Exerzitienvorträge 1897 (September)

      

1. Vortrag: Exerzitien.

Exerzitien sind immer eine wichtige Sache, nicht bloß für uns, sondern auch für alle jene, die um uns sind oder mit uns in irgendeiner Beziehung stehen. Vergessen wir nicht, dass sie an den Gnaden Anteil haben, die wir selbst empfangen. Halten wir unsere Exerzitien also nicht bloß für uns. Erweitern wir unsere Intentionen und dehnen wir unser Aktionsfeld aus.

Ihr seid Oblaten des hl. Franz v. Sales, habt ein salesianisches Lehrgut, eine Ordensregel, habt Satzungen und ein Direktorium. All das kommt von Gott und ist approbiert von der hl. Kirche. Wo stehen wir mit diesen Verpflichtungen, die für uns lebenswichtig sind? Wird jede unsere Handlungen, die wir aufgrund unserer Hilfsmittel, die uns zur Verfügung stehen, vollbringen, zu einem übernatürlichen und göttlichen Akt? „Participes enim Christi simus.“ (Anm.: „Mögen wir teilhaben an Christus!“) „Aber, Herr Pater, während der Exerzitien sollten Sie uns viel einfachere Dinge predigen…“ Nein, das tu ich nicht, weil ich verpflichtet bin, euch gerade die Dinge zu sagen, die ich euch da vortrage.

Nehmt nur das Dekret der Eröffnung des Seligsprechungsprozesses der Guten Mutter her. Was sagt es? Wenn das, was es zum Ausdruck bringt, nicht unser Programm ist, taugen wir zu nichts. Dann sind nicht wir das Werk, das Rom durch uns aufrichten will, das die Kirche segnen und approbieren will. Wir sind sozusagen Taufwasser, das wir außerhalb der Taufbedingungen gebrauchen wollen. Glaubt ihr denn, Gott hätte der Guten Mutter so viele Gnaden erwiesen, wenn ihr anders vorgeht, als ich euch hier nahelege? Würde die Kirche sich denn so beeilen, den Seligsprechungsprozess zu eröffnen, ihre Schriften zu billigen, ihre Worte und Werke zu belobigen? Oder sind nicht wir der Grund dafür, dass dieser Prozess eröffnet wird? Als wir um diesen Prozess der Seligsprechung baten, sagte man uns: Aber es gibt doch bereits zwei Heimsuchungsschwestern, deren Prozess anhängig ist: Die gottselige Margareta Maria und die ehrwürdige Anna-Magdalena Remusat. Einen dritten können wir nicht annehmen… Darauf haben wir die Gute Mutter nicht mehr als Schwester der Heimsuchung präsentiert, sondern als Gründerin der Oblaten des hl. Franz v. Sales, und unter diesem Titel wurde sie akzeptiert. Wegen uns Oblaten also hat Rom zugestimmt, ihren Prozess zu studieren und in Gang zu bringen und die Gute Mutter „Ehrwürdig“ zu nennen, in Erwartung, dass man sie einmal als Selige und Heilige verehrt. Wir stellen somit etwas in den Augen der römischen Kurie vor. In diesem Dekret der Eröffnung des Seligsprechungsprozesses billigt Rom die Worte und Taten der Guten Mutter. Sie hat, sagt das Dekret, das Beispiel eines ganz-Gott-geeinten Lebens gegeben. Sie hat die ihr anvertrauten Seelen zur wahren Gottesliebe geführt. Sie hat infolgedessen durch alle Handlungen ihres Lebens, was sie oft und oft versicherte, gezeigte, dass der Himmel keine außerordentliche und seltsame Angelegenheit ist, wie man dem Leben mancher entnehmen könnte und wie man es sich bisweilen vorstellt. Die Gute Mutter hat immer wieder beteuert, und die Kirche ebenfalls, dass jeder sich auf seinem individuellen Weg retten kann: Dass die Heiligkeit nicht in einer Sonderbarkeit und Seltsamkeit der Lebensweise besteht, sondern in der Gottverbundenheit, in der Einheit unseres Wollens mit dem Willen Gottes. Und weil die Gute Mutter dies gelehrt und verwirklicht hat, will die Kirche sie heiligsprechen.

Diese ganz praktische Lehre hat die Gute Mutter durch ihr Leben, durch ihre Schriften und vor allem durch die Seelen, die sie zu Gott geführt hat, verkündet. Und wenn wir heute Kollegien und Jugendwerke haben, dann einzig zu dem Zweck, um diesen Gedanken der Guten Mutter fortzusetzen und fruchtbar werden zu lassen. Und indem wir das tun, sind wir Oblaten und werden es nur um diesen Preis sein. Das erhellt eindeutig aus dem Dekret. Dieses Dokument zielt vor allem und in erster Linie auf die Oblaten ab, weil es wegen der Oblaten erlassen wurde und die Gute Mutter deren Gründerin ist.

Man hatte einst einen Brief in Troyes geschrieben, den man überallhin versandt hat. In ihm wurde behauptet, die Gute Mutter sei zwar eine ehrwürdige, ausgezeichnete, intelligente und tugendhafte Frau. Man ließ jedoch nichts Übernatürliches in ihrem Leben und nicht Heiliges in ihren Handlungen gelten. Das Eröffnungsdekret nun zerstörte genau dieses Vorurteil. Einer der Hauptgründe dafür ist, dass die Gründerin der Oblaten ist, dass sie deren Weg erleuchtet hat, dass die Oblaten ihre Kinder sind und dass diese viel Gutes in der Welt vollbringen.

Ich sage es im Vorbeigehen: Wären wir von Anfang an von diesem Gedanken ganz durchdrungen gewesen, dann hätten alle unsere Häuser einen glücklichen Aufschwung genommen. Um Glück zu haben, stehen uns keine anderen Mittel in Gebrauch, so wären wir andere Menschen. Unser Leben allein fußt darauf. Sobald wir das hier Gesagte ernste nehmen, werden die Voraussagen der Guten Mutter zur Gänze in Erfüllung gehen, die sie mir gegenüber getan hat, und von denen sich ein Teil bis heute bereits erfüllt hat. Doch dafür müssen wir tun, was die Gute Mutter gesagt.

Ich war meiner Sache nie so sicher wie gerade in dem, was ich euch hier vortrage, denn heute finde ich den Worten der hl. Kirche selbst die Bestätigung. Um das zu begreifen, bedarf es intelligenter, einsichtiger Menschen, und es ist Gott, der diese Einsicht schenkt. Erbittet von ihm dieses Licht! Ist unser Geist allzu beschränkt, um sich zu diesen Dingen aufzuschwingen. Ist unser Wille nicht ehrlich und nicht großmütig genug, so bleibt ihm ebenfalls die Erkenntnis verschlossen. Soll das bedeuten, wir könnten keine Oblaten werden, wenn wir einige Sünden im Leben begangen haben? Ganz bestimmt nicht, aber wir müssen es auch machen wie jene, die unser Herr so ungemein geliebt hat: Magdalena, Petrus, den reuigen Schächer: Wir müssen bereuen und gutmachen.

Wir brauchen also Einsicht, Tugend, Mut und Treue. Mit der Treue gelangen wir dahin, was die Gute Mutter von uns erwartet. Das heißt es eben lernen. Verlieren wir an einem Tag etwas an Gelände, dann müssen wir es zwangsläufig am nächsten Tag zurückgewinnen.

Lasst uns darum dieses Studium (Lernen) beginnen. Um es aber beginnen zu können, müssen wir jetzt gute Exerzitien machen. Dazu müssen wir erst Gott um Erleuchtung bitten über die Lehre der Guten Mutter. Diese bringt wahrhaftige Wunder hervor. Einer unserer assoziierten Priester der Diözese Troyes sagte mir kürzlich: Da beginnt in Wahrheit ein neues Leben für uns wie für unsere Pfarrkinder. Wir fühlen uns ermutigt und gestärkt, von den Seelen das mutig zu verlangen, was sie geben sollen.

Wenn schon fremde Priester das verstehen, dann werden wir es mit der Gnade Gottes auch begreifen, und noch besser als sie. Darum sage ich noch einmal: Um Verständnis für diese Dinge zu bekommen, müssen wir jetzt eine gute Einkehr halten.

Exerzitien sind in der Tat der Anfang eines neuen Lebensabschnittes. Der hl. Stifter lehrt, wir sollten immer neu beginnen. Jetzt ist für uns so ein Augenblick gekommen, einen neuen Anfang zu setzen. Überlassen wir die Vergangenheit der Barmherzigkeit Gottes und erforschen wir unser Gewissen. Suchen wir zu erkennen, was wir selbst getan haben und was Gott in uns gewirkt hat. Man macht nämlich bisweilen seine Gewissenserforschung, vergisst damit aber die „Gewissenserforschung des lieben Gottes“ zu verbinden. Erforschen wir uns über die Gebote Gottes und der Kirche, über unsere Gelübde, über die Versprechen, die wir Gott gemacht, über die Gnaden, die wir von ihm empfangen haben…. Halten wir dabei die Lampe in Händen: „Scrutabor Jerusalem in lucernis.“ (Anm.: „Ich will Jerusalem mit Lampen durchsuchen.“), sagt der Prophet. Untersuchen wir alle Ecken und Winkel unseres Herzens. Untersucht eure Seele, untersucht den Tempel, den Tabernakel, besucht und untersucht das ganze Jerusalem.

Macht darum eine gute Gewissenserforschung und legt im Beichtstuhl eine vollständige, demütige Beichte ab, in der euch Gott ehrliche Reue und einen festen Vorsatz schenken wird.

Wir sollten aber auch die „Gewissenserforschung Gottes“ nicht vergessen: Wieviel Quellen von Gnaden stellt Gott doch zu unserer Verfügung! Die Sakramente, die hl. Messe, die Betrachtungen… Wieviel Licht und Trost wird da uns zuteil! Was wäre aus uns geworden, wenn Gottes Hand uns nicht beschützt und wir diese Überfülle von Gnadenkräften nicht empfangen hätten? War Gott denn verpflichtet, sie uns anzubieten? Und ich kann nie genug die Vorzugsgnade betonen, die Gott mit jedem unserer Schritte verbindet. Die Gute Mutter sagte: „Der Erlöser? Er ist ungeteilt für uns da. Für uns und jeden einzelnen ist er Mensch geworden… Seine göttliche Person kommt zur Ergänzung der Persönlichkeit eines jeden von uns.“ Und warum schafft er immer noch? „Pater meus usque modo operatur, et ego operor.“ (Anm.: „Mein Vater ist bis zu diesem Augenblick tätig und so bin auch ich tätig.“). Ob das also nicht auch zu unserem Vorteil ist?

Von daher versteht ihr die Notwendigkeit der Heiligkeit unseres Lebens, das allzeit mit der unseres Herrn vereint ist. Das ist das ABC unserer Lehre. Das ist kein Produkt einer exaltierten Phantasie, sondern das ist das, was die Gute Mutter gesagt und die Kirche approbiert hat. Wenn wir dieses Leben leben, dann sind wir wahre Oblaten. Und den Anfang machen wir in einer guten Einkehr.

Das ist ja das Ziel unseres ganzes Lebens: Allezeit vereint mit unserem Heiland zu sein. Haben wir das getan, dann stehen wir bereits in der Heiligkeit. Hindert uns das, ein guter Literat, ein guter Mathematiker oder tüchtiger Philosophie zu sein? Im Gegenteil, hier findet ihr eine starke Stütze, um Erfolg zu haben: „Deus scientiarum Dominus.“ (Anm.: „Gott ist der Herr der Wissenschaften.“).

Ich sage euch hier recht einfache Wahrheiten, meine Freunde. Ich sage euch nicht: Tragt den Bußgürtel, esst nur zwei- oder dreimal die Woche. Unsere Hauptsorge ist vielmehr: Das Böse zu entfernen aus unserem Leben, die Leidenschaft zu zähmen, uns zur Tugendübung zu ermuntern, indem wir der Gegenwart Gottes eingedenk sind mittels des festen Willens, mit ihm vereinigt zu bleiben.

Lasst uns darum gute Exerzitien machen! Wir wollen unsere Gewissenserforschung ernst nehmen, auch die Erforschung des Gottestuns uns gegenüber, indem wir jeder unserer Übungen unsere ganze Aufmerksamkeit widmen. Mögen diese Exerzitien eine Periode wahrer Heiligkeit sein, dann wird Gott mit uns sein und bleiben.