Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 06.10.1895: Die Liebe ist so stark wie der Tod

Der hl. Franz v. Sales erklärt, nicht aus seinem eigenen Kopf und Verstand habe er die Gedanke seiner Lehre, die Satzungen der Heimsuchung und das Direktorium geschöpft. Er betrachtete all dies als ihm von Gott eingegeben. Davon war er so tief überzeugt und erhofft daraus treffliche Wirkungen für die Seelen, dass er auf der ersten Seite des Direktoriums seiner ganzen Freude, die sein Herz erfüllte, Ausdruck verlieh. Wie in der Geheimen Offenbarung des hl. Johannes setzt er gleichsam eine Prophezeiung an den Anfang seines Buches: „Besondere Wünsche. Der demütige Ruhm der Oblaten des hl. Franz v. Sales… Wir haben kein anderes Band als das der Liebe, das ja das Band der Vollkommenheit ist. Denn die Liebe ist stark wie der Tod und ihr Eifer unbeugsam wie die Hölle…“

Der hl. Franz v. Sales hatte es zuerst für möglich gehalten, einen Orden ohne ein anderes Band als das der Liebe zu gründen. Er wollte dies einzige Gelübde ablegen lassen, weil es ihm alle möglichen einzuschließen schien. Er glaubte, dies Gelübde bringe Tugendakte hervor, die solche Macht über das Herz Gottes ausübten, dass man auf die Ordensgelübde verzichten könne. Und die hl. Franziska v. Chantal teilte diese Meinung. Kardinal Bellarmin dagegen riet ihm, er möge sich an den allgemeinen Brauch der Kirche halten und dem religiösen Leben der Heimsuchung, wie überall, die drei Gelübde der Armut, Keuschheit und des Gehorsams unterlegen. Bellarmin tat dies, weil er für die Heimsuchung Schwierigkeiten und Verzögerungen voraussah. Seine Absicht war es also, der neuen Kongregation so zu einer leichteren Approbation zu verhelfen.

Gleichwohl trifft es zu, meine Freunde, dass die vollkommene Befolgung der Liebe sämtliche von den anderen Gelübden des Ordensstandes verlangten Tugenden einschließt, und dass man durch die Betätigung der Liebe rasch zu den höchsten Graden der Heiligkeit gelangt. Die Liebe zum Nächsten geht Hand in Hand mit der Liebe zu Gott oder folgt ihr wenigstens unmittelbar auf dem Fuß. „Das zweite Gebot“, sagt unser Herr, „ist ebenso groß wie das erste.“ Die Betätigung der brüderlichen Liebe entreißt die Seele der Erde und vereinigt sie aufs Innigste mit Gott, sodass unvergleichliche Gnaden mit dieser Tugend verbunden sind und die kostbarste davon ist eben die Heiligkeit.

Im ersten kanonischen Prozess der Guten Mutter Maria Salesia zu Paris, bei dem ich als Zeuge auftrat, sagte ich aus, ich habe die Gute Mutter niemals gegen die Nächstenliebe fehlen sehen. „Das ist ein treffender Beweis“, sagte mir da Msgr. Pelgé, einer der Richter. „Das ist ganz einfach Heroismus.“ Die Liebe zum Mitmenschen ist verdienstvoll, allgemein gesagt sogar verdienstlicher als die Liebe zu Gott, in dem Sinn, dass sie mehr Mut erfordert und größere Opfer verlangt. Man muss dabei der armen menschlichen Natur viel mehr Abbruch tun.
Wir Oblaten des hl. Franz v. Sales sollen die brüderliche Liebe auf eine ganz besondere Weise üben, das sie ja unser spezielles Band, unsere wesentliche Tugend sein soll. „Wir haben kein anderes Band als das der Liebe…“ Sie muss folglich unsere Haupttugend, unser vornehmster religiöser Akt sein, auf sie wurden wir gegründet.

Gewiss wird in den strengen Bußorden wie z.B. bei den Trappisten vielleicht eine nicht so zarte Liebe geübt. Ich hörte bei ihnen mitunter Urteile und Kritiken, die nicht unbedingt liebevoll klangen… Ihre Regel ist hart, ihre Abtötungen streng. Ihre Basis ist die körperliche Buße. Das macht verständlich, dass Liebe nicht diese Feinheiten kennt. Es kommt vor, dass diese guten Mönche sich untereinander manchmal nicht sehr gut vertragen, was sie freilich nicht hindert, sehr abgetötet und heilig zu sein.

Die Vollkommenheit ist eben nicht auf dieser Erde beheimatet. Das bedeutet für sie weniger Schuldhaftigkeit als es bei uns der Fall wäre. Sie tun dafür andere Dinge und praktizieren andere hervorragende Tugenden.

Diese Entschuldigung haben wir aber nicht, die wir aus der Liebe unsere spezielle Praxis machen sollen. Wurden wir doch gegründet, um unseren Herrn auf Erden wieder aufleben zu lassen. Der Herr war aber vor allem Liebe. Und darum lautet auch der erste Wunsch des hl. Franz v. Sales: „Wir haben kein anderes Band als das der Liebe.“ Fassen wir deshalb feste Vorsätze in Punkto Liebe. Wir wissen alle, dass es schwer ist, sie zu praktizieren. Jeder von uns hat seine eigene Art zu sehen, zu denken, zu urteilen… Dieser oder jener geht uns auf die Nerven, der Umgang mit ihm bedeutet uns eine Belastung, wie haben eine natürliche Abneigung gegen ihn, seine Handlungsweise verdrießt uns, ist ein Stein des Anstoße, ein Ärgernis… Ich kann es nicht verwehren, dass mir Gedanken über ihn aufsteigen… Ich will sie aber für mich behalten und ganz leise in meinem Herzen sprechen: Mein Gott, ich bin Oblate. Ich will all dem keine Beachtung schenken, sondern will kurz abschneiden. Das kostet mich etwas, aber es ist für Dich!

Handelt einer falsch, braucht ihr nicht aus Liebe zu sagen und zu denken, er handle recht. Wenn er unrecht tut, so hat  er vielleicht ein verschrobenes Urteil. Und handelte er selbst aus eindeutig bösem Willen, so wollen wir nicht über ihn herfallen und ihn verurteilen. Hier liegt eben eine Schwäche, eine Erbärmlichkeit vor. Helft ihm, wie man einem Elenden, Armen, Schwachen und Bestraften (?) hilft. Helft ihm, so gut ihr könnt, aus seinem Elend herauszukommen, wenigstens durch Gebet und Opfer für ihn.

Macht diese ganze Woche hindurch dieses geistige Training, denn es handelt sich hier wirklich um eine geistige, moralische und religiöse Gymnastik. Es ist die nützlichste Übung, die wir vornehmen können. Jeden Augenblick bietet sich dazu eine Gelegenheit. Nichts zieht ein größeres Verdienst nach sich, weil nichts mehr Schwierigkeiten bereitet. Was mich betrifft, so habe ich nur einen einzigen Menschen die Liebe vollkommen üben sehen: die Gute Mutter Maria Salesia.

Diese Seins- und Handlungsweise verleiht uns, wenn wir ihr treu bleiben, ein ganz besonderes Gepräge, eine eigene Physiognomie, ein spezielles Unterscheidungsmerkmal. Denn, ich sage es noch einmal, man trifft sie nur höchst selten an. Fragen wir uns also, ob wir uns gut in den Grenzen der klösterlichen Liebe halten und ob wir uns von dieser Seite her nichts vorzuwerfen haben. Praktizieren wir gebührend die negative Liebe, indem uns des Bösen enthalten, und betätigen wie die positive Liebe, indem wir das Gute tun. Erforschen wir unser Gewissen. Möge darin unsere besondere Übung in dieser Woche und bis zum hl. Weihnachtsfest bestehen. Es diene euch als Vorbereitung auf die hl. Weihen und als Adventsabtötung! Nur dann sind wir echte, starke und gute Ordensleute. Die Übung der Liebe zu Gott und zum Nächsten, meine Freunde, stellt einen hohen Wert dar. Das Ordensleben wird durch nichts mehr gefestigt und befruchtet als durch sie. Als man in der Französischen Revolution die Klosterpforten öffnete und den Nonnen anbot, sich ihrer Gelübde zu entledigen, nahm mehr als eine dieses Angebot an. Diese armen Töchter wussten nicht recht, woran sie waren und hatten Angst. Die Geschichte berichtet, dass alle Heimsuchungsschwestern treu blieben. All verzichteten auf die Freiheit, die man ihnen da eröffnete, in die Welt zurückzukehren, außer einer: und diese musste wohl geistig nicht normal gewesen sein. Unter den Klöstern gab die Heimsuchung somit das Beispiel der Treue. Woher kam das? Nach meiner Überzeugung erhielt sie die Liebe in ihrer Treue. Das hielt sie zusammen, dieses „Band der Liebe, das ja das Band der Vollkommenheit ist. Die Liebe ist ja stark wie der Tod und unbeugsam wie die Hölle ihr Eifer.“

Wie kommt es, dass das Land Savoyen bis in unsere Zeit die glaubensstärkste und best-praktizierende Provinz Frankreichs ist? Nach meiner festen Überzeugung deshalb, weil Franz v. Sales ihm das Evangelium verkündet hat. Er hat ihm durch Wort und Tat die Praxis der christlichen Liebe vermittelt, und das Andenken an den hl. Bischof ist dort heute noch lebendig. Denn beachtet wohl, meine Freunde, die Erfolge im Apostolat stets im direkten Verhältnis zu den Tugenden des Missionars stehen: ein Prediger, der selber von Liebe glüht, wird jene, denen er predigt, dazu führen, ihrerseits die Liebe zu üben. Was in diesem Geist getan wird, wird überdauern und Frucht bringen. Noch einmal sei es gesagt: „Die Liebe ist das Band der Vollkommenheit, denn sie ist stark wie der Tod und ihr Eifer unbeugsam wie die Hölle. Wie könnte man also stärkere Bande finden als diese?“

Übt also diese Liebe und führt die Seelen dahin, sie ihrerseits zu üben. Ich wiederhole es: sie ist schwer, und im Allgemeinen überwacht man sich in diesem Punkt viel zu wenig, sowohl der Klerus wie die frommen Seelen wie auch wir selbst… Die Frömmigkeit ist sicher sehr empfehlenswert, aber gibt man sich denn da keiner Täuschung hin, wenn man vorgibt, man wandle auf dem Weg der Gottseligkeit und nimmt keinerlei Rücksicht darauf, ab man nicht unaufhörlich gegen die Liebe fehlt? … Man sagt gern, fromme Frauen haben eine böse Zunge. Aber es seien eben Frauen… Jawohl, aber ich kenne eine erkleckliche Zahl von Männern, die wie der Fabeldichter sagt, Weiber sind… Man hat den Geist des Widerspruchs, man stichelt, zeigt offen seine Abneigung. Man gewöhnt sich daran, von dem und jenem schlecht zu reden, urteilt aufs Geratewohl darauf los und mit einer Selbstsicherheit, dass man den Eindruck erweckt, man halte sich für besser als alle anderen… Statt die Schranken eurer Liebe mehr und mehr einzuengen, solltet ihr sie immer mehr erweitern: so werdet ihr Gottes Segen ernten, denn Gott segnet nun einmal die liebenden Herzen. Aus diesem Grund bedurften die Heimsuchung und die Kartäuser nie einer Reform und erlebten niemals bedeutende Schwierigkeiten. Bitten wir Gott bei der hl. Messe um diesen Geist, er ist Kern und Mark der Lehre des hl. Franz v. Sales. Lieben wir, wie er es tat, und mehr als alle andere, diese Liebe, die er zur Grundlage und zur Eingangstür seines Direktoriums machte.

Begeben wir uns auf diesem Weg. Das empfehle ich euch allen auf das Nachdrücklichste.

Anmerkung zu 1895: Die Kapitel der Monate Oktober bis Dezember gingen verloren.