Ansprachen

      

70. Ansprache zur Ewigen Profess des P. Varin zum Thema „An Unsere Liebe Frau von Einsiedeln“ in der Kapelle des Kleinen Kollegs am 22.09.1899

Mein lieber Freund, in der ersten Zeit, wo ich mich mit dem Gedanken einer Gründung der Oblaten trug, machte ich eine Wallfahrt zu U.L. Frau von Einsiedeln. Ich wollte Maria um ein Zeichen bitten bezüglich des göttlichen Willens zu unserer Gründung. Ich hatte viel gebetet und wollte nun mit einem dortigen Pater sprechen, aber niemand kam. So wollte ich wieder traurig von dannen ziehen. Ich war eben im Begriff fortzugehen, als ich ein kleines Männchen auf mich zukommen sah. Es war der Novizenmeister des Konvents, P. Perrot. „Herr Pater“, sagte ich zu ihm, „ich bin hierhergekommen, um etwas zu suchen, finde aber nichts.“ Es gab mir zur Antwort: „Man kommt nie umsonst zur U.L. Frau von Einsiedeln… Worum haben Sie gebetet?“ Ich entgegnete, es gäbe in unserer Diözese Troyes einen hl. Bischof und eine hl. Ordensfrau, die eine Kongregation von Priestern im Geist und der Lehre des hl. Franz v. Sales gegründet haben möchten. Bischof Mermillod von Genf wünsche es auch dringend, und mehrere hl. Seelen fordern diese Gründung, die den Bedürfnissen der Gesellschaften zu entsprechen scheine… „Bleiben Sie einige Tage hier“, sagte mir der Pater, „und kommen Sie jetzt mit mir!“

Wir gingen zum Pater Vikar, der eine sehr bedeutende Persönlichkeit nach Tugenden und Talenten war. Auch er fragte mich, weshalb ich zu U.L. Frau von Einsiedeln gekommen sei. Er schien tief gerührt über meine Beweggründe und ging ganz auf meine Gedanken ein. „Sie haben eine sehr gute Idee“, fügte er hinzu. „Das ist, glaube ich, der Wille Gottes.“ Dann wandte er sich an den Pater Perrot: „Ich beauftrage Sie damit.“ Dieser antwortete: „Nichts lieber als das, aber was soll ich tun?“ „Sie müssen die Satzungen der neuen Genossenschaft ausarbeiten. Sie verfügen über die nötige Erfahrung, und Gott wird Ihnen für diese Arbeit alles nötige Licht geben.“

Ich war erhört und ging sogleich der Gnadenmutter danken.
Eine Besonderheit fiel mir damals im Vorbeigehen auf: Während der vergangenen Tage, als ich U.L. Frau von Einsiedeln verehrt hatten, sah ich immer wieder ein Mädchen, das mit Eifer betete und dabei Tränen vergoss. Sie weinte so viel, dass der Pflasterboden davon ganz nass war. An dem Tag, als ich ganz glücklich vom Gespräch mit den beiden Patres zurückkehrte, traf ich dieses gleiche Mädchen wieder. Doch diesmal weinte sie nicht mehr, sondern schien sehr glücklich. Da dachte ich mir: „Noch jemand, der wie ich erhört worden ist.“

Achtzehn Monate hindurch blieb ich in brieflichem Kontakt mit P. Perrot, der mir Kapitel um Kapitel die Gedanken zusandte, die er ausgearbeitet hatte und alles, was er sonst für unsere Genossenschaft tat. Das war für ihn eine große Arbeit, denn um die Satzungen auszuarbeiten, musste er viel den hl. Franz v. Sales studieren. In einem seiner Briefe schrieb er mir: „Ich bereue es nicht, Benediktiner geworden zu sein. Hätte ich aber heute meinen Beruf zu überlegen, dann würde ich ein Sohn des hl. Franz v. Sales werden. Mit ihm kann man so gut arbeiten. Jeden Tag nehme ich ihn jetzt in meine Arbeit mit hinein, sage ihm, dass ich ihm in seinem Dienst stehe, und er möge aus mir machen, was ihm gefällt… Ich bemühe mich, mich von seiner sanften und sympathischen Lehre zu durchdringen und ihm ein wenig gleich zu werden. Wie glücklich sind doch jene, die unter seinem Hirtenstab dahingehen!“

P. Perrot von Einsiedeln ist jetzt tot. Bei unseren ersten Patres hat er eine sehr gute Erinnerung zurückgelassen. Er hat ja bedeutende Bücher verfasst. Von ihm erhielt ich sein Buch über das Ordensleben und über den hl. Franz v. Sales. Ich weiß nicht, was aus den Büchern geworden ist.

Nach einiger Zeit setzte ich P. Perrot in Verbindung mit der Guten Mutter. Sobald er diese große Seele kennen gelernt hatte, schätzte er sie hoch. In seiner Korrespondenz schrieb er einmal: „In ihr haben sie die Quelle des ganzen salesianischen Geistes. Wenn Sie wissen wollen, nach welcher Seite Sie sich orientieren wollen, drehen Sie sich immer nach ihrer Seite und hören Sie auf sie. Da haben Sie einen Brunnen, aus dem Sie jederzeit trinken können.“

Mein lieber Freund, Sie werden also den hl. Franz v. Sales lieben, wie es P. Perrot ausgeführt hat, denn dann wird Ihr Apostolat fruchtbar werden. Jeder Oblate ist zu einer sehr wichtigen  Sendung berufen. Was den alten Orden anvertraut wurde, ist heute den Oblaten übergeben. Sie besitzen das, was den Bedürfnissen der heute leben Menschen hilft. Jeder Orden, der zu seiner Zeit erschien, hatte seine ganz spezielle Mission zu erfüllen, und heute erging diese Sendung eben an die Oblaten.

Ich erhielt von einem Jesuiten einen Brief, den ich drucken lassen will. Darin bestätigt er mir, dass die Lehre er Guten Mutter gerade für die gegenwärtige Zeit passt und dass die Oblaten den von Gott geöffneten neuen Weg besitzen, die Seelen zu ihm zu führen. Dieser von den Orden gelehrte und gepredigte Weg sei von der Guten Mutter dem Herzen Gottes entnommen worden und sei in Wahrheit die Lehre, die die Irrtümer der Epoche überwinde… Die Katholiken vertrauen allzu sehr auf sich selbst, sie meinen, alles müsse auf sie selbst zurückgeführt werden, alle Ideen, das Gute zu wirken und die Seelen zu bekehren. Die Oblaten hingegen wollen weniger auf sich selbst vertrauen, als vielmehr auf den Spuren des Erlösers gehen, sich mit dem Geist Jesu umkleiden und sich zur Bekämpfung der Zeitirrtümer auf die vom Heiland gebrauchten Mittel verlassen. Die Irrlehre des Amerikanismus, die sich in Amerika breitmacht, wird wirksam durch diese Lehre des „Weges“ bekämpft…

Dieser „Weg“ besteht in der Übereinstimmung mit dem Weg, dem Denken und Handeln des Erlösers. Er verlangt nicht übertriebene Bußübungen und Kasteiungen, sondern die Unterwerfung des Wollens, die Übergabe der Persönlichkeit. Gestern sagte uns der Bischof von Nizza sehr schöne Dinge, die das eben Gesagte bestätigen. Der beste und produktivste Weg auf dem Acker des Familienvaters ist die Lehre der Guten Mutter. Was ist schon das Leben das Leben des Oblaten? Nichts anderes als das Leben des Erlösers, sei es in der Werkstatt von Nazareth, sei es im evangelischen Einsatz. Überflüssig, euch zu wiederholen, was ich euch schon so oft gesagt habe, was Papst Leo XIII. mit majestätischer Kraft und Autorität mir auf den Weg mitgab: „Gehen Sie nach Frankreich und seien Sie Ordensleute, bis zur Vergießung des Blutes hingegeben! Wissen Sie, dass alle Ordensleute, die mit Ihnen arbeiten, persönlich das Werk Gottes vollbringen!“ An diese Worte müssen wir glauben. Wir müssen Gott um Einsicht bitten, was es heißt, ein Leben der Vereinigung mit Jesus zu führen und von ihm abzuhängen! Unser Leben ist ein Aufblick zu Gott, ein Blick des Vertrauens und der Liebe. Dieser Blick ist unser Direktorium, ist unsere Ordensregel. Wenn wir dem Direktorium gehorchen, sind wir sicher, den Willen Gottes zu tun.

Der Jesuitenpater sagte: Diesem Weg kann man sich anvertrauen…
Ich behaupte und bürge dafür: Die Seelen, die diesem Weg sich anvertraut haben, haben einen rapiden Fortschritt in der Vollkommenheit gemacht. Vierzig Jahre lang konnte ich in der Heimsuchung die Wirkung dieses Weges auf treue Seelen feststellen. Während dieser langen Zeitspanne tat nicht eine einzige Ordensfrau ihren eigenen Willen. Sie arbeiteten, beteten, gehorchten und verleugneten stets ihren eigenen Willen.

Man mag mir entgegenhalten: „Eine Frau ist kein Mann. Das ist für Frauen gut!“ Ich aber antworte: „Was für Frauen gut ist, ist es noch mehr für Männer…“ Und ich füge hinzu, es wäre gut, wenn in dieser Hinsicht die Männer ein bisschen Frauen wären. Das wäre gar nicht so lachhaft… Hat nicht Montaigne gesagt: Nicht die Hochplatzierten vollbringen die großen Dinge? Und unser Herr, hat er nicht gesagt: In Wahrheit, ihr werdet nicht ins Reich Gottes eingehen, wenn ihr keine Kinder werdet?

Wenn ihr das Direktorium erfüllt, tragt ihr das Reich Gottes im Herzen. Und der Himmel ist im Grunde nichts anderes. Während meiner langdauernden Erfahrung habe ich erlebt, dass dieses der kürzeste Weg zur Heiligkeit ist.

Sie, mein treuer Freund, der Sie jetzt Ihre ewigen Gelübde ablegen wollen, machen Sie sich ganz an die Übung des Direktoriums. Ich bin Ihrer Treue, Ihres geraden Urteils und der Ehrlichkeit Ihres Herzens sicher. Geloben Sie, dass Sie sich ihm aufrichtig und ungeteilt hingeben wollen. Mit Gott und unter seinem Blick findet man das Glück. Wenn uns der klare Blick verstellt ist und die Trockenheit das Herz ausdörrt, schauen wir auf den Erlöser und nehmen wir das Direktorium zur Hand. Da finden wir Licht und Trost.

Sie wollen sich Gott hingeben: das will nicht besagen, man müsse seine Verwandtschaft vergessen, durchaus nicht! Sie finden sie jederzeit zu Füßen des Heilandes wieder und empfehlen sie ihm. Möge dieser Tag der Gelübdeablegung für Sie zu einem Tag des Heiles werden, wie unser seliger Vater sagt. Möge diese Stunde zu einer Stunde nie endenden Segens werden. Möge Ihr Name zusammen mit den Namen Jesu und Mariä für immer im Buch des Lebens verzeichnet sein und die Heiligen Ihren Namen während der ganzen Ewigkeit Gott dem Vater, dem Sohn und dem Hl. Geist vortragen wie einen Namen, den Gott liebt. Amen, ja, Amen.