Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1873

      

1. Vortrag: Über die innere Sammlung

Montag Vormittag, 22. September 1873

Meine lieben Kinder, vor einigen Jahren sprach Mgr. Mermillod in dieser Kapelle zu euch und machte auch das Ziel eurer Kongregation verständlich. „Ihr seid“, sagte er, „berufen, der heiligen Kirche und dem Klerus zu helfen“. Tatsächlich, meine Kinder, sollt ihr dem Klerus und der Kirche dienen. Euer Amt ist es nicht, Gott den Seelen zu geben, wie es die Priester durch die Gnade ihrer Weihe und durch die Sakramente, die sie spenden, machen. So unwürdig der Priester auch sein mag, wenn er euch die Sakramente spendet, gibt er euch Gott; wenn er die Hostie auf eure Lippen legt, gibt er euch Gott. Wenn er euch die Absolution gibt, ist es wieder Gott, den er euch zurückgibt. Für euch ist es nicht dasselbe: ihr könnt Gott nicht durch eure Weihe spenden, aber ihr könnt es durch eure Vollkommenheit und die Heiligkeit eures Lebens, durch eure große Einheit mit Gott in euren Handlungen, euren Worten, eurem Beispiel. Ihr seid berufen, der Kindheit, der Jugend, dem reifen Alter zu dienen, und ihr werdet nur so weit nützlich sein, als ihr mit Gott vereint sein werdet; dann werdet ihr ihn den euch anvertrauten Seelen mitteilen. Es ist eine Tatsache der Erfahrung: ihr werdet in dem Maße geben, wie ihr haben werdet. Wie wollt ihr, dass ein Wort aus eurem Mund Wirkung haben kann und Früchte bringt, wenn ihr den lieben Gott nicht in euch, in euren Herzen habt? Das ist unmöglich.
Möge, meine Kinder, also Gott wohl in euren Seelen sein. Er möge alle eure Gedanken, Worte und Handlungen lenken. Ihr werdet nur etwas Gutes tun, wenn ihr Gott in euch habt. Dadurch werdet ihr euch in der Kirche nützlich machen. Möget ihr in eurer Einsamkeit, in eurem Inneren sehr gesammelt sein, verlasst den lieben Gott für keinen Augenblick, er sei immer mit euch.
Eine Caritasschwester pflegt ihre Kranken, sie macht es mit ganzem Herzen. Das ist sehr gut. Sie folgt ihrer Berufung. Eine Karmelitin befolgt gut ihre Regel, sie ist eine heilige Nonne. Eine Lehrerin hält Unterricht, macht es gut, das ist genug. Für euch ist es nicht das Gleiche. Das Wesentliche eurer Berufung ist eine große Einheit in Gott bei allem, was ihr macht. Man muss glauben, dass ihr nicht nur für eure Heiligung hier seid, sondern für die der anderen. Ihr werdet die Heiligung der Seelen nur so weit erreichen, als ihr in der inneren Sammlung, im Gebet und in euren Handlungen mit Gott vereint sein werdet. Erfasst wohl den Augenblick des lieben Gottes. Er kommt nicht in der Verwirrung und der Unruhe, sondern in der Stille. Seid wie der Profet, der, nachdem er lange gegangen und müde war, dieses Gebet sprach: „Herr, ich sehe wohl, dass ich nicht besser bin als meine Väter; ich mache nichts Gutes. Ich bitte dich, ziehe meine Seele zu dir zurück, denn ich fühle, wenn ich lange auf dieser Erde bleibe, werde ich nichts, das zählt, für mich und auch nicht für die anderen machen.“ Als er sein Gebet beendet hatte, schlief er ein. Aber während seines Schlummers weckte ihn ein Engel und sagte ihm, er solle das Brot essen, das sich dort unter der Asche gebacken befand, und das Wasser zu trinken, das sich in einem Gefäß befand. Der Profet gehorchte, aß und trank und schlief wieder ein. Ein zweites Mal weckte ihn der Engel und sagte ihm, er solle mehr essen und trinken, denn er habe einen langen Weg zurückzulegen. Der Profet gehorchte ein zweites Mal. Dann erhielt er vom Engel den Befehl zum Berg Horeb zu gehen und dort auf den Besuch des Herrn zu warten. Dort angekommen, wartete er. Bald kam ein sehr starker Sturm auf, der Steine zerbracht und viele Bäume entwurzelte. Der Profet warf sich nieder und sagte: „Da ist der Herr.“ „Nein, das ist nicht der Herr,“ antwortete ihm eine Stimme. Kurz darauf bebte die Erde. Der Profet sagte wieder: „Da ist der Herr.“ „Nein,“ antwortete ihm die selbe Stimme, „das ist noch nicht der Herr.“ Ein drittes Mal wurde ein kaum wahrnehmbarer Hauch gefühlt und nun sagte ihm die Stimme: „Hier kommt der Herr, komm, bete ihn an.“ (vgl. 1 Kön 19,4-13).
Meine Kinder, macht es wohl wie der Profet: Wartet auf den Besuch des Herrn nicht in der Unruhe des Sturms und des Erdbebens, sondern in der Sammlung und der Stille; dort werdet ihr den Herrn finden; hört gut auf seinen Hauch, ergreift ihn, und sobald ihr ihn empfangen habt, wird sogleich alles in euch die Sammlung, die Vereinigung mit Gott ausdrücken. Habt eine ernste, tief ernste Haltung.
Ihr müsst darauf gefasst sein, während der Exerzitien Ärger, Traurigkeit, Widerwärtigkeiten und Heimsuchungen zu haben, aber bereitet euch auch darauf vor, große Gnaden und reichliche Tröstungen zu empfangen. Der liebe Gott wird sie euch schicken, um euch auf die Arbeit, auf die Pflichten euerer Berufung vorzubereiten, um eure Kräfte zu erneuern.
Vor diesem Vortrag haben wir das Veni Creator (Komm, Schöpfer Geist) gebetet, um um den Geist Gottes zu bitten, dass er uns erleuchte, all unserer Schritte, unsere Gedanken, unsere Worte, unsere Handlungen lenke. Ruft ihn im Laufe des Tages oft an, meine Kinder, er kommt gern in die Seele einer Nonne, die ihn ruft.