittet ihn für die anderen, schöpft aus ihm den Rat, die Kraft, die Beständigkeit, den Mut unter den schwierigen Umständen, und der liebe Gott wird bei euch sein.

Meine Kinder, sagt unserem Herrn während er in eurem Herzen gegenwärtig ist: „Oh, mein göttlicher Meister, gib mir die Gnade, die Seelen zu verstehen, wie du sie verstehst, gib mir die Gabe sie zu berühren, und sie mit Liebe zu dir zu erfüllen.“ Oh, seid vernichtet wie unser Herr! Was scheint er zu sein? Er hat nur ein schwaches Aussehen, und dennoch ist er ganz in diesem Brot verborgen. Er schenkt sich euch ganz und sagt zu euch: „Ebenso wie ich dich liebe, sollst du die anderen lieben.“

„Oh Herr, warum diese Vernichtung, warum dieses Martyrium? Oh, lehre es mich!“ – „Meine Liebe zu dir lässt mich in meinem Sakrament der Liebe bleiben und mich so dir schenken!“

„Oh, mein Gott, ich verstehe es, ich muss dich bis zur Vernichtung ganz meiner selbst nachahmen, bis ich nichts mehr bin! Meine völlige Vernichtung muss ich dir schenken, damit ich dich den anderen schenken kann. Das ist mein Wunsch jetzt und in Ewigkeit! Amen“.

D.s.b.