Kapitel vom 15.05.1889: Abschließende Gedanken über Keuschheit und Abtötung
Wir haben den Kommentar zum Keuschheitsgelübde abgeschlossen. Ich erinnere daran, dass das Wort Keuschheit, das Zurückhaltung bedeutet, nicht nur die Flucht vor den Fehlern umfasst, die ihr entgegenstehen, sondern unser gesamtes äußeres Verhalten regelt. Zunächst in der Kirche: Ich empfehle dringend, sich nicht mit den Ellenbogen oder sonst wie aufzustützen, beim Knien die Füße nicht übereinander zu schlagen, sondern den Körper gerade, das Haupt leicht geneigt und die Augen bescheiden gesenkt halten. Haltet an diesen Überlieferungen fest. An ihnen erkennt man den Oblaten.
Meiden wir auch in Gang und Kleidung alles Auffällige und Sonderbare. Hüten wir uns beim Gehen vor allem Gekünstelten, vor Hast ebenso wie vor großer Langsamkeit. Schauen wir auf den Straßen nicht neugierig nach links oder rechts, um die Vorbeigehenden zu betrachten. Das wäre das Zeichen für einen Menschen, der in sich nichts hat, womit er sich beschäftigen könnte und deshalb anderwärts sucht, wovon er lebt. Die Welt ist böse und legt oft die besten Absichten schlecht aus, erst recht derlei ungebundene Manieren. Gehen wir einfach und unauffällig unseren Weg und halten wir uns an diese Empfehlungen.
In euren seelsorgerlichen Beziehungen zu jungen Mädchen hütet euch, sie als eure Schwestern oder Kameraden zu behandeln. Wahrt ihnen gegenüber eine gewisse Zurückhaltung. Meidet auch in euren Briefen, was nach Weltgeist aussieht. Alles darin atme religiösen Ernst und Frömmigkeit. Der Brief eines Ordensmannes darf nicht dem eines Weltmenschen gleichen. Seinen Freunden kann man freimütiger schreiben, aber auch hier bleibe man immer in den Schranken klösterlicher Sittsamkeit und Würde.
Schreibt man an eine Frau, dann sei der Brief so abgefasst, dass ihn jedermann lesen kann. Gewiss kann man darin verborgene Dinge und Gewissensfragen behandeln. Aber auch diese Dinge müssen so ausgedrückt werden, dass Menschen, in deren Hände der Brief fällt, keinen Anstoß oder Ärgernis nehmen könnten. Diese Regel halte ich für unerlässlich.
Tragt die Abtötung Christi überall hin, indem ihr, wie gesagt, alle Nachlässigkeit, das Sichgehenlassen, vermeidet. Unser Vorbild sei auch hierin der hl. Franz v. Sales, der seinerseits den Heiland zum Vorbild nahm. Dieser ständige Zwang hat seinen großen Wert. Wir haben ja keine strengen Bußübungen, keine schweren Verzichte. Also liegt unsere Praxis, unsere Hauptbuße gerade darin. „Bei der Bescheidenheit Christi“ beschwöre ich euch, sagt der hl. Paulus zu den ersten Christen. Ich beschwöre euch bei etwas ganz Köstlichem, etwas, was euch teuer und dessen Erinnerung euch sehr nutzbringen ist: bei der Zurückhaltung und Bescheidenheit, bei jenem Zusammenklang von Würde und Einfachheit, die die Persönlichkeit unseres Herrn kennzeichneten. Tun wir es aus einem übernatürlichen Beweggrund. Ein natürliches Motiv ist sicher nicht schlecht. Ist es das Ergebnis persönlichen Mühens und persönlicher Beobachtungen an uns selbst, so lässt sich nichts dagegen einwenden. Handeln wir aber aus einem übernatürlichen Grund, aus Liebe zu Gott, dann ist das Verdienst unvergleichlich größer.
In der Übung der äußeren Vorschriften unserer hl. Regel wollen wir stets mit großer Einfachheit und Gewissenhaftigkeit vorgehen. Was uns infolge körperlicher Schwäche nicht möglich ist, bringt uns auch keinen Schaden. Holen wir uns dafür aber die nötige Erlaubnis. Können wir sie im Augenblick nicht erbitten, so tun wir eben unser Möglichstes.
Wahren wir also immer und überall diese maßvolle Zurückhaltung. Die Last des göttlichen Gesetzes darf ruhig auf unseren Schultern drücken. Das wird unsere Tugend, unsere Würde und alles, was wir inmitten der Welt vollbringen sollen, schützen und stützen.
P. Lambey bleibt weiterhin beauftragt mit der Überwachung der äußeren Übungen der hl. Regel. In seiner Abwesenheit tut dies P. Lambert. Ich appelliere an den Glaubensgeist und die Frömmigkeit aller, damit alle mithelfen bei der Ausgestaltung unseres Gemeinschaftsgeistes. So wirken wir ein Höchstmaß an Gutem. Sagen wir aller Nachlässigkeit den Kampf an!
Alle Lehrer des geistlichen Lebens sagen hierüber ergreifende Dinge: Unser Herr blieb solange an der Geißelsäule angebunden und ans Kreuz geheftet, bis die Stunde gekommen war, seinen Vater durch seinen Tod zu verherrlichen. Erst in diesem Augenblick ruft er aus: Er ist vollbracht. Ein Bild des wahren Oblaten! So muss auch er geprägt sein. Sein äußeres Verhalten muss sein ganzes Ordensleben befruchten. Im Baum steigt der Saft im Stamm wie in der Rinde hoch. Der Saft der Rinde ist dabei noch wichtiger als der im Inneren, denn er hüllt den ganzen Baum ein und schützt den ganzen Stamm.
Geht einer auf Reisen oder in die Mission, dann möge er diese Regeln als sein Reisegepäck mitnehmen. Es ist unser Erbe, unser Schatz, unsere Lebensart. Jeder muss seine Natur aufgeben, ihre Ecken und Kanten abfeilen und ein gewisses Niveau erreichen. Das wird für jeden von uns eine Gelegenheit zu Verdiensten sein und eine große Kraft für die Ordensgemeinde. Tragen wir das Bild unseres hl. Gründers in uns, der selber das getreue Abbild des Heilands war.
