10. Vortrag: Tag der Profess: Die Ordensseele hat den besten Teil gewählt
Samstag, 8. September 1888
„Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden“ (Lk 10,42). Zu Füßen des Heilands sitzend, lauschte Maria von Betanien diesen Worten, die von seinen göttlichen Lippen fielen. O, wie köstlich waren sie für sie! Meine sehr liebe Kinder, in richte in diesem Augenblick dieselben Worte an euch und ich wünsche mir, dass sie in euren Seelen dieselbe Fröhlichkeit, dieselbe unauslöschliche Sanftheit hervorbringen wie in der Seele von Maria von Betanien, als sie diese aus dem Mund ihres göttlichen Meisters aufnahm.
Ja, ihr habt den besseren Teil gewählt, und es ist ganz unnötig zu versuchen, es euch zu beweisen. Ihr habt tausend Mal die reinen und heiligen Freuden empfunden, die Gott denen vorbehalten hat, die er erwählte. Er schenkt ihnen das Beste, das in seinem Herzen, unter seinen unendlichen Schätzen ist. Die Seele, die zum Ordensleben berufen wurde, tritt in eine große Vertrautheit mit Gott ein und findet in dieser Vertrautheit eine nicht versiegende Quelle des Glücks.
Ihr wisst es doch, meine Kinder, das Glück auf Erden besteht weder aus Vermögen, noch aus dem Glanz einer strahlenden Position. Es ist ganz in uns, in unserem Herzen. Die Befriedigungen und die Freuden, die von draußen zu uns kommen, sind oft nur Hindernisse zum wahren Glück. Nun, ist in dieser Hinsicht Gott nicht wunderbar zu euch? Findet ihr nicht die völlige Sättigung der Bedürfnisse eures Herzens in euren vertrauten Verbindungen mit ihm? Sagt ihr Gott nicht in der Stille des Gebetes diese unaussprechlichen Dinge, die er selbst euch eingibt? Da nun Gott ein unendliches Wesen ist, findet euer Herz in ihm reichlichst alle Freuden und Tröstungen, die es wünschen kann, und von dieser Seite habt ihr offensichtlich den besten Teil gewählt. Ihr werdet im Klosterleben ein sehr großes Glück finden und es gerne verkünden.
Wenn ich nicht mehr auf den Grund eures Herzens schaue, sondern auf eure Umgebung, wenn ich euer Leben in seiner Gesamtheit ins Auge fasse, sehe ich wohl wieder, dass ihr den besseren Teil gewählt habt. Ohne Zweifel hat das Leben in der Welt seinen Reiz, seine Süße, aber es hat auch seine Prüfungen, seine tiefen Bitternisse, und legte man auf die Waage auf der einen Seite das Glück und auf die andere die Prüfungen, würde das Glück sehr wenig siegen. Ist es auch bei euch so? Nein. Die Einsamkeiten des Lebens, seine Sorgen, seine enttäuschten Hoffnungen sind euch unbekannt. Ihr findet sicher das Glück in euren vertrauten Beziehungen mit Gott und den Frieden, die geschwisterliche Einheit in euren Beziehungen mit euren Mitschwestern. Ohne Zweifel werdet ihr da wohl auf kleine Prüfungen stoßen. Es ist unmöglich, dass es anders ist, aber ihr werdet nie diese tiefe Zerrissenheit, diese Ängste kennenlernen, die keinen Namen haben und auf das Leben ein Leichentuch werfen, das nicht mehr verschwindet, nicht einmal, wenn man ins Grab hineinsteigt.
Unvorsichtige, die sicher von der Hölle getrieben werden, greifen alles an, was es an Heiligstem gibt. Die Heiligkeit der Familie wird nicht mehr garantiert und in diesem Heiligtum, in dem Gott herrschen soll, richtet sich der Satan ein und erhält das Recht einzudringen, er stellt sein Eisenzepter hinein und trennt, was Gott vereint hat, und das im Namen des noch verrückteren als unbilligen Gesetzes. Wie viele Schmerzen! Wie viel Bitternis! Wie viele für immer zerbrochene Leben! Ihr, meine Kinder, seid diesen schrecklichen Gefahren nicht ausgesetzt. Eure Zukunft ist gewiss, euer Teil, euer Erbe ist gesichert, euer Herz kann sich ohne Furcht in der Liebe dessen ausruhen, dem ihr euch geschenkt habt. Ihr habt also den besseren Teil gewählt; und noch einmal, er wird euch nicht genommen werden. Der liebe Gott hat es gesagt und er ändert sich nicht, er weicht nicht ab, er hält sein Versprechen.
Dieser Teil, den ihr gewählt habt, ist nicht nur für euch persönlich der bessere, meine Kinder. Er ist es auch für eure Eltern, für eure Familien. Ohne Zweifel hat man am Tag der Ordensprofess einige Tränen in den Augen. Es scheint, dass die Trennung vollständig und endgültig sein wird. Bemerkt aber den Unterschied zu dem, was man fühlt, wenn ein Mädchen heiratet. Am Tag der Hochzeit freut sich jeder und am nächsten Tag weint man manchmal bitterlich. Die Feier der Einkleidung und der Ordensprofess bringt wohl manchmal einige Seufzer hervor, sehr gerechtfertigte Tränen, aber am nächsten Tag ist man glücklich, und dieses Glück dauert das ganze Leben lang. Eure Familien sind darüber nicht mehr beunruhigt, sie wissen euch zufrieden, sie fühlen, dass ihr im Hafen seid, dass ihr in eurem Element seid. Jeder weiß, was ihr habt. Ihr habt es freiwillig gewählt, ihr wolltet es, ihr liebt es. Jeder hat Frieden, es gibt keine Sorgen für die Zukunft, keine Bitternis für die Gegenwart.
Ihr habt also den besseren Teil gewählt und auch für eure Familien und sogar menschlich gesprochen. Wie oft sah ich nicht im Kloster der Heimsuchung von Troyes einen Vater seine Tochter besuchen, eine Nonne in diesem Kloster. Warum ging er so oft hin? Ohne Zweifel, um sie zu besuchen, weil er ihr Vater war und sie liebte, aber er tat es auch, um ihr seine Nöte, seine Pläne zu sagen, um sie über seine Geschäfte zu unterrichten. Er betrat das Sprechzimmer wie ein Heiligtum, in dem Gott durch seine Tochter wie durch ein Orakel zu ihm sprechen würde, an das er glaubte. Glück und Frieden stiegen dann in seine Seele hernieder, und ich sage euch, in Wahrheit hatte diese Vater mehr Trost mit seiner Tochter im Kloster als mit seinen sechs anderen Kindern, die er ehrsam in der Welt untergebracht hatte.
Ich wiederhole es wieder, ihr habt für euch und für eure Familien den besseren Teil gewählt, und ich füge hinzu für die Gesellschaft, in der wir leben. Denn schließlich seid ihr Nonnen nicht nur für euch selbst. Das Gewand, das ihr tragt, ähnelt dem militärischen Gewand. Der Soldat hat eine Kleidung, die ihn von den anderen Männern unterscheidet, aber er zieht sie nicht für sich an, sondern für die Gesellschaft, der er einen besonderen Dienst erweisen muss. Der Soldat wie der Priester muss nicht für sich persönlich sein, was er ist, die Gesellschaft braucht ihn. Er wird der Mann für jeden, der Mann, auf den alle ein Recht haben. Die Oblatin des heiligen Franz von Sales steht ebenso unter diesen Bedingungen. Sie ist nicht nur für sich Nonne, sie hat in der Welt eine Aufgabe zu erfüllen. Diese Aufgabe ist allumfassend. Unsere Ordensschwestern sind ein wenig überall verbreitet, obgleich ihr noch nicht sehr zahlreich seid. Sie gehen bis ins südlichste Afrika, bis in die fernsten Länder Amerikas. Da lehren sie die Eingeborenen, eine menschliche Sprache und eine göttliche Sprache zu sprechen und ihr wisst, welch große Tröstungen der liebe Gott ihrem Amt verleiht. Unsere Gesellschaft braucht eure Hingabe kaum weniger, als die armen Ungläubigen der fernen Länder. Ihr habt da viel Gutes zu tun.
Und übrigens, beginnt euer Einfluss nicht fühlbar zu werden? Haben eure Arbeitswerke nicht schon ihre Früchte getragen? Tretet in diesen kleinen Haushalt ein, alles ist sauber, wohlgeordnet, alles bietet einen angenehmen und einnehmenden Anblick. Eine junge Frau, einst von den Oblatinnen erzogen, mit ruhiger, heiterer Seele steht da mitten unter ihren kleinen Kindern, alle lieben sie, achten sie, alle forschen in ihrem Blick, um darin bald einen Rat, bald einen sanften Tadel zu finden. Sie fühlen in ihrer Mutter etwas Höheres, etwas Göttliches. Ihr Gatte, ein ehrenhafter Arbeiter, kehrt glücklich unter dieses Dach heim, wo Friede und Harmonie herrschen. Das ist euer Werk, meine Kinder, das habt ihr durch euer Bemühen erreicht. Ihr habt den Glauben und die Frömmigkeit in diese junge Arbeiterin gelegt. Und wenn Gott eurem Handeln einen weiteren Raum gewährte, wenn er es an bestimmten Orten allgemein machte, würdet ihr unendlich Gutes bewirken. Die Gesellschaft wäre euch sehr zu Dank verpflichtet und könnte euch wahrhaftig sagen: „Ja, ihr habt für uns den besseren Teil gewählt.“
Wenn ihr in euren anderen Apostolatswerken ein Mädchen, das höher gestellt ist, zu euch ruft, gebt ihr euch dann damit zufrieden, ihrem Verstand einige Begriffe der weltlichen Wissenschaft zu geben? Nein! Ihr versucht noch, sein Herz zu bilden, den Keim dieser großen und starken Tugenden hineinzulegen, die die christliche Frau ausmachen, die französische Frau, wie man sie in den schönsten Zeiten unserer Geschichte bewundern konnte. Was verdankten diese wunderbaren Frauen, deren Namen berühmt blieben, ihre Überlegenheit? Nicht nur ihrer glänzenden Ausbildung, sondern vor allem der Erziehung, die sie erhalten hatten, dem, was man in ihre Seele gelegt hatte, und sie wurden die Königinnen der Welt. Das ist eure Aufgabe bei den Mädchen, mit denen ihr euch beschäftigt, und den Familien, die sie euch anvertraut haben, und sie müssen ihrerseits sagen: „Ja, ihr habt auch für uns den besseren Teil erwählt.“
Meine Kinder, bewahrt diesen Teil, den ihr gewählt habt, und der tatsächlich der beste unter allen ist, gut! Ohne Zweifel habt ihr ihn gemeinsam mit den anderen Nonnen, die alle unter der Sonne der Kirche, unter dem Blick des Heilands Jesu arbeiten und wunderbare Werke vollbringen. Jede Seele, die ihrem Weg folgt, kommt an das Ziel, das der Herr für sie bezeichnet hat. Gebe Gott, dass ich hier keinen Vergleich mache, aber ich muss euch beglückwünschen, besonders euch, weil ihr, um euch in eurem Ordensleben zu unterstützen, eine Beschützerin, eine Mutter habt. Ah, eine Mutter in einer Familie, eine Mutter inmitten ihrer Kinder, ist es nicht wie ein von Gott geschickter Engel, um zu lieben, um zu ermutigen, zu erleuchten … Wohlan! Ihr habt eine Mutter, meine Kinder, eine Mutter, die euer Vorbild sein wird und euch gleichzeitig über eure Pflichten aufklären wird und euch in euren Prüfungen beistehen wird. Warum sollte man diese Mutter nicht nennen? Es ist unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis.
Gott hat dieser Guten Mutter eine sehr große Macht über die Seelen gegeben. Es genügte, sie zu sehen, um Vertrauen zu ihr zu haben, um sich unwiderstehlich veranlasst zu fühlen, in Gegenwart eines zu bringenden Opfers zu sagen: „Da Gott das von mir will, werde ich es machen!“ Und so sprachen nicht nur kleine Mädchen, Internatszöglinge, Novizinnen, Nonnen, sondern Personen aller gesellschaftlichen Gruppierungen. Beamte, Priester, Bischöfe kamen, um dieser demütigen Frau ihren Geist, ihr Urteil, ihre Fähigkeiten zu unterbreiten und sagten, als sie sie sprechen hörten: „O, meine Gute Mutter, sie haben Recht, das will der liebe Gott wirklich von mir.“ Sie ist eure Mutter, meine Kinder, sie wird für euch machen, was sie für die Seelen machte, die sich an sie wandten, als sie auf Erden war. Und bemerkt wohl: sie ist nicht nur eure Mutter, sie ist die Mutter aller eurer Familien. Die Nonnen fanden in ihr nicht nur für sich selbst persönlich ein ergebenes Herz, sondern auch für all jene, die ihnen lieb waren. Sie nahm die Familien aller Personen an, die mit ihr zu tun hatten, und die Wirkung ihrer Fürsprache war so gut anerkannt, dass man zu sagen pflegte: „O, die Gute Mutter hat sich um uns angenommen, wir sind beruhigt, alles wird gut gehen.“ Wenn ihr also Oblatinnen werdet, gebt ihr sie als Mutter euren Verwandten, allen, die euch lieb sind. Und vom Paradies aus, wo sie ohne Zweifel jetzt ist, nimmt sie alle an, die ihr liebt; die die Euren sind, werden die Ihren. Wenn ihr für sie betet, wird sich ihr Gebet mit eurem vereinen und es mächtig auf das Herz Gottes legen (Diese Worte wurden unter der absichtlichen Zurückhaltung einer völligen Übereinstimmung mit den Dekreten von Papst Urban VIII. bezüglich der Heiligsprechungen gesagt). Auch von dieser Seite her habt ihr also den besseren Teil erwählt.
Meine Kinder, fasst Mut, betretet kraftvoll den Weg, der sich vor euch auftut. Lasst euch nicht von den Schwierigkeiten niederschlagen, die ihr darauf antreffen werdet. Es geht heute über die Welt ein verderblicher Hauch, der nicht ohne Einfluss auf das Innenleben ist. Und sehr oft werden sogar nach den Worten des heiligen Bernhard von Clairvaux „selbst die frömmsten Herzen davon erschüttert“. Ihr aber lasst euch nicht erschüttern, meine Kinder, weil ihr unsere Gute Mutter Marie de Sales Chappuis anrufen werdet, die euch beschützen wird. Ihr werdet treu sein, ihre werdet großmütig sein, ihr werdet euch erinnern, dass ihr einen Teil der Wahl in der Hand habt, und es wird euch am Herzen liegen, ihn für euch selbst, für eure Familien, für die ganze Gesellschaft zu verwerten. Ihr werdet treu sein, und die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis wird euch ihrerseits treu sein.
Sehr bald werdet ihr unter dem Leichentuch unseres Herrn liegend das absolute Opfer eurer selbst bringen und allem sterben, was nicht Gott ist. Aber diesem Tod muss eine vollständige Auferstehung folgen. Jesus steigt ins Grab hinab, man legt den Grabstein auf ihn, er bleibt einige Stunden dort, dann hebt sich der Stein, er geht siegreich hervor und hält in der Hand das Kreuz, das die Welt regiert und sie trotz der Bemühungen des Teufels bis ans Ende der Zeiten regieren wird. Er ist da, auf seinem Thron, und das Universum neigt sich vor ihm und gehorcht ihm.
Meine Kinder, nachdem ihr euch unter dem Leichentuch niedergeworfen habt, werdet ihr euch wieder erheben, um ein neues Leben zu beginnen. Ihr werdet nicht mehr ihr sein, ihr werdet verwandelt sein, ihr werdet ein lebendes Abbild des Heilands Jesus sein. Ihn wird man in euch sehen müssen, sein Wort wird man hören müssen, seinen Schritt wird man sich merken müssen. Geht getreu in seinem Gefolge. Haltet euch so nahe bei ihm, seid so vereint mit ihm, dass ihr nur mehr eins mit ihm seid, damit er eure Kämpfe unterstützt, damit er eure Siege erringt. Lebt verborgen, vernichtet, habt kein persönliches Sein mehr. Jesus wird in euch und durch euch alles machen, er wird über die Welt und über euch selbst einen vollständigen Sieg davontragen. Lebt verborgen, vernichtet und habt kein persönliches Leben mehr. Jesus wird gehen und ihr werdet ihm folgen. Ihr werdet, wie die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis sagt, die Kinder sein, sie eure Füße auf die Fußspuren des Heiland setzen werdet. Ihr werdet ihm alle Tage eures Lebens folgen bis zum Augenblick eures Todes. Er wird euch zeigen, was ihr zu tun habt, nur ewig bei ihm im Himmel zu bleiben.
Der Himmel! Das ist das Stelldichein, das ihr euren lieben Verwandten gebt, das ihr euch gegenseitig gebt. Gebe Gott, dass keine dieses ewige Stelldichein versäumt, wo man keine Trennung mehr wird fürchten müssen, wo es nur mehr eine einzige große nie endende Feier geben wird. Es wird das ewige Halleluja sein, das unvergleichliche Glück, gefunden in seiner Liebe, die Gott selbst fand, für die, die sich ihm schenken. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Gott sei gebenedeit.