Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 20.06.1888: Einsichten von großer Bedeutung

Ich unterbreche heute die Erklärung des Direktoriums, um euch einige allgemeine Überblicke von großer Wichtigkeit zu geben. Was im Leben der Guten Mutter überrascht, ist der Geist der Weitherzigkeit, der Liebe und des Wohlwollens gegenüber jedermann. Allen finden sich bei ihr ein, und alle verlassen sie beglückt und im Guten gefestigt. Bei ihr muss sich also die Wahrheit finden, denn nur diese kann solche Weite, solche Ausmaße schenken. Jeder, der ehrlich nach Wahrheit strebte, fand sie bei ihr und zwar auf eine seiner Seele höchst zuträglichen Weise. Darum müssen gerade wir, ihre Kinder, auf diesen ihren Weg einschwenken.

Ich betone dies umso mehr, als einige unserer Patres im Begriff stehen, uns zu verlassen, um den Geist der Guten Mutter in ferne Gegenden zu tragen. Die ganze Genossenschaft sollte von diesem Geist durchdrungen sein, und keiner sollte Schritte außerhalb dieses Weges tun.

In ihren Beziehungen zu allen anderen religiösen Gemeinschaften bewies sie unverbrüchlich dieses Wohlwollen und diese Liebe. Jedem Orden, jeder Klostergemeinde, jeder Ordensperson und jedem Priester bezeigte sie ihre liebevolle Hochachtung. Sie alle waren ihrem Herzen gleich teuer, weil sie alle das Werk Gottes vollbrachten, obwohl sich ihr Geist oft wesentlich von ihrem unterschied. Sie mochte diesen oder jenen den Vorzug geben, aber eine herzliche Verbundenheit erwies sie jedem, der apostolisch tätig war, jedem Menschen, der Gottes Liebe und Ehre zu vermehren trachtete. Eines Tages machte ich eine Bemerkung über gewisse Ordensleute, die es bei bestimmten Gelegenheiten ganz offenkundig an Liebe hatten fehlen lassen. „Gewiss“, gab sie zur Antwort, „aber sie setzen sich dafür ein, dass Gott mehr geliebt werde.“ Gerade das gab ihnen ein Anrecht auf ihre Liebe und Zuneigung.

Das sollte auch unsere Verhaltensweise gegenüber jedem Priester und jeder Genossenschaft sein. Wirft man uns Ordensleuten nicht allgemein vor, wir ließen es an Zuvorkommenheit gegenüber den Weltgeistlichen fehlen? Dieser Pfarrer da, so kritisieren wir, lebt auf großem Fuß, hat eine luxuriöse Einrichtung, liebt gutes Essen und Trinken. So lebte unser Herr sicher nicht. So sollten wir nicht sprechen. Die Pfarrer sind nicht verpflichtet, die Armut des Ordensstandes zu üben. In Rom leben weder die Kardinäle noch der Papst in wirklicher Armut. Ein Bischof, ein Pfarrer dürfen sich mit einem gewissen Wohlstand umgeben, ohne dass man es ihnen zum Vorwurf machen könnte. Wäre ich ein Kanzelredner, dann würde ich den Gläubigen ganz offen meine Gedanken zu diesem Punkt erläutern, nämlich, dass Einfachheit und Genügsamkeit gewiss eminent priesterliche Tugenden sind. Werden diese Tugenden aber nicht in äußerlich sichtbarer Weise geübt, so sind solche, die von Berufs wegen zur Armut verpflichtet sind, in keiner Weise berechtigt, daran Kritik zu üben. Seien wir also in unserem Urteil sehr zurückhaltend und sehen wir in jedem Priester, was Gott in ihn gelegt hat, was des Herrn Anteil ist, wodurch er also zu unserer Familie gehört. Begegnen wir den Weltgeistlichen mit großer Ehrfurcht und Zuvorkommenheit. Versagen wir uns jeden Tadel und alles Richten. Solche Urteile können nicht immer freibleiben von Eigenliebe und Überheblichkeit: der da tut dies und das, was ich nicht tue. Infolgedessen bin ich besser als er. Ordensleuten sollen wir natürlich mit noch größerer Liebe begegnen, weil sie in noch verstärkterem Maße unsere Brüder sind.

Jeder Orden hat seine eigenen Werke zu leben und zu denken. Denn wer einem anderen Weg des inneren Lebens folgt, unterscheidet sich zwangsläufig von uns, und daran können wir manchmal Anstoß nehmen. Gewiss wird ihnen auch an uns manches missfallen. In unserem Geist und Erbgut kann es Dinge geben, die vielen nicht liegen. Man wird uns vielleicht „mystisch“ (Anm.: „gemeint ist wohl: verstiegen, schwärmerisch.“) finden, ohne großen Seeleneifer, unaufrichtig, als ob wir etwas verbergen wollten. Wir seien und handelten nicht wie die anderen. Das macht uns verständlich, wie leicht man ungerecht urteilen kann über Menschen, die man nicht durch und durch kennt. Darum wollen wir grundsätzlich jedermann Ehrfurcht und Liebe entgegenbringen. Das tut umso mehr not, als die Kongregation aufgrund der Verhältnisse gezwungen ist, mit vielen Orden gut auszukommen. So erwarten z.B. am Rio Bamba die „Schwestern der christlichen Liebe“ die Ankunft der Oblatinnen als seien sie ihre „Basen“, wie sie sagen. Die Lazaristen, Jesuiten und überhaupt alle möchten mit in großer Herzlichkeit zusammenleben. Diese guten Beziehungen wollen aber gepflegt werden. Ist solch einfaches, ungeheucheltes und würdiges Einvernehmen aber nicht schon im natürlichen, menschlichen Sinn schön? Beweist es nicht Seelengröße und wirft es nicht ein gutes Licht auf einen Ordensmann, der anderen Wohlwollen und Ehrerbietung entgegenbringt? Seid in diesem Punkt also äußerst gewissenhaft!

Was ich hier von den Ordensmännern sage, gilt in noch viel stärkerem Maße von den Klosterfrauen. Welche unglaubliche Ungezogenheit, einen Ordensmann öffentlich harte Urteile über Nonnen abgeben zu hören. Diese Regel duldet überhaupt keine Ausnahme. Tun wir es aus Liebe zur Tugend und im Geist der Selbstüberwindung. Das sind gerade unsere Bußübungen, wir haben keine anderen. Wir stehen in der Kirche Gottes an der letzten Stelle, bleiben wir also schön an unserem Platz.

Und welche Haltung sollen wir gegen Weltleute einnehmen? Da sind zunächst die politischen Fragen, die viele leidenschaftlich erregen. In der gegenwärtigen Stunde gibt es für uns keine andere Politik als die unseres Herrn: wer nicht für mich ist, der ist wider mich. Die Staatsmänner der Welt sind gern bereit, mit jeder Art von Regierung zu verhandeln, ob Präsident der Republik oder König von Italien, vorausgesetzt, er ist Jude oder Freimaurer. Gewiss kann man eine Vorliebe für diese oder jene Regierung haben, weil sie die Rechte der Religion achtet. Doch was uns betrifft, so lassen wir uns in keinerlei Diskussion ein. Ich wünsche sehr, dass man überhaupt keine Zeitung liest, es ist verlorene Zeit.

Die Politik lassen wir also ganz aus dem Spiel. Damit soll nicht gesagt sein, wir sollen zu allem, was geschieht, „Ja“ und „Amen“ sagen. Durchaus nicht. Es geschehen zurzeit Dinge von unglaublicher Heimtücke. Man stimmt augenblicklich über ein Gesetz ab, das die Arbeitgeber verpflichtet, einen beliebigen Tag als freien Tag zu bestimmen, während ehedem das Sonntagsgebot Landesgesetz war. Man ersetzt es durch den Willen des Fabrikherrn – eine böse Sache. Beten wir, dass Gott dies alles nicht zulässt. Wenn wir gute Ordensleute sind, ziehen wir Gottes Segen auf Land und Volk herab und wirken mehr Gutes als wenn wir Zeitungen schrieben oder läsen. Sehen wir all diese Fragen im Lichte des Glaubens.

Nun zu einem anderen Thema. Seht nur, mit welcher Schlichtheit, Natürlichkeit und welchem Wirklichkeitssinn die Gute Mutter den tiefen Sinn der Berufs- und Alltagslebens der Weltmenschen erfasst hat. Sie verstand die Lebensweise der Kaufleute ebenso gut wie der Geschäftsleute, der Verheirateten wie der Studierenden. Jeden sah und nahm sie in seinem individuellen Beruf in einer Art Gesamtschau.

Darum lehrte sie, dass man in jedem Beruf das Christentum nicht bloß praktizieren, sondern dass man darin sogar zu hoher Vollkommenheit gelangen könne. Gewiss ist die Vollkommenheit im Ordensstande leichter zu erringen, aber die anderen Berufe müssen durchaus keine Hindernisse zu diesem Höhenweg sein. So hegte die Gute Mutter z.B. große Wertschätzung für die Behörden, weil sie die Gerechtigkeit verbürgen. Für die Soldaten, weil sie das Vaterland schützen. Für die Kaufleute, weil sie die von Gott geschaffenen Dinge verwerten. Für die Handwerker, weil sie schwer arbeiten im Dienst der Mitmenschen. In all diesen verschiedenen Lebensständen sah sie ein kostbares Mittel der Heiligung, gab allen die treffendsten Ratschläge für ihr Berufsleben und warb für die Hochachtung vor jedem Beruf. In dieser Haltung wollen auch wir jedermann begegnen. Öffnen wir den Menschen das Verständnis dafür, dass man in jeder Lebenslage, bei jedem Schicksalsschlag sehr wohl zur Heiligung gelangen kann. Erteilen wir ihnen diesen lebensnahen Unterricht, dann wird ihnen der tiefe Sinn des göttlichen Willens aufgehen und sie werden mit größerer Fröhlichkeit und stärkerem Mut ihren Weg gehen.
Auch die verschiedenen Familienstände sind Mittel zur Selbstheiligung: ob Gatte oder Gattin, Vater oder Kind, all das ist gottgewollt, ist Gottes Ordnung. Wir müssen aus dem gleichen Grund die väterliche Autorität stützen, sie zu Ansehen bringen, vorausgesetzt, dass sie sich nicht gegen die Autorität Gottes stellt. Es wird nicht schwer sein, diesbezüglich passende Ratschläge zu geben, und wir können gar nicht oft genug zur Liebe und Rücksichtnahme mahnen. Vor allem aber dürfen wir niemals von einem Zerwürfnis mit dem Haupt der Familie für unsere Zwecke profitieren wollen, ein Zerwürfnis also, in dem sich eine Frau, ein Mädchen oder ein junger Mann befindet, um sie vom Vater weg für uns zu gewinnen – davor kann ich nicht eindringlich genug alle Oblaten warnen. Solch ein Verhalten wäre sicher ein Gräuel in den Augen Gottes. Nutzen wir also nie die missliche Lage einer Seele aus, um sie entgegen der gottgewollten Ordnung der Liebe an uns zu ketten. Das sei euch eine wichtige Regel der Seelenführung und eures Verhaltens den Mitmenschen gegenüber.

Da lebt z.B. ein Kaufman ganz seinen Geschäften hingegeben, denen er in aller Ehrbarkeit dient. Eure Seelenführung muss nun von diesen Gegebenheiten ausgehen. Sprecht ihr ihm nur vom Abbeten einer Anzahl von Vater Unser und Ave Maria, dann wird euch der Zugang zu ihm für immer verschlossen bleiben. Bringt ihr ihn aber dahin, dass er seine Arbeiten im Geist des Glaubens verrichtet, dass er seine Seele inmitten der tausend Geschäfte zu Gott erhebt, in seinem Geschäftsgebaren Gottes Gebote berücksichtigt, so wird er euch verstehen, und ihr könnt aus ihm etwas machen. Dieser Mann muss Vertrauen zu Gott fassen, muss öfters an ihn denken, mit ihm zusammen arbeiten und sein Glück im Bunde mit ihm machen. Gott muss an all seinem Tun und Lassen beteiligt sein. Gewiss muss er lernen, sein Tun auch durch Gebet und Sakramente zu heiligen. Aber das allein genügt nicht. Sein Christenleben darf keine Ebben und Flauten erleben, denn Gott ist da für alles und in allem. Solche Sprache kann der Geschäftsmann verstehen, und sein Schaffen wird dadurch geläutert und geheiligt.

Natürlich soll man nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Seelen muss man vielmehr Schritt für Schritt höher führen… Ich wollte hier ein Ziel hinstellen. Gott Vater schuf die Welt aus dem Staub der Materie, und mit demselben materiellen Stoff müssen wir ihm auch die geschuldete Verehrung erweisen. Gott Sohn müssen hingegen schulden wir Gehorsam in den Geboten des Evangeliums und der Kirche. Und die dem Heiligen Geiste erwiesene Huldigung bestehe in der Treue zu seinen Gnaden.

Unser Herr hat nur 33 Jahre auf unserer Erde zugebracht, und als er zum Himmel auffuhr, sagte er voraus, man werde ihn jetzt besser verstehen, wo er nicht mehr in ihrer Mitte weile, weil der Hl. Geist kommen und sie in alles Verständnis einweihen werde. Versteht mich also wohl: es ist ein Irrtum zu behaupten, die ganze Religion sei einzig auf den Erlösungsakt Christi beschränkt. Das ist nur eine Teilwahrheit. Unser Herr bestätigt das selbst, wie wir eben hörten. Gott der Vater, der Sohn und der Hl. Geist bilden in puncto Religion eine Gemeinschaft des Handelns. Und wenn man in religiösen Übungen allein den Sohn und den Hl. Geist ehrt, besitzt man kein allumfassendes Mittel der Heiligung.

Wenn ich mich unklar ausdrücke, so sagt es bitte. Heutzutage muss jeder begreifen, das sämtliche Lebenslagen, Lebensumstände und Lebensweisen unsere Ehrfurcht verdienen, und in jeder Situation müssen die Seelen auf unsere Hilfe rechnen können. Um die Seelen zu heiligen, darf man sich hinter keine Ausflüchte verschanzen und nicht in Amerika essen wollen, wenn der Tisch bei uns gedeckt ist. „Wir werden zu ihm kommen und Wohnung beim ihm nehmen.“ Unser Herr schlägt seine Wohnung bei uns auf und beweist damit, dass der Zustand eines jeden Christen seine Erfüllung findet nicht nur kraft der Erlösungsgnade Christi, sondern auch durch die Tätigkeit des Vaters und des Hl. Geistes. Gewiss brachte uns Christi Erlösung alles, aber ihre speziellen Hilfsmittel, Gebete und Sakramentenempfang, genügen nicht, um den Anforderungen eines ganzheitlichen Christenlebens gerecht zu werden. Es sind nur Kanäle und Quellen von Gnaden – Quellen sind aber noch keine Ströme…

Wir haben Schüler zu erziehen. Die einen von ihnen weisen mehr Talent und guten Willen auf als die anderen. Müssen wir deshalb aber die anderen vernachlässigen? Sie verfügen gerade über so viel, als der liebe Gott ihnen zu geben beliebte oder in Dekreten seiner Gerechtigkeit zuließ. Wir müssen ihnen viel entgegenkommen und Mitleid, ja unsere ganze Liebe bezeigen. Verlangen kann man von ihnen nur, was sie geben können, fürs Übrige muss unser persönliches Zutun aufkommen. Ihnen gegenüber sind wir Gottes Gehilfen.

Fassen wir also den guten Vorsatz, jedem Menschen in jeder Lebenslage unsere Achtung und Ehrfurcht zu erweisen, den uns anvertrauten Seelen mit ganzer Kraft unter die Arme zu greifen, dass sie sich aller Mittel bediene, der göttlichen Güte treu zu entsprechen. Wir müssen davon ausgehen, dass ihr ganzes Leben mit Religion erfüllt werde. Sonntagsmesse und tägliche Gebete dürfen ihnen nicht genügen. Die Religiosität muss viel weiter gehen, muss ihre Herrschaft aufs Materielle wie aufs Geistige erstrecken. Wie sagte unser Herr? „Unser tägliches Brot gib uns heute…“

Und was wir anderen zu sagen haben, sollen wir zuerst uns selbst einhämmern. Durchdringt euch darum mit diesem Geist, er ist unser Grund und Nährboden. Auf diesem Wege sollen wir die uns Anvertrauten voranführen.

D.s.b.