9. Vortrag: Über das Gelübde des Gehorsams
Samstag Vormittag, 7. September 1889
Meine Kinder, die Vorträge, die ich euch bisher hielt, waren ganz besonders auf eure Berufung zu Oblatinnen des heiligen Franz von Sales ausgerichtet. Ich wollte euch in diesen Exerzitien für die Einkleidung und die Profess das Vorbild geben, was eine Oblatin des heiligen Franz von Sales sein muss, damit ihr sagen könnt: „So muss ich sein.“ Es bleibt mir noch, zu euch über die Gelübde zu sprechen, wie wir sie verstehen.
Zuerst das Gelübde des Gehorsams. Durch das Gelübde des Gehorsams opfern wir unseren Willen, unsere Persönlichkeit. Wir schenken uns dem lieben Gott in der Person unserer Oberinnen. Wir unterwerfen uns allem, was sie von uns wollen. Der Gehorsam besteht aus der Treue, die Ordensregel, das Geistliche Direktorium zu befolgen und den Befehlen zu gehorchen, die wir von unseren Oberinnen erhalten. Man muss den Gehorsam mit einer großen Genauigkeit einhalten und ihm unseren ganzen Willen überlassen. Der liebe Gott belohnt immer großzügig die Opfer, die man in dieser Hinsicht bringt. Die Väter des geistlichen Lebens berichten von Mengen an Wundern, die dem Gehorsam gewährt wurden. Ein Ordensmann hatte eine große Treue darin, beim ersten Glockenschlag zu verlassen, was er gerade machte. Und eines Tages war das unvollendet gebliebene Kapitel bei seiner Rückkehr mit goldenen Buchstaben zu Ende geführt. Die Legende erzählt sogar, dass er einen Buchstaben halb geschrieben gelassen hatte. Und dennoch war es ein kostbares Werk, an dem er sehr hing. Zu dieser Zeit waren die Bücher sehr selten, der Buchdruck war noch nicht erfunden oder sehr wenig verbreitet, nur die Ordensleute und die Mönche schrieben die Bücher ab.
Ein anderes, sehr hübsches Beispiel des Gehorsams ist das des heiligen Maurus, dem der heilige Benedikt eines Tages befahl, den Bruder Placidus zu retten, der gerade am Ertrinken war. Der junge Ordensmann gehorchte, lief zu Teich, ging über das Wasser wie über feste Erde und brachte seinen Gefährten heil und gesund ans Ufer zurück.
Die heilige Teresa von Avila sagte zu einer ihrer Nonnen, sie solle, wenn sie tot wäre, ihren Stock nehmen und ihn bei ihrer Zelle einpflanzen. Die Ordensschwester machte es, und der Stock, der sehr alt war, begann zu blühen.
Noch eine Geschichte, erzählt vom heiligen Hieronymus. Ein Ordensmann kam eines Tages von sehr weit, um einen anderen Einsiedler zu besuchen und mit ihm eine wichtige Angelegenheit zu behandeln. Er war sehr müde, denn der Weg war lang gewesen. Er stellte also seinen Stock auf die Erde, um sich auszuruhen. Im Augenblick des Aufbruchs wollte er ihn wieder nehmen, aber der Einsiedler sagte zu ihm: „Nein, pflanzen Sie Ihren Stock hier als Zeugnis.“ Und dieser trockene Stab, der ein Ast von einem Feigenbaum war, begann zu grünen und wurde bald ein herrlicher Baum. Der heilige Hieronymus behauptet, dass wer ihn voll von Früchten gesehen hat.
Machen wir alles, was wir machen, aus Gehorsam, mit einem großen Glauben. Übrigens, was ist diese Glaube? Es ist der Gehorsam zum lieben Gott, die Unterwerfung des Geistes und des Urteils unter die Geheimnisse unserer Religion. Wir müssen zum Gehorsam, zur Beobachtung der Ordensregeln, des Geistlichen Direktoriums ebenso viel Glauben haben wie zum Evangelium. Nun, wann muss man gehorchen? Man muss immer gehorchen. Es ist viel größer, viel großmütiger, seinen Willen ein für alle Mal ganz dem Heiland zu schenken, als sich ständig zurückzunehmen, um sich dann wieder hinzugeben. Wenn man nicht immer gehorcht, ist es sehr hart. Bei jeder Gelegenheit beginnt der Kampf von neuem, hat man die ganze Bitterkeit, den ganzen Schmerz eines neuen Opfers, ist man nicht glücklich. Aber wenn man entschlossen ist, immer zu gehorchen, wird alles leicht, da man im Vorhinein entschlossen ist, anzunehmen, was sich an Mühsamen im Ordensleben wird anbieten wird.
Fasst also den Entschluss, immer zu gehorchen. Unser Herr gab euch dafür zuerst das Beispiel. Er gehorcht in seiner Krippe, der heiligen Jungfrau, dann in der Werkstatt zu Nazaret, dem heiligen Josef. Er gehorcht seinem Vater während seines apostolischen Lebens. Er gehorcht bis Kalvaria, bist zum Tod am Kreuz, und jetzt gehorcht er wieder im Heiligen Sakrament seiner Liebe, er gehorcht der Stimme des Priesters, er gehorcht euch in der Heiligen Kommunion, wenn ihr zu ihm sagt: „Komm!“ Er gehorcht euch und mir.
Warum gehorcht ihr nicht immer wie unser Herr, da es doch das sicherste, das glückseligste Mittel ist, um eine gute und eifrige Nonne zu werden? Aber wie gehorchen? Wenn man Oblatin ist, muss man mit Wohlwollen, mit Liebe gehorchen, obgleich es etwas kostet, weil das dem lieben Gott gefällt. Es ist so verdienstvoll, mit Wohlwollen, mit Freude, sogar mit Frohsinn zu gehorchen. Seht, mit welcher Freude die Engel im Himmel gehorchen. Wenn Gott ihnen etwas befiehlt, beginnen sie nicht, sich zu beklagen. „Geht“, heißt es in der Heiligen Schrift, „geht, frohe Engel“, und sie gehen eiligst, um alle göttlichen Willensäußerungen zu erfüllen. Es steht auch geschrieben: „Unser Herr hat aus Gehorsam sein Kreuz angenommen, und er hat sich vorgenommen, es mit Freude zu tragen.“
Gehorcht also nach dem Beispiel unseres Herrn, nach dem Beispiel auch der Heiligen, der Guten Mutter Marie de Sales Chappuis. Wenn sie gehorchte, war sie fröhlich. Als Oberin nahm sie glücklich alle Gehorsamsanordnung an, die sie in Folge der Bitten der Klöster empfing, in die sie gehen musste. Sie gehorchte der Ordensregel, den Satzungen so fröhlich, so zufrieden! Wenn sie nicht Oberin war, gehorchte sie offenherzig und mit Freude der amtierenden Oberin. Seht, im Noviziat hatte sie sich angewöhnt, zu ihrer Novizenmeisterin immer Ja zu sagen und eiligst zu machen, was von ihr verlangt wurde, sogar schon ein wenig eher als es ganz gesagt war.
Handelt so, meine Kinder. Es war so schön, die Gute Mutter Marie de Sales gehorsam wie ein kleines Kind zu sehen. Dennoch war sie die Vertraute vieler Oberinnen von verschiedenen Gemeinschaften, von prominenten Persönlichkeiten, Beamten, Priestern, Bischöfen. Dennoch unterwarf sie sich mit Wonne der kleinsten Vorschrift der Ordensregel, dem geringsten Wunsch ihrer Oberen. Man hätte sagen können, sie dürstete nach dem Gehorsam.
Gehorcht so, schlagt eurem Herzen immer die Freude für den Gehorsam vor. Ich glaube, wenn ihr schnell gehorcht, werdet ihr unseren Herrn in Liebe gehorchen, wie es der Heilige Augustinus am Anfang seiner Ordensregel verlangt: In allem werde Gott geliebt. Und so, meine Kinder, wird euer Leben glücklich sein. Die vollkommen Gehorsame hat weniger zu erdulden, denn wenn sie zu leiden hat, leidet sie mit unserem Herrn, der alles mildert, der mit ihr das Kreuz trägt. Die wahrhaft Gehorsame wird im Augenblick des Todes nicht von Furcht und Ängsten gequält. Wenn ihr wüsstet, welche Tröstungen mir zuteilwurden, als ich die Ordensschwestern des Heimsuchungsklosters sterben sah. Sie fragten die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis: „Meine Mutter Oberin, wann werde ich sterben müssen?“ Die Gute Mutter antwortete: „Verbringt noch diese Nacht!“ Am Morgen fragten sie wieder: „Wird es heute sein?“ „Ja“, antwortete manchmal die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis: „Liebt, erfüllt den Willen des lieben Gottes.“ „Ich werde wohl aus Gehorsam sterben, nicht wahr, meine Gute Mutter?“ „Ja, geh in Frieden zu Gott!“ Man wird also im Himmel gut aufgenommen, gut empfangen, wenn man aus Gehorsam stirbt. Der letzte Augenblick hat keine Bitternis mehr. Wir gehen, weil man uns gesagt hat, zu gehen, wir wir eines Tages gekommen sind, um uns Gott im Ordensleben zu schenken, weil wir einberufen wurden.
Wem muss ich gehorchen? Gehorcht unserer sehr geehrten Mutter Generaloberin, gehorcht der Novizenmeisterin, der örtlichen Oberin, eurer Amtsschwester. Unterwerft euch jeder mit Sanftmut. Dazu braucht man den fügsamen, in die Hände des lieben Gottes gelegten Geist. Man darf sich nicht im Geist von Kritik, Tadel, Aufmüpfigkeit, die sich nicht ergeben will, gehen lassen. Selig die Sanftmütigen, sagt das Heilige Evangelium, denn sie werden die Erde besitzen. Sie werden schon die Erde hier herunten besitzen, aber vor allem die Erde der Seligen im Himmel.
Ich wiederhole also: um gut zu gehorchen, braucht man einen geraden, aufrichtigen Geist, einen Geist, der nicht sucht, nicht urteilt, nicht kritisiert, denn dann wäre der Gehorsam unvollkommen. Man würde das Gegenteil von dem machen, was der Heiland liebt und sucht. Hat er nicht gesagt: Lasst die Kinder zu mir kommen, denn das Himmelreich gehört denen, die ihnen gleichen. Mögen die, die bald das Gelübde des Gehorsams ablegen werden, gerne sagen: „Sprich, Herr, ich höre dir zu! Ich habe keinen Willen mehr; ich bin wie Maria Magdalena zu deinen Füßen. Mach, dass ich nicht mehr auf mich höre, dass ich mich nicht mehr betrachte, dass ich nicht mehr nach meinen Neigungen handle, sondern dass du durch mich handelst und durch meinen Mund sprichst. Mein Herz wird dann voll Lieblichkeit und Trost sein. Durch meinen Gehorsam werde ich ganz dir gehören, als wäre ich schon im Himmel, wo es mein Glück sein wird, dich zu lieben, dir immer zu gehorchen.“ Mögen die, die das Gelübde des Gehorsams noch nicht äußerlich ablegen, es in ihren Herzen tun: „Herr, ich will nur dich, mein Wille gehört dir, ich lege ihn in deine Hände.“ Wenn euer Angebot aufrichtig gemacht wird, wird es unser Herr annehmen, er wird heute euren Willen nehmen und ihn alle Tage eures Lebens bewahren. Und im Paradies werdet ihr nichts zu ändern, nicht zu wünschen haben, es wird ein Glück ohne Ende, ohne Grenzen sein, die Belohnung für eure Unterwerfung und eure Großmütigkeit. Amen.