Ansprachen

      

29.  Ansprache zur Profess des P. Vautrin am 17.05.1892.
- Das Evangelium mithilfe des Direktoriums neu herausgegeben. -

Jedes Mal, wenn die Kirche einen neuen Orden billigt, wird er von den besonderen Umständen gefordert. Jede neue Epoche der Weltgeschichte braucht ein Mittel, um die Einzelmenschen zu bewahren und zu heiligen. Gott erweckt in den verschiedenen Zeitabschnitten verschiedene religiöse Orden und gibt jedem ein besonderes Ziel, das bis dahin weder verwirklicht noch versucht worden ist. Fasst man die Oblaten ins Auge, fragt man sich gern: Warum wurden sie ins Leben gerufen? Sucht in ihren Werken, ob sich darin etwas findet, was bis dahin noch nicht in Angriff genommen wurde. Betrachtet man nun, was wir tun, so entdeckt man darin nichts Neues.

Ist es die Erziehung? Eine große Zahl von Orden gibt sich mit ihr ab. Sind es die Missionen? Missionsorden gibt es viele. Ist es die Seelenführung? Das tut vor allem der Weltklerus. Warum also etwas Neues gründen, wenn nichts Neues und Ungewöhnliches in Erscheinung tritt? Um darauf eine Antwort zu geben, müssen wir uns auf ein Gebiet begeben, das nicht äußerlich zu sehen ist und nicht von jedermann mit den Händen zu greifen ist. Welches ist nun dieses geheime Mysterium? Ihr werdet mich gleich verstehen.

Jeder religiöse Orden wurde in einer Zeit geboren, wo er den gerade existierenden Bedürfnissen abzuhelfen hatte. Der hl. Dominikus wie der hl. Franz v. Assisi wurden in eine unwissende und ungehobelte Welt gesandt, zu rohen und verweltlichen Menschen mit heftigen und gehässigen Leidenschaften. Diese großen Übel erheischten eine besondere Arznei. Der hl. Dominikus brachte Licht und Helligkeit. Seine Mutter sah in einem Traumgesicht, dass das Kind, das sie gebären sollte, mit der Fackel des Lichtes, des Glaubens und der Offenbarungswahrheit durcheilen werde. Der hl. Franz v. Assisi kommt mit hinreichendem Wissen. Doch Feuerflammen und Liebesgluten entsteigen seinem Herzen und brennen hellauf. Verkündet er doch den Zeitgenossen, anderes zu lieben als die körperlichen und materiellen Dinge und Lustbarkeiten. Die Geheimnisse der Liebe Gottes, die er den Menschen nahebringt, richten sich nach anderen Zielen als nach materiellen.

Der hl. Ignatius von Loyola ist die Sonne der Kirche in den Zeiten der Irrlehre, des Zweifels und der Finsternis. Er gründet einen Orden, der den vom Protestantismus verursachten Abfällen ein Ende setzt. Seine Söhne streben nach Studium und Wissenschaft, um den Verheerungen des Zweifels zuvorzukommen.

Was braucht aber unsere gegenwärtige Zeit? Warum anders wünschen als das bereits Vorhandene? Unsere Gesellschaft gleicht nicht mehr der des hl. Franziskus und des hl. Ignatius… Da es eine christliche Gesellschaft nicht mehr gibt, unsere Familien nicht mehr christlich geprägt sind und keine Regierung das Christentum mehr garantiert, auch sonst keine Einrichtung darüber wacht, was tut da unserer Gesellschaft not?

Welche Hilfe braucht sie? Soll man, um die Welt zu erneuern, großen Eifer und reiche Aktivität entfalten, eine große Zahl von Kämpfern heranbilden, um die Schlachten Gottes zu schlagen? Wer soll es tun? Welchen Erfolg kann man sich davon versprechen? Wer soll sich an die Spitze stellen? Niemand bringt den Mut dafür auf. Jedermann spürt das dringende Bedürfnis, und doch zeigt sich niemand, die Führung zu übernehmen. Es bedürfte, man spürt es, tiefgreifender Veränderungen und einer allgemeinen Erneuerungsbewegung. Doch letztere, die sich nicht mehr bloß auf Einzelmenschen stützt, ist gleich Null und fast nutzlos. Was ist da zu tun?

Das, was die Gute Mutter gesagt hat: das Evangelium neu drucken, neu herausgeben. Wie das denn? Nun, es ist zwar immer das gleiche Evangelium, es gibt nur eins. Man kann es aber der großen Zahlen der Seelen in einem anderen Gewand vorstellen. Christus muss selber an der Spitze dieses Neubeginns stehen. Hören wir, was er den Aposteln sagte: Gehet hin und lehret!

Was stellt denn das Christentum am Anfang vor? In den sozialen Belangen? Noch dreihundert Jahre nach den Verfolgungen vermochte es nicht, in die Führungspositionen der Gesellschaften einzudringen. Welche großen Werke brachte das Christentum hervor? Wir stellen fast nur das eine fest: die christliche Familie. Im 6. Jahrhundert herrschte in Troyes noch Heidentum. In der Umgebung der hl. Jungfrau Maura war ein Teil des Marktfleckens Troyes noch heidnisch. Was war da zu tun? Einen Bewohner von Troyes nach dem anderen nehmen und ihm das Evangelium predigen. Das tun, was unser Herr getan hatte: Er hat keine Bücher gedruckt, hat weder an Herodes, noch an Kaiser Tiberius geschrieben, um eine Armee zu bekommen. Auch hat er keine große Zahl von Proselyten wollte er haben, um eine soziale Aktion zu starten. Die Freimaurer werfen Christus vor, er habe nichts Soziales geschaffen… Das Evangelium sagt kein einziges Wort zur sozialen Frage. Es wendet sich an die Einzelwesen. Jesus ruft beim Namen den Petrus, den Andreas usw… Er wirkt auf diese und jene Seele ein. Seine Aktion ist vor allem persönlich, während er seine 72 Jünger ausschickt, die Massen anzusprechen.

Als die Gute Mutter in ihren Ansprachen sagte, das Evangelium müsse neu aufgelegt werden, sprach sie auf eine höchst abgeklärte und treffende Weise. Das Evangelium heißt es nämlich verwirklichen mit den Mitteln, die unser Herr anwandte. Die Seelen müssen aus der Frohen Botschaft Nutzen ziehen, wie unser Herr es gehandhabt hat. Unsere Methode ist die seine, und die hl. Kirche macht es nicht anders. Das Evangelium ist für alle da. Eine Seele nach der anderen heißt es zum Evangelium führen. Die Gute Mutter will, dass wir die Lehre unseres Herrn verwerten. Damit unsere Aktion zu der seinigen werde. Sie will, dass wir unsere Füße in die Fußspuren unseres Herrn setzen. Zur Durchführung bedienen wir uns der gewöhnlichen Mittel. Sollen wir aber nicht auch besondere hinzufügen? Gewiss…

Welche denn? Ich sage es euch ganz laut und deutlich: das Direktorium! Das Direktorium, gelebt von euch wie von denen, die ihr leitet, gelebt auch von der ganzen Gesellschaft, in deren Mitte sich euer Einfluss abspielt.

Damit will ich nicht sagen, das müsse auf Grund einer allgemeingültigen Regel und durch eine im Voraus festgelegte Gesetzgebung geschehen, die der Hl. Geist über die Menschen haucht, um sie zu bekehren…

Wo sollen wir in der gegenwärtigen Stunde Menschen finden, die in Massen zusammenströmen, um zu beten, und große Dinge in Angriff zu nehmen? Es ist fast unmöglich, außerhalb des Ordenstandes ein kollektives religiöses Leben zu führen. Die Kirche folgt seit ihrem Beginn zwangsläufig dem Ablauf der Welt, sucht ihren Weg durch Klippen, Bewegungen, Kämpfe und Schicksalsschläge hindurch. Sie hat die industrielle Bewegung mit ihrem wilden Durcheinander und ihren zahlreichen Arbeitern und Angestellten, Untergeordneten und Abhängigen von der und der Verwaltung über sich ergehen lassen müssen… Es gibt kein persönliches Denken und keine persönliche Kunst mehr darin… Was könnt ihr schon damit anfangen? Die Menschen können kaum noch Zeugnis ablegen von persönlichen Gefühlen, Gedanken und Überzeugungen.

Die Kirche widersetzt sich nicht der Industrialisierung, der Zivilisation, der Elektrizität, der Dampfkraft, der Eisenbahn. Sie leiht sogar, wenn sie Nutzen darin sieht, ihren hilfreichen Arm dazu. Wir sind mit ihr zusammen bloß gezwungen, ein ewiges Schwanken und Wanken überall festzustellen, bis in die Zufälligkeiten des Lebens und vor allem ins Vermögen hinein. Da steht irgendwo ein vollkommen eingerichtetes Haus, das seit vielen Jahren über große Güter verfügt. Über Nacht kommt ein unglücklicher Bankkrach, und das ganze Vermögen ist morgen dahin. Anstelle des Glanzes der Ruin. Anstelle der Üppigkeit das Elend. Die jungen Leute müssen hierhin und dorthin gehen, die Familie löst sich auf und zerstreut sich in alle Winde… Der Einzelmensch lebt getrennt von den anderen, überall ein Konglomerat isolierter Menschen. Und doch müssen die Seelen inmitten dieser Ruinen und Traurigkeiten gerettet werden. Und glücklicherweise gibt es solch eine Rettung: Das Evangelium kann retten und bringt all diesen verlorenen Existenzen die Worte der Liebe, des Lebens und des Glückes: „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Friede den Menschen seiner Huld.“ Alle Menschen haben ein Anrecht auf Glück…

Wie ihnen aber dieses Glück verschaffen? Nicht alle können Ordensleute werden. Nicht jeder kann frühmorgens schon aufstehen, studieren und andere trösten… Dafür fehlt schon die Zeit. Und doch müssen die Seelen Rettung finden.

Ihr könnt sie retten, indem ihr das Evangelium neu herausgebt in ihren Herzen. Zu diesem Zweck heißt es, das Evangelium unter einen anderen unter einen anderen Gesichtspunkt stellen, damit es jede Seele und jeden Verstand erreichen kann, damit diese von der frohen Kunde durchdrungen und erleuchtet werden. Die frohe Botschaft muss die Seele anrühren, das Brot der Tröstung, das Brot der Hoffnung von jeder Seele aufgenommen werden können.

Tragt darum zu jeder Seele, mit der ihr in Kontakt steht, die frohe Botschaft, einer Seele nach der anderen, Wort für Wort dieser Kunde, so wie es der hl. Paulus, der hl. Franz v. Sales, die Gute Mutter uns vorgemacht haben. Ihr werdet feststellen, dass das Direktorium und seine Übung die wirksamste Kunst ist, das Evangelium an die Seelen heranzutragen. Predigt darum das Evangelium mit Hilfe des Direktoriums: Gegenwart Gottes, Gute Meinung, Liebe der Vereinigung und Wiedervereinigung unseres Willens mit dem Willen Gottes… Möchten doch alle Ordensleute das Direktorium praktizieren. Dass dies Kern und Stern ihres Lebens sei! Das Direktorium ist nichts anderes als das Evangelium in Aktion, als gelebtes Evangelium. Es ist keine bloß fromme Andachtsübung, sondern ein kompletter Lebensinhalt, bis ins Mark hinein christlich. Praktiziert es darum, es ist ja das Leben selbst. Es ist wie der Pulsschlag eines Christen, wie der Atem seines Herzens.

Mag in Kalifornien oder im Bergwerk man leben, wo der Bergmann mühsam und unter großen Schwierigkeiten Kohle gräbt: überall kann man sein Direktorium leben und seine Seele retten. Allüberall, im öffentlichen Leben, in Handel und Industrie kann man mit Hilfe des Direktoriums und im Geist der Buße seine Mühsale annehmen. Gott wird dann in uns leben und wirken.

Ein Lokomotivheizer muss ebenfalls seine Seele retten. Das so verstandene und angewandte Evangelium wird die Seele retten. Der durch das Direktorium innerliche Oblate des hl. Franz v. Sales wird Menschen kennen und lieben lernen und von Gott die Gabe erhalten, ihnen dieses innere Leben weiterzugeben. Geht es da um einen unbedeutenden Seelsorgedienst, ein gleichgültiges Seelsorgewerk? Nein, sondern um das Werk der Werke!

Das Direktorium des hl. Franz v. Sales sollte aber nicht nur von Ordensleuten geübt werden, sondern auch von den Priestern, ja von allen Christen. Denn jeder Mensch auf dieser Erde kann es praktizieren. Es gibt keine dermaßen ausgefüllte und zerstreuende Lebensweise, dass man den Gedanken an Gott, das Sich-Ausruhen in Gott nicht damit verbinden könnte. In Gott leben schafft eine Atmosphäre, wo jedermann atmen kann, sagt der hl. Stifter, ein Ruhebett, auf dem jede müde Seele ausruhen und neue Kräfte schöpfen kann.

Ihr versteht, meine Freunde, wir können nicht auf das Direktorium verzichten. Der Mensch kann ohne Glück nicht leben, und Glück ist die absolut notwendige Folge des Evangeliums. Die Frohbotschaft muss aber Eigentum einer jeden Seele werden. In der Stunde, in der wir leben, kann dies schwerlich anders geschehen als durch das Mittel unseres Direktoriums. Jedenfalls geschieht es sicher und schnell durch dieses Hilfsmittel. So wie die Christen zur Zeit der Christenverfolgung auf ihrem Herzen die hl. Hostie trugen, um sich (gegenseitig) die hl. Kommunion zu spenden, so brauchen wir heutzutage unseren geheimen Tabernakel und unsere Hostie… Ziehen wir Gott in die innerste Mitte unseres Herzens. Man kann ihn nicht bloß äußerlich aufkleben und zur Schau stellen.  In unserem Herzen muss er leben und von unserer ganzen Liebe eingehüllt sein. So sollt ihr den Gläubigen die hl. Kommunion reichen. Inmitten der Feuer der Verfolgungen und Trübsale, inmitten zahlloser zerstreuender Beschäftigungen, die die Seele vom Gedanken an Gott abziehen, sollt ihr Jesus als Stütze und Schutz denen geben, die zu euch kommen.

Begreift darum wohl, was ihr geben sollt! Was denn? Der eucharistische Gott ist nicht bloß auf dem Altar gegenwärtig, sondern auch in euren Herzen, meine Freunde. Seid das, was das Direktorium von euch im Herzen verlangt! Gott ist da gegenwärtig als euer Besitz und so sollt ihr ihn weiterreichen. Ihr seid Priester, Konsekratoren, Subdiakone: so verwandelt und konsekriert euer ganzes Leben und lasst Gott in eure Seelen niedersteigen! Dann tragt ihr Jesus in euch und reicht ihn den Christen.

Das ist unsere Sendung, und nichts anderes. Ihr tut dann zwar dasselbe wie alle anderen: haltet Predigten, Missionen, betreibt Seelsorge und tut alles Übrige. Ihr vergesst aber gleichzeitig nie, dass ihr im hl. Messopfer nicht nur die hl. Hostie aufopfert, sondern zusätzlich noch was anderes, euch selbst, und zwar ohne Vorbehalt.

In der Mission erleben wir arge Heimsuchungen: in jener undankbaren und dürren Erde Afrikas sowie in jenem Land voll Ruinen, Vulkanen und Abgründen, das Ecuador heißt. Was befähigt denn unsere Missionare, Patres und Schwestern dazu, Erfolg zu haben? Nicht ihre Predigten sind es, sondern weil sie das Direktorium üben. Gott bringen sie den Seelen, und Gott verleiht ihnen das Vermögen, sich den Seelen, und verleiht ihnen das Vermögen, sich den Seelen auf eine ganz spezielle Weise hinzugeben. Und die Seelen spüren das und verstehen sie.

So fasst denn, meine Freunde, den festen Entschluss, das zu sein, was ihr sein sollt: Wenn wir schon Oblaten des hl. Franz v. Sales sind und Kinder der Guten Mutter, dann müssen wir das Evangelium verkündigen und leben, müssen wir es neu herausgeben. Da helfen uns keine Ausreden und keine Winkelzüge. Da helfen uns keine Ausreden und keine Winkelzüge. Da heißt es sich mit ungeteiltem Willen und ganzem Herzen und Sein hinzugeben!

So macht euch ans Werk! Lebt und handelt nur noch für das Evangelium: „Ein einziges Evangelium.“ Solch ein ganzheitliches und komplettes Leben wird euch unsagbare Gnaden herabziehen. Und diese Gnaden könnt ihr dann austeilen an eure Umgebung. Man wird euch verstehen und alle werden euch unter diesen Bedingungen folgen. Da gibt es keine Schwierigkeiten im Äußeren und keine Widerstände im Inneren. Alles wird euch gelingen. So tretet denn vor und legt eure Gelübde ab! Gott aber wird euer Helfer sein, wenn eure Blicke auf den Erlöser geheftet bleiben. Folgt dem göttlichen Meister überallhin, wo er euch hingehen heißt, auf dem See Genezareth, überall, wo ihr predigen und gehorchen müsst. Verlasst nie seine Spur, er wird euch vorangehen zum Kalvarienberg, bis er euch, nachdem ihr ihm auf Erden treue Gefolgschaft geleistet habt, zur Mitherrschaft im Himmel führen wird.