Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 31.05.1893: Über das Gelübde des Gehorsams und der Keuschheit.

Reden wir uns guten Mut zu, treu zu sein. Wir leben in einer schwierigen Umgebung. Überall in unserer Gesellschaft sehen wir Versagen, die uns erschrecken könnten. Man greift die Religion an, man versucht, den Klerus niederzuschmettern, seinen guten Ruf und Einfluss zu untergraben, und all diese Angriffe haben etwas Furchterregendes in sich. Kürzlich traf ich einen guten Pfarrer. Er versicherte mir, es bedürfe einer starken Dosis Energie und Seelenstärke, um nicht wankend zu werden, wenn man so auf sich allein gestellt und völlig isoliert in seinem Pfarrhaus sitzt. „Natürlich haben wir den lieben Gott“, sagte er weiter, „aber da ist auch noch der Teufel.“ Es gibt nichts, was uns ermutigen könnte. Im Gegenteil, alles zehrt an unseren Kräften. Man klammert sich an einen kräftigen Akt des Glaubens und des Vertrauens auf Gott. Das allein bleibt uns, um uns über Wasser zu halten. Bei euch dagegen, in euren Ordensgemeinden, wenn einer von einer Schwierigkeit oder Enttäuschung niedergedrückt wird, findet er gleich Trost und Licht… Ein Pfarrer ist wie ein Tongefäß und auf seiner Reise findet er nur Gefahren, anzustoßen und zu zerbrechen. Er erinnert euch, meine Freunde, an unser letztes Kapitel und seid darauf bedacht, die Zusammenstöße abzumildern. Glaubt mir, dass alles, was ihr zu erdulden habt, recht wenig ist im Vergleich zu dem, was euch anderswo erwarten würde.

Gehen wir auf die Absichten des Heiligen Vaters ein: Beten und arbeiten wir, dass das Reich Gottes zur Erde zurückkehre, dass die hl. Kirche ihren Platz und ihren Rang auf dieser Welt wieder einnehme, dass der Glaube von neuem in den Herzen erblühe. Beten wir bei der hl. Messe und den Kommunionen, das der liebe Gott den Augenblick beschleunige, den die Gute Mutter so oft verheißen hat, wenn sie sagte, der liebe Gott wolle die Welt noch einmal retten, und zwar mit Mitteln, die nur er allein kennt. Alle werden staunen, wie sich das Antlitz der Welt verwandeln werde. Man werde klar erkennen, dass die Erde und das Verdienst Gott allein zukomme und der Mensch nichts dazu beitrage. Aber, so schärft sie uns ein: beschleunigt durch eure Gebete die Stunde Gottes, vor allem durch eure Treue. Unseren Händen sind bestimmt machtvolle Mittel übergeben, und als erstes von ihnen der Glaube.

Hättet ihr einen Glauben nur so groß wie ein Senfkorn, sagt der Heiland, dann würdet ihr Berge versetzen können. Ja, wir könnten Berge versetzen, wenn wir den nötigen Glauben besäßen und die Überzeugung, dass wir das wirklich tun können. Die Geschichte der Kirche lehrt uns, dass Gregor der Wundertäter diesen Glauben besaß. Wenn aber schon die einfachen Gläubigen, an die sich unser Herr wandte, über solche Macht verfügen kraft ihres bisschen Glaubens, dann müssen auch wir sie haben, die wir als Priester täglich die hl. Messe feiern und in unseren Händen den Kelch mit dem Blut Christi halten. Ja, wir sind stärker als alle Mächte der Welt, wir vermögen alles zu tun und zu sagen, weil Gottes Augen vom Anblick des Blutes Christi gefesselt sind, der durch unseren Mund spricht und zum Vater schreit. Vergessen wir nie, wenn wir das Blut unseres Herrn bei der Wandlung hochhalten, ihm das Heil der Welt und die Wiederherstellung des Reiches Gottes auf Erden anzuvertrauen.

Diesen Gedanken schärft der Hl. Vater allen ein, die er zu Gesicht bekommt: Die treuen Seelen verfügen bei der hl. Messe und der hl. Kommunion über eine größere Machtfülle und über stärkere Gnadenkräfte als alle Mächte der Hölle! Oder birgt die hl. Hostie und der Kelch des Herrn nicht größere Kraft als alle Macht des Teufels? Ist der Priester am Altar nicht eins mit Jesus Christus? Vertritt er ihn nicht? Wird er nicht gleichsam selbst Jesus Christus? Jedes Mal, wenn ihr etwas zu erbitten habt, tut dies bei der hl. Messe und tut es mit dieser frohen Gewissheit!

In den letzten Kapiteln führte ich euch in den wahren Sinn des Gehorsamsgelübdes ein. Heute lasst mich ein Wort sagen über den Sinn, den wir dem Keuschheitsgelübde beizulegen haben.

Es wäre irrig zu glauben, die Gelübde hätten nur eine negative Seite: wir sollten keine Fehler gegen diese Tugend begehen. Nein, sie hat auch eine recht positive Seite. Das gilt übrigens für alle christliche Tugenden: die negative Seite an ihnen, die Verstöße, haben immer Gesetzeskraft, während die positive Seite gemäß den Pflichten und Umständen des einzelnen und in einem bestimmten Augenblick wechselt. Die negative Seite ist allezeit zu beachten, die positive dagegen verpflichtet nicht in jedem Augenblick streng. Es muss sich erst die Gelegenheit zur Übung bieten. Die Tugend der Religion z.B. verpflichtet jederzeit nach ihrer negativen Seite, weil wir jeden Augenblick Gotteslästerung und Gottesraub meiden müssen. Zur hl. Messe hingegen können wir nicht jeden Augenblick gehen, können auch nicht immer Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe vollbringen. Dazu brauchen wir die Gelegenheit, dann wenn wir uns einem ausdrücklichen Gebot gegenübersehen. Das Verbot gilt somit jeden Augenblick, das Gebot dagegen nur in einem bestimmten Moment.

Lest nur bei fast allen Schriftstellern nach, die über das Keuschheitsgelübde geschrieben haben, außer beim hl. Augustinus, beim hl. Franz v. Sales und der hl. Franziska v. Chantal. Sie fassen beinahe ausschließlich die negative Seite ins Auge. Das ist aber ein Irrtum. Gewiss würden wir gegen unser Gelübde verstoßen, wenn wir sein negative Seite vernachlässigten. Erfüllen wir aber wirklich unser Gelübde ganz, wenn wir uns um seine positive Seite nicht kümmern?

Die negative Seite dieses Gelübdes untersagt Handlungen gegen die Tugend der Reinheit. Sie verbietet ferner die in der Welt erlaubten Verbindungen, also die Ehe. Der schönste und der beste Teil dieses Gelübdes ist aber der positive: er verpflichtet uns zu einer besonderen Liebe, zu einer auserlesenen Liebe zu Gott, dem unser Herz bedingungslos gehört. Wir entreißen uns der Liebe der Sinne, der materiellen und weltlichen Liebe, um die ganze Glut und Flamme unseres Herzens auf Gott zu konzentrieren. Das ist so wahr, dass der vollkommenste Evangelist, der tiefste Theologe, der hl. Johannes, zugleich der Lieblingsapostel unseres Herrn war, er, der seine Reinheit und Jungfräulichkeit bewahrte, aber auch seinen Meister mehr als alle anderen liebte und die Möglichkeit fand, beim Abendmahl an der Brust des Herrn zu ruhen.

Auch der hl. Augustinus schlägt dieselbe Richtung ein und trägt die gleiche Lehre vor. Darum stellt man ihn dar, eine lodernde Flamme in der Hand. Auch er predigt die Liebe zu Gott und will, dass diese Liebe in die Praxis des ganzen Lebens übergehe. Johannes stellt die unschuldige Liebe da, Augustinus die büßende. Ihr seht, dass sogar Sünder wie die hl. Magdalena oder der hl. Augustinus diese Auszeichnung der Freundschaft unseres Herrn verdienen können.

Hierin ist der tiefste und wahre Sinn des Gelübdes der Keuschheit zu sehen, den wir verstehen sollten. So wollte es der hl. Franz v. Sales von seinen Heimsuchungsschwestern verstanden wissen: sie sollten nur noch für ihren himmlischen Bräutigam leben und atmen.

Nicht selten macht man sich ein falsches Bild von den Affekten des Herzens. Man betrachtet sie als Gefühlsduselei, die eines Mannes fragwürdig sei. Wer aber von jeder Art von Liebe zu Zuneigung frei zu sein scheint und tut, als hänge er an gar nichts, beweist nur zu oft, dass er, wenn er keinen anderen lieben will, sich selbst vergöttert, sich über alles schätzt und sich selbst allem anderen vorzieht.

Das Gelübde der Keuschheit verpflichtet uns, Gott auf eine besondere intensive Weise zu lieben, ihn herzlich und zärtlich zu lieben, ihn ohne Selbsttäuschung, aufrichtig, ich möchte fast sagen, gefühlvoll zu lieben. Wir haben immer auch eine Gefühlsseite in uns, wir sind keine Steine und kein kalter Marmor. Was sich da an Zartestem und Gefühlvollstem in uns findet, das sollten wir auf Gott hinbeziehen. Das müsste die Wirkung des Gelübdes der Keuschheit sein. Beachtet nur, was der hl. Stifter in seiner Abhandlung von der Gottesliebe darüber schreibt. Betrachtet nur nach, was er über die Gottesliebe geschrieben hat, und er war wahrhaftig kein sentimentaler Mensch. Er aß fast nichts und lebte nur von Bußwerken. Er hat auch eine Kongregation von äußerster Bußstrenge ins Leben gerufen. Lest alle Schriften der Kirchenlehrer über diesen Punkt! Der hl. Paulus sagt: wenn einer unseren Herrn Jesus Christus nicht liebt, dann sei er verflucht. Der schrecklichste Fluch treffe ihn!

Wenn wir das Gelübde der Keuschheit ablegen, verpflichten wir uns also, unseren Herrn mit ganz besonderer Liebe zu lieben. Euch habe ich Freunde genannt. Ihn sollen wir lieben bis Tod, bis zum Martyrium. Wir sollten ihn so lieben, dass diese Liebe ihn in uns leben lässt, dass unser ganzes Herz, unser ganzes Tun und Denken von dieser ausnehmenden Liebe durchdrungen ist. Selig die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Wenn wir Gott also nicht schauen, so beweist das nur, dass wir ihn nicht lieben, dass unser Herz nicht rein ist, dass wir am Bösen anhängen, an der Sinnlichkeit, an der Sünde. Dass in uns eine ungeordnete Liebe Platz hat, die Liebe zur Überheblichkeit, zur Ruhe und Bequemlichkeit, die Flucht vor dem Opfer. Dass unser folglich nicht ganz Gott gehört.

Machen wir uns diese Gedanken zu Eigen, durchdringen wir uns tief davon. Diese Gesinnung möge den Grund und die Herzmitte unseres ganzen Seins bilden. Dafür sind wir Oblaten. Wir dürfen nicht sagen: Ich habe Sünden begangen. Ich kann also Gott nicht auf diese Weise lieben. Wir sind verpflichtet, ihn auf diese Weise zu lieben. Auch der hl. Augustinus und die hl. Magdalena waren Sünder, doch das Maß ihrer einstigen Sünden bestimmte auch das Maß ihrer späteren Liebe, wie der Apostel sagt. Wenn wir sie also nicht in ihrer Zerknirschung und Gottesliebe nachahmen, haben wir keine Entschuldigung, die Schuld liegt dann allein bei uns. Denn unsere Sünden sind kein Hindernis, sondern vielmehr ein Beweggrund, unseren Herrn inniger zu lieben.

Durchdringen wir uns bei der hl. Messe und Kommunion mit dieser Gesinnung einer innigen und liebenden Vereinigung mit unserem Herrn. Beginnen wir das Stufengebet stets in Verbindung mit ihm, beten wir die ganze Messe gemeinsam mit ihm und segnen wir am Schluss zusammen mit ihm. Er wird das ersetzen, was wir an geziemender Ehrfurcht fehlen lassen. Das, was wir selbst beitragen, ist ja nie würdig genug, der Herr ersetzt unsere Unfähigkeit und Unwürdigkeit.

Bei all unseren äußeren Übungen, Arbeiten und Beschäftigungen dürfen wir nie vergessen, dass wir darin auch das Gelübde der Keuschheit beobachten müssen. Nur dann erhält dieses Gelübde seine Vollständigkeit und Vollkommenheit, wenn unser ganzes Tun von dieser innigen und speziellen Liebe zu unserem Herrn beseelt ist, um ihm so allseitig wie möglich zu gefallen.

Ich wiederhole: Unser Keuschheitsgelübde hat ein zweifaches Gesicht: eine Vorder- und eine Rückansicht. Die negative Seite: Das sollst du meiden, und die positive: Das sollst du tun.

Wie man eine Wohnung, bevor man sie einrichtet, erst säubern und den Gipsbewurf abkratzen muss, so heißt es auch unser Herz erst von Sünden reinigen und bewahren. Das ist die negative Arbeit. Diese Anfangsarbeit macht wie ein Zimmer so auch unser Herz noch lange nicht glänzend und herrlich. Wir müssen vielmehr zum zweiten Teil übergehen, zum positiven, indem man freigebigste Verzierungen, Ornamente und Kostbarkeiten anbringt. Unterlasst es in euren Betrachtungen nicht, euer Tagewerk unter diesem Gesichtspunkt vorzubereiten. Bedient euch zu diesem Zweck auch Herrn benetzen und ohne Unterlass durchtränken. Der Prophet sagt: Warum ist dein Gewand so rot wie das des Keltertreter? Wenn das Gewand blutrot ist, dann deshalb, weil ihr euch denen zugesellt habt, die die Frucht des Weinstocks in der Kelter mit Füßen traten. Auch wir müssen die Male des Gottesblutes an unserem Leib tragen, indem wir uns kraft der innigen Liebe unseres Herzens ganz mit dem Herrn verbinden.

Bitten wir unsere hl. Patrone, dass wir die Lehre vom Gelübde der hl. Keuschheit tief erfassen. Beten wir zum hl. Johannes, zum hl. Augustinus und hl. Franz v. Sales, der diese Theorie in seiner Abhandlung von der Gottesliebe so wunderbar entwickelt hat. Und rufen wir auch die Gute Mutter Maria Salesia an.

Je älter ich werde, umso mehr überzeuge ich mich, eine wie große Heilige die Gute Mutter war. Umso mehr stelle ich fest, dass alles, was sie sagte und tat, den Stempel einer außergewöhnlichen Heiligkeit trug, einer Heiligkeit, die sich nie verleugnete und die keiner ihrer Handlungen fehlte. Welch ein Glück für uns, liebe Freunde, dass wir ihre Kinder sind. Wir erlangen ohne Zweifel viel, wenn wir uns an sie wenden.

D.s.b.