44. Ansprache zur Profess der Patres Peyhaud, Ozanam und Letellier, am 20.12.1895.
Liebe Freunde, immer wenn Gott handelt, geht er ganz verschieden vom menschlichen Geist vor. Davon müsst ihr euch überzeugen, bevor ihr Ordensleute werdet.
Unser Herr kam auf diese Erde in der glorreichsten Epoche der Herrschaft des Kaisers Augustus. Die römischen Adler waren auf der ganzen Linie siegreich, das römische Weltreich hatte die Welt unterworfen. Die römische Herrschaft wurde in Judäa von Menschen dargestellt, die nicht ohne Qualitäten waren. Es gab da gelehrte, einflussreiche, mächtige und reiche darunter.
Und siehe da, in einem verlorenen Winkel, umgeben von Felsen, in einem ärmlichen Stall, der Hirten und Schafen während des Regens und des schlechten Wetters als Unterschlupf diente, mitten in der Nacht und der Finsternis, wird ein kleines Kind geboren. Was stellt dieses Kind schon dar im Angesicht des Weltalls, inmitten so vieler Menschen voll Einfluss und Aktivität? Ein Nichts… Man nimmt keine Notiz davon… Und doch ist es der Erlöser!
Was ist aus dem römischen Weltreich geworden? … Nur Erinnerungen blieben übrig, während das kleine Kind heute überall ist und über Geister und Herzen herrscht.
Sein Werk nennt sich die Kirche.
Das ist das Geheimnis von Weihnachten, das Geheimnis des ganzen Christus. Von menschlichen Mitteln und Hilfsquellen hält er nichts. Allein die göttliche Vollmacht, die durch seine menschliche Schwachheit hindurch aktiv wird, hat alles vollbracht.
Das Geheimnis der Kirche, das Werk des Gottmenschen ist nur eine Folge davon, die Fortsetzung des Mysteriums Jesu Christi. Die Kirche herrscht über die Welt trotz des Fehlens aller menschlichen Machtpositionen und trotz aller Hilfsquellen, die sich gegen sie verbünden.
„Hat aber die Kirche nicht ihre Kraft eingebüßt?“ wendet ihr ein. Sie ist nicht mehr wie im Mittelalter Herrin, trägt keine Siege mehr davon, man gehorcht ihren Gesetzen nicht mehr… Das ist ein tiefer Irrtum, die Kirche ist niemals besiegt worden. Und müsste gegen sämtliche Mächte der Welt kämpfen, gegen alle vereinigten Armeen ihrer Feinde sich zur Wehr setzen, ja wenn sich die ganze Welt gegen sie erheben würde, würde sie in diesem Kampf bestehen, würde ihn glorreich und siegreich gewinnen… Das erleben wir in etwa zur gegenwärtigen Stunde. Und seht ihr heute nicht trotz des Geschreis all ihrer Feinde, wie herrlich ihre moralische Stärke dasteht, die mit keiner anderen zu vergleichen ist? Was sie schafft, bringt sonst niemand zuwege. Was sie sagt, kann sich auch kein anderer erlauben. Die Situation, die sie sich geschaffen hat und die sie in der Welt darstellt, hat ihr niemand auf der Welt verschafft und schuldet sie niemandem. Im Grund ihres Herzens anerkennen Freunde und Feinde ihre Oberhoheit, die Größe ihrer Autorität, die Göttlichkeit ihrer Lehre, ihre Kraft, Gesetz zu erlassen, sowie die Weisheit dieser Gesetze, ihre legitime Macht, Sitten und Verhalten aller Glieder der menschlichen Gesellschaft zu regeln. Die Kirche herrscht, ob erwünscht oder abgelehnt, über die ganze Welt und übt ihre Anziehungskraft über sie aus. Sie behält siegreich ihre Krone, obwohl sie vielleicht niemals solch einem erbitterten Angriff ausgesetzt war. Niemals aber hat sie auch einen schöneren Sieg davongetragen.
Die Kirche verfügt über keine menschlichen Hilfs- und Machtmittel. Doch in ihrer Schwachheit hat sie die Allmacht ihres göttlichen Gründers zu ihrer Verfügung.
Und worin besteht die Kraft und Macht des Ordensstandes? Auch er hat wie die Kirche und unser Herr selbst, dem er sich geweiht hat, das Geheimnis seiner Schwäche wie der Kraft, der Gebrechlichkeit wie der Machtfülle in sich. Der Ordensstand versinnbildet die Kirche, die Gemeinschaft der auserwählten Seelen, stellt die uneingeschränkte Königsherrschaft Jesu Christi in der getreuen Seele und in der Welt dar. Er besitzt die volle Macht über das Herz Gottes und indirekt über das Herz des Menschen. Das ist das sittliche Leben in seiner unbegrenzten Fülle, ist das Licht und die Stärke, eine Macht ohne gleichen. Sicher sitzt er nicht auf seinem Thron noch auf dem kurulischen Sessel der römischen Senatoren und Kaiser, nicht einmal unter den Gelehrten und Wissenschaftler ist sein Platz, noch auch unter den Mächtigen und Berühmten dieser Welt. Einfluss und Macht übt er jedoch nicht weniger über die Welt aus.
Worin besteht aber die Stärke des Ordensstandes?
Darin eben, worin auch die Macht der Kirche besteht. Wir können unseren Vergleich bis zum Ende durchführen. Menschliche Stärke, Geschicklichkeit und Betriebsamkeit, menschliche Hilfsmittel müssen aus dem Ordensstand verschwinden, wie sie es aus der Kirche und Jesus Christus müssen. Kleinheit und Schwäche dagegen, aufgenommen und befruchtet durch die göttliche Allmacht Jesu Christi, werden allein diese Wunder vollbringen.
Welches sind nun die echten Tugenden des Ordensstandes? Tugenden, die den Augen der Welt nicht auffallen. Die die Welt nicht schätzt, weil sie sie nicht sieht und versteht. Es sind keine äußeren und glänzenden Tugenden, wie sie die Welt ehrt und lobt. Dem Weltmenschen fällt es schwer, diese Tugenden sowie das Ordensleben selbst zu begreifen. Ohne eine innere Erleuchtung, auch die Erziehung in unseren Priesterseminarien vermittelt nicht immer das Verständnis klösterlicher Armut, Keuschheit, und des Gehorsams. Mitunter kann man Priester, gute Priester, recht merkwürdige Ansichten darüber äußern hören. Denn in der Welt schätzt man nur, was man sieht und spürt, und was aus natürlichen Hilfsquellen fließt.
Viel zu sehr verlässt man sich auf seine persönliche Aktion, auf die Stärke der natürlichen Hilfsquellen. Von da geht man aus. Gewiss kann der Heiland mit Hilfe der Gnade und der Sakramente unsere natürlichen Mittel und Bemühungen heiligen und sich ihrer zum Besten der Seelen und zu ihrem Nutzen bedienen. Wo bleiben aber die vollen, bleibenden und sicheren Früchte? Nie anderswo als da, wo unsere Aktion wahrhaft und umfassend übernatürlich war.
Von menschlichen Mitteln sollen wir wenig halten. Lernen wir, uns allein auf Jesus Christus zu stützen. Leisten wir ein für allemal Verzicht auf uns selbst. Christi Tugenden seien auch die unseren, lieben wir sie und bitten wir ihn, sie uns einzupflanzen. Die Armut Jesu Christi werde unsere Armut, seine Keuschheit und sein Gehorsam die unseren!
Darin, meine lieben Freunde, liegt unsere Stärke. Darum ist auch das Leid als Verzicht auf uns selbst die erste Bedingung jeden Erfolgs. Und darin liegt das Geheimnis des Ordenslebens begründet. Gott wird genau so viel durch euch handeln, wie ihr euch selbst zu sterben versteht. Je mehr das Menschliche in uns erstirbt und abnimmt, umso mehr erscheint das Göttliche und wächst und wächst. Dann handelt der Mensch nicht mehr aus sich selbst und mit seinen persönlichen und menschlichen Mitteln. Der Herr ist es vielmehr, der alles im Menschen und durch hindurch tut, falls er ihn machen lässt. Nicht mehr zwei sind wir dann, da wir selbst nichts mehr zu sagen haben: Jesus und ich… Wir bilden vielmehr eine Einheit. Möge darum alles in eins verschmelzen, Du, Herr Jesus, und ich. Ich will kein persönliches Existieren und Handeln mehr, ich gebe es auf. Ich überlasse mein Wollen dem Deinen, mein Herz dem Deinen …
„Vivo, iam non ego. Vivit vero in me Christus.“ (Anm.: „Ich lebe zwar, doch eigentlich nicht mehr ich, sondern Christus in mir.“).
Das ist das Geheimnis, meine Freunde, hier liegt die Kraftquelle: so wird in Zukunft das, was der Mensch durch sein Sich-Hineinwerfe in Gott leistet, Jesus Christus vollbringen und vergöttlichen.
Glaubet an dieses große und einzigartige Mittel unseres Ordenslebens! Nicht wir handeln, sprechen und predigen mehr, nicht mehr wir geben Unterricht, halten Aufsicht oder arbeiten körperlich… Unklug und unwissend handelt der, der solchen Reichtum in Händen hält und ihn nicht zu nutzen versteht. Ein Tor, wer seinen eigenen Willen nicht im Gehorsam abdanken lässt. Ein Ignorant, der etwas von seiner Eigenliebe und seinem persönlichen Wollen zurückbehält.
„Aber Herr Pater, so ein Leben ist reichlich schwer…“ Doch nicht. Mutig alles nehmen, was wir da aufgezählt haben, und es in Gott hinein-versenken, ist Macht, Allmacht, ist Sieg, ist Leben im Licht, Leben in Schönheit, Leben in Frieden und Glück. Es ist, um es noch einmal zu sagen, das Geheimnis des Ordenslebens. Ihr müsst dies begreifen, ihr müsst euch darüber klar werden. Denn ich werde diese Wahrheit noch sehr oft wiederholen, so Gott mir die Gnade erweist, dass ich noch eine Weile unter euch lebe… Lasst alles los, was ihr habt und was ihr seid, um es in die Hände Gottes zu geben.
Was ich da vortrage, entspricht haargenau der Theologie. Ich rede hier wie der hl. Johannes, wie der hl. Paulus, wie der göttliche Heiland selber. Und ich bin überzeugt, diese Worte, die ich Ihm da nachspreche, verdienen euren Glauben, euer Vertrauen und euer Leben…
Möge diese Wahrheit, meine Freunde, euch ganz und gar durchdringen, mögt ihr die ganze Tragweite und ihren Wert erfassen. Es ist die komplette Abdankung unseres Ichs, um seine ganze Handhabung Gott zu übergeben. Es ist das Erlöschen des Eigentumsrechts über uns selbst zugunsten Gottes.
Ihr versteht von da her die Größe und Gnade des Ordensberufes, seine Heiligkeit, seinen Einfluss und seine Macht in all den kleinen Dingen, aus denen sich unser Ordensleben zusammensetzt. Ich wundere mich nicht im Geringsten über das, was im Leben der hl. Theresia zu finden ist. Eines Tages las die Heilige in der Küche eine Linse auf, die zur Erde gefallen war. Eine Nonne sah es und wunderte sich: „Aber, meine Mutter, was machen Sie da?“ – „Was ich da mache? Ich lese die göttliche Allmacht auf…“ Diese Worte drücken eine große Wahrheit aus. In einer Linse, in einem Korn steckt die Allmacht Gottes… Das heißt es zu begreifen. Hüllt eure Seelen darin ein wie in einen Mantel, sodass euch dieser Gedanke nie mehr verlässt. Er sollte euch vielmehr ganz und gar durchdringen. In jedem Augenblick sei er euch gegenwärtig, bei jedem Schlag eures Herzens lebe er in euch… Denn das heißt Ordensleben.
Welche Treue verlangt das aber von uns, welches Glück und welche Ehre liegt aber auch in dieser Treue! … Was sind wir denn schon? Ein Nichts. Wir verschwinden. Aber durch all das schaffen wir schon am Werk Gottes. Gott ist es, der da handelt, der an unserer statt spricht, er, und nicht wir…
Wenn man dem Ordensstand und den Ordensgemeinschaften den Vorwurf macht, zu viel Gewicht unbedeutenden Dingen beizumessen, sich bei Nichtigkeiten aufzuhalten, täuscht man sich sehr. Wir arbeiten vielmehr mit Gott zusammen, sind also seine Mitarbeiter, unser Werken bekommt so einen göttlichen Charakter.
„Dominus adest et vocat te“ (Anm.: „Der Herr ist da und er ruft dich“), sagte Marta zu ihrer Schwester Magdalena. Das trifft auf jede Handlung, auf jeden Augenblick unseres Ordenslebens zu: Jesus ist da und ruft uns. Begreift diesen ununterbrochenen Ruf des göttlichen Meisters in den kleinen Dingen wie in den großen. „Surge, propera.“ (Anm.: „Steh auf und eile [Dich].“). Das heißt es erfassen und überall verwirklichen, in der Seelsorge, im Unterricht und in der Aufsicht, in den so häufigen Bitterkeiten des Umgangs mit den Schülern wie mit den Weltleuten, die uns nicht wohlgesinnt sind, bei jeder Übung der hl. Regel und des Gehorsams. Geht zu Jesus und vergesst euch selbst! Dann findet ihr Ihn, er wird euer Gebet anhören und er wird auf eure Stimme hin selbst Tote erwecken, wie er den Lazarus erweckt hat.
Einen großen Schritt unternehmt ihr somit diesen Abend, meine lieben Freunde. Und morgen früh lädt euch die hl. Kirche ihrerseits ein, die ersten Stufen zum Heiligtum zu ersteigen, indem ihr die ersten (d.h., die niederen) Weihen empfangt (Anm.: „Vor dem zweiten vatikanischen Konzil gab es mehr ‚Weihestufen‘. Die ‚Niedere Weihe‘ entspricht heute, d.h., nach dem zweiten vatikanischen Konzil der Beauftragung zum Lektorendienst und zum Akolythendienst.“)… Auch da findet ihr den Erlöser und versteht besser, was seine Nachfolge bedeutet. Versteht besser das Eins-Werden des Heilands mit uns. Denn das Priestertum vervollständigt das Ordensleben. Als Priester seid ihr dann in Wahrheit das göttliche Wort auf Erden, das Mensch unter Menschen geworden ist.
Mit seinen Vollmachten ausgerüstet, vollzieht ihr die Erlösung der Seelen… Und auch hier gilt: Je mehr ihr euch euer selbst entkleidet und absterbt, umso wirksamer wird Jesus in euch zum Heil der Seelen tätig werden.
Nehmt das Pontifikale zur Hand und lest nach, was euch morgen bei der Weihe gesagt wird, die Ermahnungen und Gebete des Bischofs, der eure ersten Versprechen empfängt und euch die ersten Vollmachten erteilt, die Erstlingsfrüchte des Priestertums. Denn von hier nimmt alles seinen Anfang. Das Geheimnis des Priestertums ist dasselbe wie das des Ordensstandes, der Kirche und Jesu Christi. Je weniger sich vom Menschen darin findet, umso mehr kommt von Gott. Je weniger unser Arbeiten menschlich ist, umso göttlicher wird es… Studiert diese Wahrheit und lasst sie in euch eingehen, ihr müsst davon ganz durchtränkt sein: „Sacerdotium sanctum.“ (Anm.: „Ein heiligmäßiges Priestertum.“).
Wie schön doch ist, die Berufung des Priesters, wie groß und erhebend! …
Bedenkt nur, meine geliebten Freunde, wie sehr Gott euch überhäuft mit Gnaden. Er gibt euch Licht, Macht und fruchtbare Aktion. Er teilt mit euch. Er entblößt sich sozusagen euretwillen. Er verbirgt sich, wie das Hohe Lied sagt, hinter der Mauer: „Post parietem, respiciens per fenestras, prospiciens per cancellos“, also hinter der Wand, indem er durch die Fenster späht, durch Fenstergitter schaut. Er schaut uns an, er ist da, man sieht ihn aber nicht. Durch unser Tun und unsere Tugenden bezeugen wir ihn aber. Betrachtet diese Wahrheit, bittet den Hl. Geist, euch mit diesem göttlichen Geheimnis, der göttlichen Liebe, zu erfüllen und darin einzuhüllen.
O meine Freunde, welch schöner Hochgesang, das Leben eines Priesters und eines Ordensmannes! Welch erbauliches Leben, welch wahrhaft göttliches Dasein!... Gott wird mit euch sein, wird euch durchdringen, wird sich euer bedienen als seiner Offenbarung nach außen. Und noch einmal, sucht diese Wahrheit tief zu ergründen! Wir wollen für euch beten, dass die Gnade dieses Abends und die Gnade des morgigen Tages euch helfe, die Übergabe eures Lebens ungeschmälert vorzunehmen. Beginnt damit, ja frisch ans Werk! Die Gute Mutter pflegte zu sagen: „Wir müssen nur ein wenig beginnen, der Erlöser aber gibt die Vollendung…“ Amen.
