09. Ansprache zu Foicy am Fest der hl. Radegundis am 13.08.1886
Meine lieben Kinder, das Fest der hl. Radegundis vereinigt uns in diesem Augenblick in unserer kleinen Kapelle. Diese Heilige wurde einst in Foicy außerordentlich verehrt. Die Reliquien, die in der Kirche von St. Parres verehrt werden, kommen von Foicy, so wie alle anderen kostbaren Reliquien dieses Heiligtums, das daran so reich ist.
Vor der französischen Revolution existierte eine viel besuchte Pilgerfahrt zur hl. Radegundis. Und ich glaube, es war gegen 1765, dass die Nonnen von Foicy das Gelände erwarben, auf dem die Quelle fließt, die man „Radegundisquelle“ nennt. Das Kloster erstreckte sich nicht über den Graben hinaus, den ihr kennt und der den Nonnen nicht gehörte. Diese gute Schwestern waren nicht reich und brachten ein schweres Opfer, um diese Quelle zu erwerben. Dafür versetzten sie ihre Klostermauer sogar weiter hinaus.
Ich erinnere mich, dass ich von den Seminaristen von St. Parres, von Baires und Villechetif oft über die hl. Radegundis reden hörte. Besonders tat das Herr Roizard, der damals Pfarrer von St. Peter war, und gleichzeitig unser Direktor. Er erzählte uns, man fände unmöglich einen ähnlich tiefen Glauben wie bei den Leuten von St. Parres, Baires und Villechetif einstmals. Und dieser Glaube zeige sich im Besonderen in einer allerhöchsten Ehrfurcht und ungewöhnlichen Verehrung der hl. Radegundis. Man hat das Andenken dieser Heiligen gerettet und über die Stürme der französischen Revolution hinweg bewahrt. Das Kreuz, das auf halbem Weg zwischen der Kirche und dem Ort steht, wo nach der Tradition der hl. Parres enthauptet wurde, trägt den Namen der Heiligen. Nach der Überlieferung soll der hl. Parres neben der Straße beim Betreten dieses Landstrichs, als er von Troyes kam, enthauptet worden sein. Ein Kreuz aus Eisen erhebt sich zwischen den Bäumen an dem Platz und trägt die Inschrift: Hier wurde der hl. Parres Martyrer, und die Legende fügt hinzu, dass der hl. Blutzeuge seinen Kopf in die Hände nahm und bis zum Ort der heutigen Kirche ging. Auf halbem Weg aber blieb er stehen, und an dieser Stelle richtete man das Kreuz auf, das heute noch „Kreuz der hl. Radegundis“ heißt. Diese Tradition ist ehrwürdig, die Frömmigkeit unserer Vorfahren hat sich daran erwärmt und Gott hat sichtbar ihren Glauben gesegnet, so dass wir gut daran tun, uns selber vor ihr zu beugen. Falsches kann ja nichts Gutes hervorbringen.
Die Andacht der hl. Radegundis unterhielt im Volk die Gewohnheit des Glaubens und der Frömmigkeit und hinterließ ihm, wie bereits erwähnt, wunderbare Anlagen christlicher Gewissenhaftigkeit. Ich bin glücklich, meine Kinder, euch heute ein Wörtchen über diese Heilige sagen zu können. Es ist gewiss seit hundert Jahren das erste Mal, dass man von ihr an diesem Ort Foicy spricht, wo sie viele Jahrhunderte hindurch sosehr verehrt wurde. Wir vereinigen uns, um uns unter ihren ganz besonderen Schutz zu stellen.
Ja, wir stehen hier auf heiligem Boden…
Warum fand diese Heilige hier so große Verehrung? Ich kenne den Grund nicht. Die Äbtissinnen von Fontevrault stammten meist aus königlichem Blut. Liegt hierin der Grund, dass diese Heilige, die Königin von Frankreich war, hier so hoch verehrt wurde? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall wurde Foicy für sie ein Ort besonderer Zuneigung, eine gesegnete Stätte, wo zahlreiche Wunder, Heilungen und übernatürliche Gunsterweise geschahen. Ich hörte davon mehr als einmal in meiner Kindheit reden. Die Gnaden, die sie hier vermittelte, waren vielgestaltig, sowohl im natürlichen wie im übernatürlichen Bereich.
Wir weilen hier somit in ihrem eigenen Haus. Und vielleicht sind wir die einzigen, die heute, wenigstens an diesem Ort, der ihr so teuer ist, daran denken, sie anzurufen. Wir fragen sie, ob sie heutzutage weniger Macht hat als früher… Hört ihr nicht ihre Antwort, dass ihr Herz nicht erkaltet ist und dass sie mit Augen der Liebe sieht, wie die Ruinen der alten Abtei zu neuem Leben erstehen. So wie die Ruinen von Jerusalem wieder erstanden sind. Sie schrien zum Herrn empor, sagt der Prophet und seine Segnungen sind herabgekommen…
Wir rufen ihr nach langen Jahren der Stille zu: Wir sind deine Kinder. Wir wohnen in deinem Haus: Beschütze uns! Wir kommen nach langen Heimsuchungen inmitten großer Schwierigkeiten „seufzend und weinend“. In unseren Augen steigen Tränen, wenn wir sehen, wie ausgetrocknet und dürr unsere Erde ist: Denk an uns und zeig uns deine Liebe!
Rufen wir sie also an, meine Freunde!
Gott übergibt jedem und jeder Heiligen im Himmel besondere Gnaden, über die jeder von ihnen frei verfügen kann. Gott ist unbegrenzt in seinen Gunsterweisen und will nicht, dass seine Heiligen leere Hände haben und nichts anzubieten haben. Darum übergibt er ihnen Gnaden zur Verwaltung. Das sind ihre Mitgift und ihr Vermögen. Und diese Gunsterweise verteilen sie allein. Das ist der Gedanke der Kirche. Sie ruft jeden und jede Heilige an und erbittet von ihm und ihr eine Sondergnade, eine ganz bestimmte und klar umrissene Hilfe.
Die hl. Radegundis wurde für die Krankheiten des Leibes wie der Seele angerufen, in allen Beschwerden der Gesundheit, aber auch um Stärkung des Glaubens und der Hochherzigkeit. Die hl. Radegundis hat lange gelitten, als junges Mädchen und als Frau, da sie gegen den Willen mit einem brutalen und groben Gatten verehelicht wurde. Kraft ihrer Willensstärke und ihrer Tugend wurde sie eine heilige Gottesfrau, Gründerin und Stifterin zahlreicher Werke. Zu Poitiers hatte sie einen ganzen Bienenschwarm von jungen Töchtern, die sie um sich scharte, um sie zur Frömmigkeit zu führen. Heute vollbringen unsere Oblatinnen in einer Zeit, die der der hl. Radegundis gleicht, dieses schöne Werk (fort). Bestechlichkeit und Verderbtheit herrschen ja heute wie zur Zeit des Königs Clotar. Das war ein Jahrhundert des Materialismus wie das unsere. Auch eine Zeit der Unwissenheit. Wissenschaft besteht ja nicht darin, festzustellen, dass Zwei mal Zwei Vier sind, dass die und die chemische Wirkung durch Vereinigung von dem und dem Körper entsteht. Gewiss ist das Wissen darum schon etwas. Erhebt sich die Wissenschaft aber nicht höher als das, dann ist sie borniert. Jene, die bei den engen Grenzen des materiellen und sinnenhaften Lebens stehen bleibt, kann nicht die wahre Wissenschaft sein, die echte, die fruchtbringende. Es gibt ein höheres Leben als das erdgebundene. Wenn letzteres sich auflöst, löst der Mensch sich noch lange nicht mit auf. Er verduftet im All nicht wie Gas oder Dampf.
„Glaube ist Substanz zu erhoffender Dinge, Veranschaulichung nicht offenbarer Dinge.“ Glaube ist also die Substanz, das Übrige ist Akzidenz. Das ist darum auch unsere wahre Wissenschaft. Darum behaupte ich, dass in unserem Jahrhundert die Unwissenheit ebenso groß ist wie in jenem barbarischen Jahrhundert. Sie ist tief und scheint unheilbar. Da erscheint die hl. Radegundis wie ein Engel des Lichtes, der Reinheit und des Friedens in dieser halbwilden Nation. Möge sie auch heute wieder zu uns kommen, um in unserem Geist ihren Glauben, und in unseren Herzen ihren brennenden Eifer zu legen.
Die Heilige erhielt eines Tages eine Reliquie des wahren Kreuzes Christi und hielt sie in großen Ehren. Sie machte sie in der Stadt Poitiers, in der ganzen Gegend und in ganz Frankreich zu einem Gegenstand höchster Verehrung. Pilgerwallfahrten formierten sich, Heiligtümer erhoben sich zu Ehren des hl. Kreuzes. Der Hymnus „Des Königs Banner…“ des Dichters Fortunatus, so begeistert wie er ist, besingt den Sieg und die Glaubenslehren des hl. Kreuzes. Denn die hl. Radegundis hatte einen Glauben, der zur Tat drängt, der aus Gott lebt, und mit ihm bei allen Werken zusammenarbeitet.
Rufen wir sie darum gern an! Ist sie doch in Wahrheit unsere Schutzherrin. Wir verehren sie als die zweite Schutzpatronin von Foicy, nach dem hl. Savinianus und dem hl. Parres. Diese Heilige passt zu uns, wir brauchen sie. Wir sind die einzigen, die sie anrufen, wenigstens hier, ich spreche nicht von Poitiers. Wir sind die einzigen, die zu ihr sagen: Das ist dein Haus, erkenne deine Kinder und gib ihnen den Teil der Erbschaft, den du für sie aufbewahrst. Hl. Radegundis, gib uns, was wir brauchen für uns selbst. Gib uns aber auch, was wir brauchen für die Seelen, die man uns anvertraut hat oder noch anvertrauen wird. Amen.
