Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1873

      

10. Vortrag: Über die Nächstenliebe

Samstagabend, 27. September 1873

Meine Kinder, ihr sollt die Selbstliebe üben, wie ich es euch zeigte, als ich von den Pflichten sprach, die euch besonders betreffen: die innere Sammlung, das Gebet. Ich habe auch von euren Pflichten Gott gegenüber, von der Betrachtung gesprochen. Heute Abend werde ich von der Nächstenliebe sprechen. Diese beiden Arten der Liebe machen ein einziges Gebot. Unser Herr gebietet die Nächstenliebe ebenso streng wie die Gottesliebe. Er sagt: Ihr sollt Gott und euren Nächsten lieben. Er will also, dass man für den Nächsten macht, was man für ihn macht, und das ist ein strenges Gebot. Ohne Zweifel ist es leichter, es in Bezug auf Gott zu erfüllen, der ganz Liebe, Milde und Sanftmut ist, als in Bezug zum Nächsten, der manchmal derb, unehrlich und böse ist. Geht jedoch mit großer Milde auf ihn zu, behandelt ihn immer mit großer Achtung, Güte und Sanftmut. Der heilige Franz von Sales empfiehlt es euch sehr.
Wie soll also eine Oblatin zum Nächsten sprechen? Auch hier, meine liebe Töchter, soll sie es nicht wie jedermann machen. Der besondere Charakter einer Oblatin des heiligen Franz von Sales ist die Milde, die Nächstenliebe. O, teilt sie immer mit einem großen Geist der Sanftmut mit! Mögen von euren Lippen immer nur Worte des Wohlwollens, der Nachgiebigkeit kommen. Möge euer Äußeres gut dem des heiligen Franz von Sales ähneln, der so gut, so liebenswürdig war. Bemüht euch um diesen Zug der Ähnlichkeit mit unserem seligen Vater. Sehr: Gewöhnlich sind die Kinder einer Familie einander ähnlich. Es ist etwas in ihren Zügen, ihren Gesten, ihrem Wesen, das erkennen lässt, dass sie zur selben Familie gehören. Ähnelt euch alle dem heiligen Franz von Sales! Möge es in euch eine Familienähnlichkeit geben, möge man in eurem Äußeren etwas Sanftes, Liebenswürdiges, Anmutiges bemerken! Möge die Heiterkeit im Bezug auf den Nächsten auf eurem Gesicht zu sehen sein! Wie voll Achtung war unser seliger Vater, wenn er jemanden ansprach! Seht seine Beziehungen zu seinem Diener François: „Würden Sie, bitte“, sagte er, „mir diesen Dienst erweisen?“ Er sprach nie im Befehlston, sondern immer in der Form der Bitte.
Man erzählt sich von ihm, dass eines Tages ein kleiner Kaufmann aus Paris in Annecy Station machte und beim heiligen Bischof abstieg. Er fühlte sich dort wohl. Er aß und schlief im Bischofshaus. Und jedes Mal, wenn er in Annecy vorbeikam, versäumte er es nicht, beim heiligen Bischof abzusteigen. Er empfahl ihm seine kleinen Geschäfte, erzählte ihm von seinem Handel und unser guter Heilige hörte ihm immer mit Interesse, Wohlwollen und einer großen Güte zu. Als eines Tages der Heilige diesen Mann einlud, als Erster in den Speisesaal einzutreten, weigerte sich dieser, und unser guter Heiliger sagte zu ihm: „Aber doch, diese Ehre gebührt Ihnen, haben Sie nicht das Sakrament der Ehe empfangen?“ – „Aber nein, Monsignore, ich war nie verheiratet.“ – „O! Gut also,“ nahm der heilige Franz von Sales das Gespräch wieder auf, „ich werde von nun an einfacher mit Ihnen umgehen.“ Man sieht daraus, meine Kinder, welcher Geist des Glaubens unseren seligen Vater belebte und mit welcher Sanftmut und Milde er den Nächsten behandelte.
Wenn ihr Beziehungen mit Personen entweder für die Arbeit oder etwas anderes eingeht, zeigt euch immer sehr freundlich. Ihr müsst es, eure Berufung verpflichtet euch dazu. Trotz der Zudringlichkeit eines gewissen Nächsten lasst nie eine Ungeduld in Erscheinung treten, behandelt alle mit großer Achtung, versäumt es nie, den guten Engel für die Person zu bitten, mit der ihr in Verbindung seid. Wenn ihr für jemand arbeitet, bittet wieder den guten Engel für die Person, für die ihr arbeitet. Seid achtungsvoll selbst zu den Mädchen, sanft zu jeder, achtet die kleinen Geheimnisse, die sie euch anvertrauen, seid diskret! Und wenn ihr welche trefft, deren Familie euch Widerwillen für das Mädchen verursacht, liebt es dennoch, bezeugt ihr großes Wohlwollen, behandelt sie mit Herzlichkeit, der heilige Franz von Sales empfiehlt es euch ausdrücklich.
Man sieht aus einigen Worten, die er sprach, während er an der Universität in Padua war, wie er unseren Herrn um die Gnade bat, zum Nächsten gut und milde zu sein. Pater la Rivière sagte, man habe nie ein schöneres Vorbild an Milde gesehen. Mit dieser schönen Tugend hat er 70.000 Häretiker bekehrt. Man sah ihn nie ungeduldig werden oder jemanden mit Bitterkeit tadeln. Er sagte: „Mir sind 100 Pfund Milde lieber als eine Unze Essig! Mit einer Unze Essig würde ich mehr Seelen vertreiben, als ich mit 100 Pfund Milde gewinnen würde.“ Man würde gewöhnlich sagen, dass man mit Honig mehr Fliegen fängt als mit Essig. Was man mit Milde gewinnt, ist dauerhaft, das bleibt. Seht, wie der ganze Westen Frankreichs, der von Fénelon – einem der Männer, die die größte Ähnlichkeit mit dem heiligen Franz von Sales haben – bekehrt wurde, völlig katholisch blieb. Und konnte man dennoch ein raueres, wilderes Volk als das von Thonon sehen? Diese schlechten Menschen, die ihm soviel Böses wollten, die ihm ständig Fallen stellten und versuchten, ihn sterben zu lassen, hat der heilige Franz von Sales alle bekehrt. Wie hat er es geschafft? Durch Milde.
Meine Kinder, wenn ich euch so sehr empfehle, milde und herzlich zu sein, will ich damit nicht sagen, dass ihr diese Tugend bis zur Schwäche treiben müsst. O, nein! Aber ich verlange von euch eine feste Milde, ohne diese werdet ihr nichts machen. Wenn ihr ein Kind tadeln müsst, wenn ihr nur Milde anwendet und nicht an dem festhaltet, was ihr wünscht, werdet ihr nichts erreichen. Es gibt Charaktere, für die die Milde nicht genügt. Aber wenn ihr zu einem Mädchen milde und fest sprecht, werdet ihr sie gewinnen. Wenn es nicht das erste Mal ist, wird es das zweite Mal sein. Und wenn es nicht das zweite Mal ist, wird es das dritte Mal sein. Aber ihr werdet schließlich etwas erreichen. Eine Person, die milde und fest befehlen wird, wird mehr an dem festhalten, das sie sagt, als eine andere, die leidenschaftlich und aufbrausend befehlen wird. Eure milde vereint mit Festigkeit befiehlt; euer religiöses Aussehen, eure Einheit mit Gott, euer Großmut, ist eine Macht, die herrscht.
Wenn es jetzt vorkommt, dass sich ein Mädchen nichts aus der Milde macht, mit der ihr sie tadelt und darüber spottet, wenn sie es sogar an Achtung euch gegenüber fehlen lässt, ertragt es, bewahrt euch immer eure Milde zu ihr. Glaubt nicht, dass ihr euch deswegen gedemütigt habt, im Gegenteil, ihr überhebt euch über sie durch die Seelenkraft, mit der ihr diesen Akt der Tugend macht. Sprecht übrigens nie zu einem Mädchen, ohne vorher für sie gebetet zu haben, ohne eure gute Meinung gemacht zu haben, ohne ihren guten Engel angerufen zu haben. Der heilige Franz von Sales machte das immer so. Doch, ich wiederhole es, meine Kinder, manchmal werdet ihr auf schwierige Naturen stoßen, bei denen ihr, wenn ihr nur die Milde anwendet, keinen Erfolg haben werdet. Sprecht zu ihnen ein wenig kräftiger, mit ein wenig mehr Strenge; aber bewahrt euch trotzdem eure innere Ruhe.
Ich empfehle euch wieder, meine Kinder, die Achtung zu jedweder Person, zu der ihr Beziehungen habt. Seht, mit welcher Ehrerbietung der heilige Franz von Sales jeden behandelte. Herr Michel erzählt, dass er nach der Heiligen Messe zur Kirchentür ging, um in seinem Chorhemd die Nüsse und Edelkastanien entgegenzunehmen, die ihm die guten Frauen brachten. Und er empfing sie mit so viel Milde und Sanftmut, lächelte ihnen so anmutig zu, dass sie sich beim Weggehen vorstellten, dem guten Bischof sehr verpflichtet zu sein.
O, meine Kinder, ahmt unseren seligen Vater gut nach! Seid mildtätig zu jeder, sprecht vom Nächsten immer mit größter Achtung. Bittet den heiligen Franz von Sales, er möge euch diesen mildtätigen Geist, diesen Geist der Milde geben, um die Seelen für den lieben Gott zu gewinnen. Wenn es bis jetzt eine gewisse gute Tat gibt, so glaubt nicht, dass ihr sie gemacht habt, dass es ist, weil ihre euch damit beschäftigt habt. Unser Herr sagt uns im Evangelium, dass wir nur unnütze Knechte sind. Aber seid gute Nonnen und ihr werdet viel Gutes hervorbringen. Eine wahre Oblatin braucht nicht viel zu predigen oder lange Reden zu halten: ihre Kleidung, ihre Haltung, ihr Gesicht, ihr ganzes gesammeltes Äußeres spricht für sie, und das ist ein Wort, das in die Seele eines Mädchens geht. Man muss in eurer Seinsweise sehen, dass der liebe Gott in euch ist. Achtet wohl darauf.
Meine Kinder, eure Arbeit ist nicht vollendet, sie ist kaum begonnen. Es bleibt noch vieles zu tun. Ihr müsst der heiligen Kirche helfen. Meine Schwester Marie-Geneviève sagte mir: „Ihr kennt nicht das ganze Gute, das zu machen die Oblaten und die Oblatinnen berufen sind! Die Arbeit unseres heiligen Gründers ist nicht vollendet! Ich sehe ihn bei unserem Herrn, wie er die Aufgabe erhält, seine Werke auf der Erde fortzusetzen. Und er erwählte Sie, um dieses Werk für das Heil der Seelen bis zur Ankunft des Reiches Gottes zu vollenden. Aber Ihr glaubt es nicht!“ – „Doch, ich glaube wohl, was Sie mir sagen, meine Schwester!“ – „Nein, Ihr glaubt mir nicht genug, aber ihr werdet sehen, ihr werdet sehen!“ – „Aber ich glaube Ihnen wohl immer ein wenig, meine Schwester.“ – „Ihr glaubt mir nicht genug!“
Bittet also, meine Kinder, den heiligen Franz von Sales, dass er euch gibt, was er hatte, dass er euch seinen Geist der Milde, der Sanftmut schenkt. Das möge euer Gebet sein. Amen.