Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1877

      

5. Vortrag: Über die Gewissenserforschung über die Liebe im Allgemeinen und über jene Liebe, die man bei der Beschäftigung und bei der Erholung beachten soll

Donnerstag Vormittag, 13. September 1877

Meine Kinder, wir werden die Gewissenserforschung unseres Alltags fortsetzen. Gestern betrachteten wir unsere Verpflichtungen Gott gegenüber, heute werden wir unsere Pflichten gegenüber den Nächsten betrachten. Und wenn es die Zeit erlaubt, werden wir auch betrachten, welche Verpflichtungen wir uns selbst gegenüber haben.
Der heilige Franz von Sales hatte einen großen, einen wunderbaren Gedanken, der sicher vom Himmel her kam. Er wollte aus seiner Kongregation ein Paradies auf Erden machen, und deshalb wollte er sie gründen, nicht wie alle Kongregationen auf den drei Gelübden der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams, sondern hauptsächlich auf der absolutesten Liebe zueinander.
Am Anfang des Direktoriums heißt es, dass die Liebe stark wie der Tod ist. Das ist ein Wort, das ihr oft wiederholt, worüber ihr aber vielleicht nicht genug nachdenkt. Der heilige Franz von Sales dachte, dass eine gefestigte Ordensregel, die auf einer gut geübten Liebe gegründet ist, eine vollkommene Ordensregel ist. Als er seine Nonnen gründete, nannte er sie Oblatinnen. Das ist der erste Name, den er den Heimsuchungsschwestern gab. Sie wurden die Schwestern Oblatinnen der Heimsuchung genannt. Und wenn man die erste von unserem seligen Vater [Franz von Sales] erbaute Kirche abreißen würde, dann würde man auf dem von ihm gelegten Grundstein eine Inschrift finden, wo man sehen würde, dass er seine Nonnen Oblatinnen genannt hatte. Aus diesem Haus ist jetzt ein Hotel gemacht worden, das Kloster ist zerstört, nur die Kirche blieb erhalten.
Meine Kinder, der heilige Franz von Sales wollte also, dass die von ihm gegründeten Nonnen keine andere Regel hätten als die vollkommene Liebe, und er sagte, dass sie damit heilig, sehr heilig wären, dass sie wie im Paradies seien, wo alle Herzen nur eine einzige Liebe haben, wo alle Herzen nur ein einziges in derselben Liebe bilden. Das war der Gedanke unseres seligen Vaters [Franz von Sales]. An dem Tag, wo ihr die Liebe vollkommen üben werdet, werdet ihr sagen können, dass ihr seine liebsten, seine innigst geliebten Töchter seid. Das war sein großes Gelübde, sein großer Plan, sein großer Wunsch.
Warum diese lange Vorrede, meine Kinder, ehe ich von den verschiedenen Übungen der Nächstenliebe spreche? Damit ihr wisst, dass ihr, wenn ihr Oblatinnen des heiligen Franz von Sales seid, ein viertes Gelübde ablegen müsst: das Gelübde der Liebe. Der heilige Franz von Sales wollte – ich wiederhole es – seine Ordensregel einzig und allein auf die Liebe gründen. Er sagte, wenn man den Nächsten liebt, liebt man vollkommen den lieben Gott. Versteht das gut. Ich werde nicht weiter darauf zurückkommen. Ich hoffe, dass jede gut verstanden hat, dass es der Wunsch des heiligen Franz von Sales war, seine Oblatinnen auf der Liebe zu gründen. Er sagte, dass man damit alles vermöge.
Meine Kinder, die Liebe zu Gott ist sehr verdienstvoll, aber die Liebe zum Nächsten aus Liebe zu Gott ist es noch mehr. Dem lieben Gott muss man sich opfern, ohne Zweifel, und das ist teuer. Aber der liebe Gott ist ganz liebenswert, während der Nächste nicht immer ganz liebenswert ist. Auch wir, wenn wir uns näher betrachten wollen, werden sehen, dass wir nicht immer liebenswert sind. Wenn wir unseren Charakter betrachten, werden wir sehen, dass er mehr oder weniger fehlerhaft, misstrauisch, eifersüchtig, stolz ist. Wir haben nicht immer eine wunderbare Vollkommenheit. Man muss also wohl den anderen einige Unvollkommenheiten gestatten, da sie uns selbst nicht fehlen. Es ist schwerer, den Nächsten aus Liebe zu Gott zu lieben, als einfach Gott zu lieben. Man verleugnet sich selbst mehr, wenn man etwas für den Nächsten tut, als wenn man etwas für den lieben Gott macht, weil dieses tun schwieriger und folglich verdienstvoller ist.
Da also, meine Kinder, die Übung dieser Liebe die hervorragendste ist, und da ihr einzig für sie gegründet seid, ist man nicht Oblatin, wenn man nicht taktvoll ist, wenn man nicht diese Liebe zu seinem Nächsten hat, wenn man ungünstig von einem Haus spricht, wenn man ungünstig vom Nächsten spricht, von einer Schwester oder einem anderen. Man muss vermeiden, von diesen Dingen zu sprechen. Die Liebe, die Einheit verlangt es. Sagt zu euch selbst: „Bin ich nicht Oblatin? Wenn ich ihr Gewand trage, so ist es, um als Oblatin zu handeln und die Liebe einer Oblatin zu haben.“
Meine Kinder, ohne die Übung der Nächstenliebe würdet ihr nur eine fromme Jungfrau sein wie die so genannten frommen Jungfrauen von ehedem. Es gibt jetzt kaum mehr welche, sie verschwanden. Diese frommen Jungfrauen, wie man sie nannte, waren gute, brave Mädchen, die nicht gegen das Gesetz Gottes fehlten, die aber kaum zu Gunsten des Nächsten ihren Mund hielten. Sie hörten nicht auf, von dieser oder jener zu sprechen. Sie verbrachten ihr Leben mit Gesprächen auf Kosten von jedermann. Das war ihr heiliges Leben! Es waren dennoch gute Seelen, die aber Schlangenzungen hatten! Sind sie in den Himmel eingegangen? Man muss es ohne Zweifel hoffen, aber ihre Zunge müsste wohl eine gewisse Zeit im Fegefeuer verbringen! …
Wenn wir also nicht die Nächstenliebe einhalten, meine Kinder, können wir so genannte fromme Jungfrauen sein, aber keine Oblatinnen, denn die Oblatinnen müssen die Nächstenliebe üben, nicht nur, weil der Nächste ein Recht darauf hat, sondern weil es unser Herr verlangt. Wir haben keine Ordensregel, die über dieser steht. Wenn eine Karmelitin ein Schnitzel essen oder auf einem weichen Kissen liegen würde, wenn sie so handelte, wäre sie keine Karmelitin, da sie ihre Ordensregel nicht einhalten würde, die sie verpflichtet, alle Tage zu fasten und hart zu liegen. Ebenso wäre eine Oblatin keine Oblatin, wenn sie die Nächstenliebe nicht einhalten würde. Sie wäre wie eine Karmelitin, die Karmelitin sein wollte und jeden Tag ein Festmahl hielte. Warum dies? Weil die Oblatinnen gegründet wurden, um die Nächstenliebe zu üben. Das ist euer Büßerhemd, euer Fasten, euer Bußgewand. Es ist schwer für eine Karmelitin, hart zu liegen, es ist auch schwer, liebevoll zu sein. Es ist eine große Abtötung, nichts Schlechtes über seinen Nächsten zu sagen, sich auf dessen Kosten keine Überlegung zu gestatten. Das ist schwer, aber man muss es machen. Ihr seid die Kinder des heiligen Franz von Sales, also müsst ihr ganz besonders die Liebe zum Nächsten üben.
Ihr seid verpflichtet, bei eurem Stundengebet, bei eurer Beschäftigung liebevoll zu sein. Man hat Grund, die Liebe mit den verschiedenen Charakteren zu üben. Die Schwester im Amt kann sich über ihre Gehilfin beklagen müssen: diese Gehilfin ist nicht sorgfältig, sie achtet nicht auf Sauberkeit, alles, was ihr anvertraut ist, ist schlecht geordnet. Man muss sie mit Güte dazu bringen, ihre Arbeit gut zu machen, die Liebe an ihr üben, sie achten. Sie ist nicht eure Dienerin. Eine andere ist ein so genanntes Original. Alles, was lächerlich ist, scheint ihr gut, was komisch ist, gefällt ihr. Ihr aber habt einen guten Charakter, derartige Launen missfallen euch. Eine andere hat einen fröhlichen Humor, sie ist immer zufrieden, und ihr seid immer traurig. Sie sieht alles schön, ihr seht alles schwarz. Das ist schwer für euch. Da sind so viele Übungen. Wie soll man es dann machen, um die Nächstenliebe zu üben? Ihr sprecht darüber zu eurer Meisterin, zu eurer Mutter, ihr sagt auch eurem Beichtvater ein Wort darüber. Ihr demütigt euch, in dem ihr gesteht, dass ihr in diesem Punkt unvollkommen seid, dass ihr Abneigung gezeigt habt, und ihr bittet um Rat, wie ihr handeln sollt.
Jetzt, meine Kinder, versteht mich gut. Ihr habt etwas, das sich nicht für eine Schwester schickt, könnt ihr eurem Beichtvater ein Wort darüber sagen? Ja, gewiss. Doch wenn euer Beichtvater ein guter Mann ist, aber nicht im Stande ist zu verstehen, was ihr ihm sagen werdet, wenn er, wenn ihr von den Schwierigkeiten sprecht, die ihr mit einer Schwester habt, euch antworten sollte: „Verweist sie auf ihren Platz!“, dann tätet ihr besser daran, nicht über diese Dinge mit ihm zu sprechen, sie nur unserer Mutter zu sagen. Klagt euch nur an, gegen die Nächstenliebe gefehlt zu haben.
Meine Kinder, wenn ihr diese Liebe in der Beschäftigung gut übt, heiligt ihr euch mehr, als wenn ihr auf hartem Untergrund liegen würdet. Ihr heiligt euch mehr, als wenn ihr von einer weniger vollkommenen Nächstenliebe belebt fasten und das Büßerhemd tragen würdet. Also, die Nächstenliebe bei der Arbeit.
Sprechen wir jetzt von der Zeit der Erholung. Wie übt ihr da die Nächstenliebe? Die Zeit der Erholung ist nicht immer mit jedem zu machen. Da treffen einander die verschiedenen Charaktere. Jede soll immer ihr Kontingent an Fröhlichkeit einbringen, damit die Erholung für alle angenehm ist. Aber vor allem soll man da nicht ungünstig von Häusern, noch von einer Schwester, noch von einer anderen, noch von irgendjemandem sprechen. O meine Kinder! Ich warne euch, dass der heilige Franz von Sales die nicht anschauen wird, die gegen die Nächstenliebe gesprochen haben, wenn sie vor dem lieben Gott erscheinen werden. Wenn man eine Dienerin hatte, die ohne sehr schlecht zu sein, nicht sehr gut war, und man trifft sie, macht man ihr kein böses Gesicht, aber auch kein so gutes, als wenn man mit ihr zufrieden gewesen wäre. Nun denn! Der heilige Franz von Sales wird die nicht anschauen, die handeln würden, wie ich euch soeben sagte. Das sind alte Schwätzerinnen. Wenn sie vor dem lieben Gott erscheinen werden, wird unser seliger Vater ihnen nicht sehr freundlich entgegenkommen. Geschwätz war für ihn schrecklicher als alles andere. Ich werde ihn bitten, dass er die Geschwätzigen weder in dieser Welt noch in der anderen anschaut.
Meine Kinder, achtet darauf, achtet auf eure Gespräche auf Kosten der anderen! Seid großmütige Seelen! Da ist etwas, das euch gegen den Strich geht. Sagt es einfach liebevoll und demütig unserer Mutter, und sie wird euch diesen Stachel entfernen.
In der Zeit der Erholung müsst ihr also von Nächstenliebe und Güte eingenommen sein. Das ist eine schwierige Schwester, die einen eigenartigen Charakter hat. Man sollte solche Charaktere nicht haben. Aber wenn sich eine unter euch befinden würde, müsstet ihr sie mit eurer Liebe umgeben. Da ist eine Schwester, die euch widerspricht, lasst es, achtet nicht darauf, und ihr übt die Nächstenliebe.
Wenn ihr dem treu seid, was ich euch sage, meine Kinder, wenn ihr nicht tratscht, wenn ihr gehorsam seid, wird euch der liebe Gott helfen und ihr werdet Heilige, große Heilige sein. Ich verlange nur das von euch. Der heilige Franz von Sales verlangte nichts anderes. Wenn man zu viel redet, ist es sehr gefährlich. Man läuft Gefahr, seine Angelegenheiten zu verwirren. Das Gespräch, das sehr schnell aus dem Mund kommt, ist Wasser, das schnell fließt. Man hat nicht genug Gutes zu sagen, so sagt man also Schlechtes. Eine Schwester lässt ihren Gefühlen freien Lauf, es ist gegen die Regel, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, wenn man es nicht von uns verlangt, vor allem wenn dies trocken, schroff geschieht. Wenn das zu weit geht und unsere Mutter es nicht bemerkt, sagt man es ihr. Man muss euch helfen lassen. Wenn ihr wüsstet, wie viel Würde die Nächstenliebe eurer Seele gibt! Sie gibt ihr das Siegel des wahren Ordenslebens.
Ihr werdet über das nachdenken, was ich euch soeben sagte, ihr werdet daran denken. Ihr werdet diese Tugend, die unser seliger Vater [Franz von Sales] so sehr bevorzugte, gerne üben, damit er euch als seine geliebten Töchter erkennt.
Ich bin zufrieden, meine Kinder, ich bin glücklich über eure Exerzitien. Sie gehen gut. Ich fühle, dass eure Seelen zum lieben Gott gehen, und dass sie vor meiner kommen. Möge unser Herr, das Wort Gottes eure Seelen, eure Herzen, eure Zungen, eure Worte behüten, damit nichts von dem, das ihr sagen werdet, gegen die heilige Liebe ist, denn Gott ist Liebe. Amen.