8. Vortrag: Über die Nächstenliebe. Die wechselseitigen Beziehungen unter den Oblatinnen
Donnerstag Abend, 5. September 1878
Meine Kinder, heute Vormittag sagte ich euch, dass die Verehrung unseres Herrn im Allerheiligsten Sakrament des Altares die große Frömmigkeit der Oblatinnen sein soll, wie sie die des heiligen Franz von Sales war. Da werden wir die Hilfe, das Licht, die Kraft in den Augenblicken der Kämpfe mit uns selbst, gegen die Versuchungen oder gegen die Verführungen unseres Jahrhunderts erhalten. Auf jeden Fall genügt es uns nicht, diese besondere Übung der Frömmigkeit zu pflegen, um der Kongregation das wahre Aussehen zu geben, das sie vor Gott und der heiligen Kirche haben soll. Es müssen auch unsere Tugenden ein ganz besonderes Siegel haben.
Die Kinder des heiligen Franz von Assisi sind hervorragend in der Übung der Armut. Sie fasten, sie kleiden sich ärmlich, schlafen auf hartem Untergrund, wollen nichts besitzen und nur von Almosen leben. Sie essen nur, was man ihnen gibt. Die Gemeinschaft hat kein Einkommen. Wenn man nichts zu essen hat, wartet man auf die Rückkehr der Bettelbrüder, und wenn man auf die Nahrung wartet und hungrig ist, ist es der Höhepunkt der Armut, wie auch wenn man friert und sich nicht die Mittel beschaffen kann, sich zu wärmen. Ich sah bei meiner letzten Reise nach Fribourg eine Kapuzinernonne, die Schwester unserer Guten Mutter Marie de Sales Chappuis. Die Kapuzinerinnen besitzen überhaupt nichts. Ihre Kleidung ist nicht teuer, sie ist sehr geflickt, sehr armselig. Von der Stadt gibt man ihnen ihre Nahrung. Es gibt also sehr harte Abtötungen, die in diesen großen Ordensgemeinschaften geübt werden.
Nun, meine Kinder, was wird bei uns diese übermäßige Armut ersetzen? Ich werde es euch sagen, aber hört vorher einen Vergleich, der euch die Wichtigkeit verständlich machen wird, die man dem beimessen muss, das ich in diesem Vortrag empfehle. Stellt euch eine Kapuzinerin vor, die ein Mittel finden würde, die Strenge ihrer Nahrung, ihrer rauen Kleidung zu lindern, die Leintücher aus Leinen in ihrem Bett hätte, wie würdet ihr darüber denken? Ihr würdet sagen, dass das keine Kapuzinerin mehr ist, und ihr hättet Recht. Wohlan, eine Oblatin, die nicht machen würde, was ich euch sagen werde, wäre keine Oblatin mehr.
Der heilige Franz von Sales wollte seine Kongregation nur auf die Grundlage der Einheit mit Gott und die Liebe zum Nächsten stellen. Er wollte keine anderen Verpflichtungen auferlegen, da er sich vor allem wünschte, dass unter den Schwestern die Liebe herrsche, denn er dachte, wenn sie diese Tugend aus ganzem Herzen üben, kommen sie zur Vollkommenheit. Er sagte es am Anfang des Direktoriums: „Wir haben kein anderes Band als das Band der Liebe, das das Band der Vollkommenheit ist.“ Die Vollkommenheit ist also die Grundlage für die Nächstenliebe. Ihr seht es, es war der Wunsch des heiligen Franz von Sales, seine Kongregation nur auf der Liebe zu gründen. Er hätte nicht gewollt, dass man ein anderes Gelübde als dieses ablegt. Er sagte, dass diese Tugend, gut geübt, genüge, um die Seelen zur größten Vollkommenheit gelangen zu lassen. Das ist es also, worin wir uns vor allem befleißigen müssen, wenn wir wahre Kinder dieses seligen Vaters [Franz von Sales] sein wollen und dem entsprechen möchten, was die heilige Kirche von uns erwartet.
Meine Kinder, es muss die vollkommenste Liebe unter uns bestehen. Sie soll nicht nur in unseren Handlungen, unseren Worten und Gedanken sein, sondern auch in unseren Gefühlen. Da ist eine Schwester, die seit wir sie kennen, nie die Ordensregel gut erfüllt hat. Sie ist unangenehm, wenig herzlich, geschwätzig, sie macht nichts Gutes. – Ich zeichne nicht das Bild einer Oblatin; ich hoffe, dass unter euch keine so ist! – Wohlan! Könnt ihr zu dieser Schwester, die nur Ärgernis erzeugt, liebevoll sein? Ja, ihr könnt es! Ihr werdet mir sagen: „Aber, mein Vater, wie sollen wir von ihr viel Gutes denken oder sagen können?“ Viel, nein, aber ihr könnt ein wenig von ihr sagen. Sie hat Glauben, Gottesliebe, sie hat einige gute Eigenschaften. Warum sollt ihr, die ihr nicht ihre Oberin seid, euch mit ihren Fehlern beschäftigen? Wenn ihr ihre Amtsschwester seid, könnt ihr es der Oberin sagen, aber das ist alles. Ihr seid in Beziehung mit ihr? O, also müsst ihr sie lieben, durch eure Liebe, euer Beispiel und euer Gebet müsst ihr ihr mit ganzem Herzen helfen. Unter euch dürft ihr nie sagen: „Meine Schwester, eine solche ist sehr unangenehm, sie macht dies und das.“ Denn das wäre ein Mangel an Liebe. Beurteilt diese Schwester nicht ungünstig, sagt euch, wenn ich sie schlecht beurteile, beurteilt sie der liebe Gott vielleicht ganz anders. Es kann vorkommen, dass vor Gott eine Schwester, von der ihr viel Gutes denkt, in der Tugend unter der steht, von der ihr so viel Schlechtes denkt. Warum das? Weil es in den Seelen Geheimnisse gibt, die ihr nicht wissen könnt. Der liebe Gott lässt diese Verfehlungen in dieser Schwester zu, um sie zu demütigen. Wenn man nicht beauftragt ist zu urteilen, muss man sein Urteil fallen lassen, vorbeigehen lassen, nicht darauf achten. Bei denen, die damit beauftragt sind, ist es etwas anderes. Sie werden darüber Gott Rechenschaft ablegen müssen. Denen, die nicht damit betraut sind, sage ich: Seht in dieser Seele nur, was gut ist.
Meine Kinder, übt also die Liebe, wie ich euch soeben sagte. Es ist gefährlich, äußerst gefährlich zu urteilen. Wer kenn das Geheimnis der Seelen und kann ihren Verdienst abschätzen? … Wer? … Ihr kennt die Geschichte von diesem heiligen Einsiedler, der sein Leben mit Fasten und Beten verbrachte und alle Arten von Härten und Kasteiungen übte? In einem Augenblick der Versuchung hatte er vom lieben Gott verlangt, ihm die Seelen bekannt zu machen, die ihm an göttlicher Liebe gleichen können, und Gott gewährte ihm, was er wünschte. Eine innere Stimme sagte ihm: „Geh nach Alexandrien und klopfe an jene bestimmte Tür.“ Von Neugierde getrieben nimmt er seinen Wanderstock und macht sich auf den Weg. Als er vor dem bestimmten Haus ankommt, sagt ihm die Stimme: „Hier ist es.“ Er findet eine Frau von einfachem bescheidenen Äußeren, die sich jedoch eines gewissen Wohlstandes zu erfreuen schien. Sie gehörte in der Gesellschaft zur Mittelschicht. Die innere Stimme sagte ihm: „Es ist hier noch eine andere Person.“ Nun sagte der Einsiedler zu dieser Frau: „Sind sie allein in diesem Haus?“ „Nein“, sagte sie, „ich lebe mit meiner Schwester.“ Und sie ließ sie kommen. Diese beiden Frauen, die das einfachste und gewöhnlichste Leben führten, erschienen vor dem in den Nachtwachen und Arbeiten des klösterlichen Lebens ergrauten Greis, der seine Heiligkeit im Vergleich mit ihrer gestellt sah: „Beten sie lange?“, fragte er sie. „Nein, wir haben keine Zeit dazu, aber seid wir zusammen sind, haben wir uns versprochen, nie etwas gegen unseren Nächsten zu sagen, und wir haben Wort gehalten.“ In sein Kloster zurückgekehrt, versammelte der Heilige seine Mönche und erzählte ihnen, was ihm geschehen war. Diese wurden von Furcht ergriffen. „Mein Gott“, sagten sie, „wenn unser Vater, der so heilige ist, vor dir nur das Verdienst dieser einfachen Frauen hat, was sind dan wir? Elende Arme, die dein göttliches Erbarmen anrufen müssen!“
Seht, meine Kinder, was erzeugte bei diesen beiden Frauen die Treue ihr Versprechen zu halten? Sehr, wie die Nächstenliebe die Seelen heiligt und Gott angenehm macht. Ihr werdet also wohl vermeiden, gegeneinander zu sprechen. Dies wäre auf jeden Fall gegen das, was ihr sagen und machen sollt, was ihr sein sollt. Das wäre scheußlich bei den Oblatinnen! Wir müssen in unseren Gesprächen vermeiden, was die Liebe verletzen kann, denn, wenn eine Oblatin gegen die Liebe fehlt, ist sie nicht mehr Wert als eine Kapuzinerin, die eine gute Matratze nehmen würde, um darauf zu liegen. Was ich euch da sage, ist sehr ernst, äußerst ernst.
Während der fünfunddreißig Jahre, in denen ich die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis kannte, hörte ich sie nie etwas gegen die Liebe sagen. Wenn sie bei einer Schwester einen zu korrigierenden Fehler sah, sagte sie: „Man müsste in ihr abnehmen“, oder auch „Man müsste sie dies oder das merken lassen.“ Sie achtete immer die Person, und kritisierte sie nie. Sie sagte einfach, dass man diese Schwester über ihren Fehler in Kenntnis setzen müsse, damit sie nicht mehr hineinfalle. Sie sah diesen Fehler wie einen Fleck, den man verschwinden lassen muss. Ich habe das immer an ihr bemerkt, wie auch eine sehr große Achtung vor der am wenigsten guten, am wenigsten tugendhaften Mitschwester. Sie verinnerlichte die Gedanken des heiligen Franz von Sales. „Das ist eine Seele“, sagte sie, „die nach dem Abbild Gottes geschaffen ist, und dieser Fehler in ihr ist ein mehr oder weniger großer Fleck, den auszulöschen man versuchen muss.“ Wenn sie sich mit der Korrektur der Fehler des Nächsten befasste, hatte das bei ihr die Wirkung wie einen Fleck abzuwischen, der auf einem Spiegel wäre und ihn trübe. Wenn man so handelt, fehlt man nicht gegen die Liebe. Wenn ihr mit einer Schwester betraut seid, sollt ihr sie beraten. Wenn ihr nicht mit ihr betraut seid, sollt ihr für sie beten. Macht es wohl so.
O meine Kinder, bekundet also eine große Liebe! Ich würde eine Oblatin verfluchen, die die Gewohnheit hätte, ungünstig über diese oder jene, diesem oder jenem Haus zu sprechen, von dem, was man sagt, von den Maßnahmen, die man ergreift. Der liebe Gott würde sie bestrafen, und er würde sie so hart bestrafen, dass ich unter euch nicht solche Oblatinnen sehen möchte. Sie würden ihre Berufung verlieren! Es wäre dasselbe, wie wenn Kartäuser Fleisch essen würden. Wenn sie es machten, wäre es ein sehr schwerer Fehler. Ihr, meine Kinder, bekundet, nicht gegen die Nächstenliebe zu fehlen. Gegen diese Tugend zu fehlen, ist also für euch ebenso schwer wie für einen Kartäuser Fleisch zu essen und für die Kinder des heiligen Franz von Assisi Gold oder Silber zu besitzen. Versteht das gut. Ich habe es euch schon gesagt: Was wäret ihr, wenn ihr die Nächstenliebe nicht übt? Ihr wäret nichts, nicht. Und der Beweis, dass ihr nichts wäret, ist, dass die erste Christin, die ich auf der Straße treffen werde und zehn Mal, hundert Mal mehr Widersprüche und Ängste hat als ihr, dass diese, wenn sie sie nun gut annimmt, mehr Verdienste hat als ihr, die ihr nicht übt, wozu ihr verpflichtet seid. Ihr bekundet die Lehre des heiligen Franz von Sales zu folgen, man muss also die Nächstenliebe üben.
Ist es leicht, hart zu liegen? Nicht zu sehr. Ist es leicht, die ständige Stille zu wahren, die Armut bis zu den letzten Grenzen zu üben? Das ist überhaupt nicht leicht. Ist es leicht, die Nächstenliebe zu üben? Das ist noch schwerer. Wenn wir also, meine Kinder, unsere Regel gut einhalten, werden wir in den Augen des lieben Gottes ein sehr großes Verdienst haben. Es ist leichter, immer fleischlos zu essen, als seine Zunge, seine Gedanken, seine Gefühle bezüglich des Nächsten in Zaum zu halten. Eine Nonne zum Beispiel, die große Abtötungen übt, die hart liegt, empfindet eine gewisse innere Befriedigung, sie fühlt, dass sie etwas Großes, Großmütiges macht. Welche Befriedigung könnt ihn hingegen empfinden, wenn ihr die Nächstenliebe übt? Keine. Ihr habt gerade gemacht, was ihr machen musstet, ihr schenkt dem lieben Gott diesen Akt der Treue, und das ist alles.
Es ist umso verdienstvoller, zur Vollkommenheit unseres Standes zu gelangen, da diese Pflicht zur Nächstenliebe sehr schwer zu erfüllen ist. Wenn ihr euch davon überzeugen wollt, lest noch einmal das kleine Kapitel, wo der heilige Franz von Sales sagt, dass wir kein anderes Band als das der Liebe haben. Und ihr werdet bemerken, dass er wie in Ekstase fällt bei dem Gedanken, dass die Seelen diese heilige Liebe verstehen und üben werden. Er nennt uns seine Freunde und seine Krone. Wenn ihr also gut macht, was unser seliger Vater [Franz von Sales] sagt, seid ihr schon jetzt seine Freunde und ihr werdet eines Tages sein schönster Edelstein sein, der Edelstein, der im Himmel seine Krone schmücken wird, und der unvergleichlich strahlender sein wird als alle Sterne des Firmaments. Warum das? Weil ihr die Nächstenliebe geübt haben werdet. Seien wir also für immer glücklich, Teil seiner geistlichen Familie zu sein!
Meine Kinder, übt alle Tage die große Aufgabe der Nächstenliebe, übt sie euer ganzes Leben lang. Mögen eure Vorsätze zu diesem Punkt tragen. Beschäftigt euch damit bei der Betrachtung und in eurer Gewissenserforschung. Seht, wo ihr am Tag gefallen seid, wo ihr gewohnheitsmäßig fehlt. Arbeitet nur daran, wenn ihr wollt. Wenn ihr ernstlich daran gearbeitet habt und es gut macht, verspreche ich euch, ihr werdet heilige Nonnen werden. Was verlangt die meiste Kraft, Fähigkeit, Großmut und Energie? Es ist die Übung dieser Tugend. Bemüht euch also, es gut zu verstehen. Und wenn ihr es noch nicht genug versteht, bittet den lieben Gott um den Verstand dafür.
Ich sehe, dass jede von euch den Wunsch hat, die Nächstenliebe zu üben. Nehmen wir diese Pfade und begehen wir sie mutig. Lassen wir alles in uns sterben, was gegen diese Tugend ist. Mut, meine Kinder, habt keine Angst. Der Gott der Liebe wird euch helfen, und er wird euch lieben. O Jesus! Liebe sie, gib ihnen, was sie brauchen, um dir ähnlicher zu werden!
„Warum bleibst du in deinem Tabernakel, o mein Heiland? Weil du uns liebst. Und dennoch, wäre ich allein auf Erden, du würdest für mich alleine noch dort bleiben! Deine Liebe hält dich dort geopfert. Warum bist du so unbeweglich? Warum bist du so stumm? Aus Liebe zu mir. Und du sagst mir, dass ich aus Liebe zu dir für alles stumm sein soll, das aus meinen persönlichen Eindrücken kommt, für alles, das gegen die Nächstenliebe ist. Möge ich dich nachahmen, Herr! Möge ich wie du in deinem Tabernakel sein! Möge ich fühlen, dass ich mit der Vergangenheit gebrochen habe, dass ich beginne, meine Vorsätze zu halten. Ich sage dir heute Abend ein großes Ja. Ich lege dieses Versprechen der Nächstenliebe in deinen Tabernakel, in dein Herz! Du wirst mir die Gnade schenken, es treu und mutig zu erfüllen.“ Amen.