Exerzitienvorträge 1893

      

3. Vortrag: II. Unser Verhältnis zum Nächsten

Meine Freunde, halten wir gute Exerzitien, denn, ich wiederhole, es sind die Einkehrtage selbst, die die „Einkehr“ bewirken. Man kann es nicht oft genug sagen. Sie bringen die Gnade, ihre besondere Gnade, mit sich. Es ist eine privilegierte Zeitspanne, wo des Herrn Gnade uns auf eine besondere Weise zufließen. Es ist die Leidenszeit unseres Herrn, die drei Tage währte. Es ist die Vorbereitungsnovene auf das erste Pfingstfest, die zehn Tage dauerte. Es ist die Zeit, in der Gott sich uns auf ganz intime Weise mitteilt. Haben wir also großes Vertrauen in die hl. Exerzitien. In diesem Vertrauen werdet ihr dann jeden Augenblick dieser Tage in großer Treue zu Gott verbringen. Macht gut eure Betrachtungen, bemüht euch, alle Exerzitienübungen exakt und pünktlich vorzunehmen. Jesus geht in diesen Tagen an unserer Tür vorüber und kommt nicht zurück. Die Gnade, die er euch geben wollte, ist sonst vergeudet. So wie ihr Vertrauen hegt zu den Sakramentalien, zur Wirksamkeit des Gebets, sollt ihr es auch mit diesen Übungen halten. Macht gute Exerzitien, das kann nur heißen: Macht sie treu und entschlossen. Mögen sie im Übrigen bezüglich der Erleuchtungen beschaffen sein wie immer: Haltet eure Exerzitien auf dem Berg Tabor, so unser Herr euch dahin führt. Diese werden nützlich sein, wenn ihr es bloß nicht macht wie der hl. Petrus, der immer da oben bleiben wollte und gar nicht wusste, was er sagte. Finden die Exerzitien auf dem Kalvarienberg statt, dann sind sie besser. Die sollten ja immer andauern. Ihre Wirkungen nehme kein Ende. Denn ihre Wirkung üben sie auf jedermann, auf alle Seelen und auf alle Jahrhunderte aus. Macht sie darum mit eurem ganzen Herzen. Sagen euch die Einkehrtage aber nichts, seid ihr müde, abgekämpft und zerstreut, möchtet ihr euch lieber ablenken und der Anstrengung ausweichen, auf die einzelnen Übungen einzugehen, indem ihr euren Widerwillen bekämpft, mit den Schwierigkeiten fertig werdet, oder wenigstens mutig gegen sie angeht, dann macht ihr gute Exerzitien. Lasst ihr euch aber gehen, so landet ihr im Nichts.

Ihr habt mich gut verstanden. Ihr seht ein, wie kostbar diese Stunden und Minuten der Exerzitien sind: „Tamquam aurum et argentum“ (Anm.: „Wie Gold und Silber.“). Das ist die kostbare Perle, die man um den Preis seiner Ruhe sucht. Ihr sucht sie auf Kosten eurer Annehmlichkeiten und Neigungen und erweist auf diese Weise Gott Lob, volles und wahrhaftes Lob. Gestern sprach ich euch Tadel aus, heute fühle ich mich nicht dazu gedrängt. Denn gestern warf ich euch vor, ihr würdet Gott nicht den ihm zustehenden Platz in eurem Leben einräumen, ihr würdet ihn allzu sehr euch vom Leibe halten, bliebet zu sehr von euch selbst eingefangen und weist seine Einwirkungen zurück, so er nicht eurem Wollen und eurem Hang entspricht. Auf diese Weise macht man keine Heiligen. So verfuhr weder unser hl. Stifter, noch der hl. Vinzenz v. Paul, der hl. Alfons oder die Gute Mutter. Denn all diese Seelen lieferten sich Gott ohne Einschränkung aus. Ich sprach euch darum einen verdienten Tadel aus. Nach der Seite Gottes hin bleibt uns somit viel zu tun übrig. Denkt darüber nach und ändert eure Verhaltensweise während der Exerzitien, indem ihr der Aktion und dem Willen Gottes einen viel breiteren Einfluss einräumt als eurem eigenen Wollen.

Heute möchte ich sprechen über das, was ihr dem Nächsten schuldet. Und hier muss ich euch nicht denselben Vorwurf machen wie gestern, weil der Nächste in eurem Leben einen wichtigen Platz einnimmt und eine bedeutende Rolle spielt. Seid ihr Lehrer, Aufseher oder Seelsorger, Theologiestudent oder mit Handarbeit beschäftigt? Für wen tut ihr dann dies alles? Natürlich nicht für euch. Denn ihr gewinnt für euch selbst dabei gar nichts. Was euch bleibt, ist die Mühe, und oft die Undankbarkeit. Darum kann ich euch hier keinen Vorwurf machen, im Gegenteil: „Euge serve bone et fidelis.“ (Anm.: „Du treuer und guter Knecht.“). Doch arbeiten ist gut. Ohne persönlichen Vorteil arbeiten ist intelligent. Schließlich hat man aber, wenn man sich plagt, Anspruch auf etwas. Wer seine Zeit, seine Kraft, sein Leben opfert, sollte dafür seinen Lohn erhalten.
Doch gerade diesen Lohn, meine Freunde, versteht ihr nicht zu erwerben! Ihr gleicht einem unerfahrenen Gärtner, der mit seinem Spaten das Erdreich aushebt und umwirft, aufs Geratewohl sät, ohne sich um den Erfolg oder Profit seiner Arbeit zu sorgen. Hat er nun das Glück gehabt, dass sein Gemüse und seine Früchte trotz allem reif werden, lässt er sie verfaulen. Ist er da klug zu nennen? So müht auch ihr euch ab, versteht aber nicht genügend aus eurer Mühe und eurem Schweiß Nutzen zu ziehen. Was ist da zu machen? Das, was unser hl. Stifter und die Gute Mutter anraten. Lest die schönen Dinge nach, die unser hl. Stifter über die Arbeit sagt. Wie er will, dass sie, unter den Augen Gottes angefertigt, viele Früchte hervorbringe und sie uns zur Liebe Gottes führe. Der Erfolg unseres Mühens muss so gut, so reich sein, dass wir uns damit wie mit einer Ruhmeskrone schmücken, ihn auf unserem Arm tragen, wie einst die Alten Israels reiche und herrliche Bänder auf ihren Kleidern trugen. Unser Arbeiten sollte höchsten Nutzen eintragen. Weshalb? Weil es mit dem Geist des Opfers, sondern mit dem Opfer all unserer Kraft, unseres Lebens, ja unser selbst mit allem, was unser ist. Wir sollten uns ja voll und ganz loslösen von unserer Eigenliebe und allem, was mit uns und unserem Eigenwillen zusammenhängt. Unser hl. Stifter wünscht, dass unsere Arbeit uns mehr Frucht einträgt als täten wir sie zu unserem eigenen Nutz und Frommen. Wer so schafft, ist ein guter und treuer Knecht. Er umsorgt, was er für seinen Herrn tut, mehr als täte er es für sich persönlich. Seien wir also, meine Freunde, bei all unserem Tun die Knechte des Herrgottes und unseres Herrn Jesus und seiner göttlichen Absichten. Halten wir uns bei unserem Schaffen eng an den Gehorsam und bringen wir alle Opfer, die dieser selbstlose Gehorsam von uns verlangt. Dann nur sind wir wahre Knechte: „Non veni ministrari sed ministrare.“ (Anm.: „Ich bin nicht gekommen, bedient zu werden, sondern um zu dienen.“). Ihr seid meine Diener, wenn ihr tut, was ich von euch verlange.

Ich will mich deutlicher ausdrücken: Wir haben eine Volksmission abzuhalten, ihr sollt Exerzitien predigen, Fasten- oder Adventspredigten, einen Predigtzyklus halten. Was tut ihr da? Unsere Satzungen schreiben vor, dass wir von Beginn den Segen des Ortspfarrers einholen: Das ist ein Akt der Demütigung und der Unterwerfung. Wir sollen nichts unternehmen, ohne uns mit ihm ins Benehmen gesetzt und seine Erlaubnis eingeholt zu haben. Und Gott verbindet dann seine Gnaden, nicht mit dem, was ihr nach eigenen Einsichten tut, sondern was ihr mit dem Pfarrer zusammen ausmacht und organisiert habt. Habt ihr das Amt eines Klostergeistlichen oder eines Jugendwerkes zu versehen? Dann habt ihr sicher als Priester die führende Rolle in der Ausführung dieses Seelsorgewerks inne. Dem Leiter, der Oberin kommen nicht die Macht und die Vorrechte zu, die euch zu Eigen sind. Darin seid ihr Oberer, aber sonst auch nicht. Unterwerft euch darum der etablierten Ordnung, seid echte Diener, und ihr werdet erfahren, wie viel reiche und solide Frucht ihr hervorbringen werdet. Ihr stellt euch selbst in den Hintergrund, indem ihr euch ganz für die anderen einsetzt und hingebt. Dann handelt ihr wie Jesus Christus, der das gleiche tat, damit sein göttliches und ewiges Werk gelingen könne. „Nondum venit hora mea.“ (Anm.: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“). Er verschwindet, er wird eines Tages ganz unsichtbar werden. Begreift darum wohl, auf welche Weise ihr den hl. Dienst an wem auch immer ausüben sollt.

Seid ihr Lehrer? Bemüht euch dann, einen guten Unterricht zu erteilen, ihn gewissenhaft vorzubereiten. Unser hl. Stifter will, dass wir gewissenhaft, mit ganzem Herzen und ganzer Seele alles tun, was zu unserem Amt und Posten gehört. Wir müssen Arbeiter Gottes sein, dessen, der alles vollkommen tut. Wendet also größte Sorgfalt an, euren Unterricht gut zu geben, gut vorzubereiten und euer ganzes Herz hineinzulegen. Fürchtet nicht, in einem bestimmten Sinn auch die Diener eurer Schüler zu werden. Ihr habt einen schwachen, dummen, wenig entwickelten Schüler. Widmet euch ihm. Oder ein anderer hat einen bösartigen, schwierigen, unmöglichen Charakter: Ringt nach Möglichkeit und nach allen nur möglichen Mitteln. Sucht, in dieses rebellische Herz einzudringen, um es aufzurichten, zu unterstützen, in seinen Schwächen und in seinem Elend. Damit übt ihr ein wirksames Apostolat aus.

In meinen Kindheits- und Jugenderinnerungen blieb das Bild eines Priesters haften, der in der ganzen Diözese Troyes hoch verehrt wurde: Der hochwürdige Herr Auger. Er war ein sehr gelehrter und fähiger Lehrer und behandelte seine Schüler, wie es der letzte und kleinste Knecht getan hätte. Es gebrach ihm dabei keineswegs an Geist und sogar Witz. Doch seine Demut konnte nicht größer sein. Alle Schüler respektieren ihn und hielten ihn in Ehren. Und mit dieser Art von Bescheidenheit hatte er Erfolg. Er bildete ausgezeichnete Schüler heran, großartige und heiligmäßige Priester. Wie hat er das geschafft? Ich habe es schon gesagt: Durch seine demütige Hingabe, indem er sich zum Diener aller machte. Dies Mittel muss doch sehr gut sein, da es mit so viel Erfolg gekrönt wird. Herr Auger gab sich selbst, nicht nur in seiner Arbeit und seinem äußeren Einsatz, sondern in seinem Selbst, indem er sich Demut und Abhängigkeit opferte.

Unser hl. Stifter sagte, das Gute, das wir selber vollbringen, sei sicher gut. Das Gute aber, zu dem wir andere anstiften, sei viel besser. Damit entzücken wir das Herz Gottes. Ihr seid Missionare, ihr habt es mit halbwilden Völkern, die noch unzivilisiert und stolz sind, zu tun. Worin besteht da eure Aufgabe? Ihr dürft da nicht zu meckern beginnen. Nein, klagt nicht, sondern versetzt euch an die Stelle, an der ihr stehen müsst: Hat sich unser Herr nicht arm und dienend gemacht für diese Menschen? Hat er sich nicht bis zum Nichts herabgewürdigt? „Ego sum vermis et non homo, adjectio plebis.“ (Anm.: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch mehr, die Verachtung des Volkes.“). Scheut euch also nicht, ihnen gegenüber wie Jesus zu werden. Tut das, und ich versichere euch, dass euer Wort die Seelen anziehen und fesseln, euer Beispiel sie heiligen wird. Was ich hier von den Missionaren sage, gilt auch vom letzten und geringsten unserer seelsorgerlichen Arbeiten, von der Aufsicht und den kleinsten Ämtern, die man euch überträgt. Tun wir das und wir werden gut daran tun, denn wir handeln wie die Heiligen, ja wie Gott selbst. Das ist die wahre Art, meine Freunde, zum Nächsten zu gehen. Dankt Gott, wenn er euch zu ihnen schickt. Und ich danke ihm, dass er euch dahin gesandt hat, und für alles, was ihr dort tut. Ich kenne eure Peinen, Arbeiten und Unruhen. Ich schätze sie nach ihrem wahren Wert. Ich weiß, dies alles steht in angenehmen Wohlgeruch bei Gott. Das ist gut so. Aber lasst mich euch sagen, dass dies noch nicht genug ist. Ihr müsst euch selbst mitgeben. Das ist die mächtige Winde, die die schwersten Massen hochhebt. Seht nur, wie der hl. Stifter mit seinen Hausangestellten und seiner ganzen Umgebung umging: Er befahl nicht, sondern sagte nur: „Wenn Sie dies oder jenes tun könnten…“ Ist das unwürdig, verliert man da seine Autorität? O nein, dann gerade hat man die Kraft unseres Herrn und seiner Gnade auf seine Seite! Liebt euren Nächsten also auf diese Weise, dient ihm, dann seid ihr des Herrn Freunde. Jesus hat euch auserwählt, weil er euch liebt, weil er euch vertraut. Er bittet euch, ihn zu unterstützen in den Werken seiner Barmherzigkeit und der Erlösung der Welt. Und dies ist die beste Weise, ihm zu helfen.

Fasst also solch einen Entschluss während dieser Einkehrtage. Prüft euch in diesem Punkt. Fragt euch, ob ihr dem Nächsten gedient und das eigene Ich hintangesetzt habt. Noch einmal: Befreit euch vom eigenen Ich! Lest nur im Leben unseres hl. Stifters, da findet ihr nichts anderes! Auch Vinzenz v. Paul und die Gute Mutter haben sich nur so geheiligt. Die Gute Mutter sah nie etwas anderes in den Seelen. Sie stellte sich unter alle Menschen wie ein kleines Kind. Welche Wirkung hatte das? Verließ man sie, so fühlte man sich in ihrem Bann wie gefangen von einer unvergleichlichen Kraft. Das sollte auch euer Geheimnis und eure verborgene Kraftquelle werden. Dann wird man euch lieben, euch vorziehen, weil man bei euch die wahre Tugend, die wirkliche Aktion des Erlösers findet.