38. Ansprache für eine Aufnahme ins Noviziat, am 13.12.1894.
Alle Orden, meine lieben Kinder, wurden gegründet in der Absicht, die Erlösung der Welt zu bewirken. Der Mensch hatte gesündigt und war dafür aus dem Paradies verjagt worden. Der barmherzige Gott nun hatte einen Erlöser versprochen, einen Retter. Er hatte aber nicht gesagt, welcher Art dieser Erlöser sein werde. Die meisten Propheten, die sein Kommen ankündigten, schienen von der göttlichen Qualität des Erlösers nichts zu wissen. Gott hatte nämlich in seiner unendlichen Barmherzigkeit beschlossen, niemand anderen dafür zu senden als das göttliche Wort, seinen ewigen Sohn. Er sollte unsere Menschennatur annehmen und einer aus uns werden, um die Schuld zu sühnen, die man ihm angetan, und um uns als Vorbild zu dienen.
Das war ein großer Entschluss, den da Gott gefasst hatte. Niemals hatte sich die göttliche Liebe so groß erwiesen, wie alle Heiligen und alle Schrifterklärer betonen. Einer aus ihnen, der hl. Augustinus, hat sich nicht gescheut, die Sünde Evas als glückselige Schuld zu bezeichnen. „O felix culpa, quae tantum et talem meruit Redemptorum.“ (Anm.: „O glückselige Schuld, die uns einen solchen und so großen Erlöser eingebracht hat.“). Glücklich wegen dieser heilbringenden Folgen!
Diese Worte drücken aufs Genaueste die Wirkung aus, die die Erlösung unseres Herrn für die Welt hervorbringen sollte. D.h. nach der Erlösung durch Christus und durch sie soll das irdische Paradies erneuert werden: der Stand der Demut soll dem Zustand vor der Erbsünde überlegen sein. Das, meine Freunde, ist die Lehre der Kirche von der Erlösung. Die religiösen Orden der Kirche nun sind in der Kirche aufgetreten, um der Erlösung unseres Herrn alle jene Wirkungen zu verschaffen, die ihr zugedacht waren. Durch die Sünde war ja der Verstand des Menschen und sein Wollen und damit sein Herz und seine Liebesfähigkeit tief verletzt worden.
Betrachten wir die zwei Ordensstifter der Kirche: den hl. Benedikt und den hl. Franz v. Assisi. Jeder der beiden hatte seinen Anteil an der Wiederherstellung des Menschen. Der hl. Benedikt zielte mehr auf seinen Verstand ab, der hl. Franz v. Assisi mehr auf sein Herz. Alle übrigen Orden übernahmen Hilfsdienste und trugen ihren Teil zum großen Werk bei, das diese beiden in Angriff genommen hatten, zur Reform des Verstandes wie des Willens. Die Intelligenz des Menschen war durch die Erbsünde auf eine tödliche Weise getroffen worden. Darum zeigte der hl. Benedikt die Wahrheit auf, das Nichts unserer Existenz. Er goss über die Geister das strahlende Licht der ursprünglichen Schöpfung. Und Franz v. Assisi hat die egoistischen Herzen mit dem Hauch seiner Apostelliebe neu belebt.
Unter diesem doppelten Einfluss erinnerte sich der Mensch Gottes und seiner Gebote, verstand, liebte und beobachtete sie. Sein Herz richtete sich wieder nach dem Vorbild unserer Stammeltern im Paradies. So erfuhren Verstand und Herz eine Auferstehung und der Mensch eine vollständige Erlösung. Und der Mensch wurde so wieder ungeteilter Besitz Gottes. Das ist der Sinn des Ordensstandes.
Darin besteht das Werk jener zwei großen Ordensstifter, ich wiederhole es. Alle anderen, Dominikaner, Prämonstratenser, etc. sind deren Hilfskräfte in der Verwirklichung des einen oder des anderen Gedankens dieser zwei Hauptgründungen. Diese zwei Geistesströmungen unterscheiden sämtliche Orden, je nachdem, welcher Gedanke im Einzelnen vorherrscht. Denn alle Orden haben gekämpft mit ihrem Wort und ihrem guten Beispiel, haben die Gnaden der Erlösung benutzt zur Erneuerung der Geister und Herzen.
Darin bestand die Sendung des hl. Benedikt und wie des hl. Franz v. Assisi, und sie brachten e immense Wirkungen hervor, die freilich nicht abgeschlossen und ungetrübt sind.
Es gab zweifellos eine Zeit, wo der Verstand der Menschen sich bis zu dem Grad empor geläutert hatte wie vor dem Sündenfall, wo das Herz vieler Menschen sich Gott wieder zugewandt hatte mit einem beständigen Willen, ihm treu zu dienen, ihn zu lieben und den anderen diese Liebe einzuflößen. Es schien, diese Erneuerung sei vollständig und abgeschlossen… Doch böse Zeiten kamen und die von Benedikt und Franz v. Assisi gebrachten Mittel konnten nicht mehr genügen. Ihr werdet mich gleich verstehen.
Was hat dabei der Orden der Benediktiner aber doch alles geleistet, um die hl. Kirche zu erleuchten! Sie mühen sich ab und erbauen in ihrer Einsamkeit, wie der Prophet sagt. Dank ihrer Klöster und gelehrten Abteien, ihrer Bibliotheken und intellektuellen Schöpfungen sah die Kirche den kostbaren Schatz der kirchlichen Wissenschaft und aller menschlichen Wissenschaften bewahrt und weiter entfaltet. Der Benediktiner, mit der Mauerkelle oder der Feder in der Hand, führte den Menschen wieder zum wahren und fruchtbaren Gebrauch seiner Intelligenz zurück. Er wurde Hüter und Erneuerer des christlichen Denkens. Was hat in dieser geistigen Ordnung der Orden, die Armee des hl. Benedikt doch geleistet! Wie viel verdankt man ihm!
Man macht von der derzeitigen Wissenschaft ein großes Aufhebens. Ich verachte mein Jahrhundert nicht, sondern erkenne an, dass es auf dem Gebiet der Naturwissenschaften Bewundernswertes und Außergewöhnliches geleistet hat. Ich gebe zu, dass es aus den physikalischen und chemischen Wissenschaften bemerkenswerte Folgerungen und Anwendungen gezogen hat. Hat man aber damit eine höhere Intelligenz und Kraft des Denkens bewiesen als ehedem? Was ich euch da im Vorbeigehen sage, ist vielleicht Folge des Zufalls… Nein, nicht des Zufalls: Ich sah in der Stadtbibliothek von Troyes ein altes Buch eines spanischen Mönches, in dem ich das ganze System von Linné vorfand, seine Nomenklatur usw., mit Scharfsinn und vollkommenem Genie, aber schon mehrere Jahrhunderte vor Linné (Anm.: schwedischer Naturforscher, gestorben 1778, Bahnbrecher der Botanik). Betrachtet die Ideen der damaligen Mönche nur mit ihren Konstruktionen. Seht unsere schöne Kunst des französischen Mittelalters, ich spreche von der Kunst im Allgemeinen und nicht nur von unseren herrlichen kirchlichen Bauten. Oder hatten sie etwa keinen genialen Geist und intellektuelle Kraft, die da Werke vollbrachten, zu denen wir heute nicht mehr fähig sind? Das nennt sich benediktinische Schule!
Auf dem Gebiet der Heilung des Herzens und Willens aber seht nur das Werk eines hl. Franz v. Assisi an! Er kommt, und aus seiner Seele bricht ein göttliches Feuer hervor von einer Kraft, dass es eine Menge von Männern, Frauen und Kindern erfasst. Sie alle umfangen die Armut, um unseren Herrn Jesus besser zu lieben. Die Terziaren erfüllen die Erde, leben in Abhängigkeit und zehren von seiner Lebenskraft. Welch ungeheures Resultat! Genügte das nicht? Früher wohl, heute nicht mehr!
Erleuchtung des Verstandes, das Herz entflammt für Gott, das sind die zwei Mittel, um das große Ziel, die Erlösung der Seelen zu erreichen und uns ausrufen zu lassen: „O felix culpa!“ (Anm.: „O göttliche Schuld!“) Zwei Mittel, um die Menschheit zu heilen, sie heiliger, würdiger, reiner zu machen. Was der modernen Gesellschaft jedoch abgeht, was vor Franz v. Sales noch niemand so klar gesagt hatte, ist, dass das Böse so überhandnimmt und die derzeitige Wunde so tief klafft, dass nur das Wort Gottes in Person es heilen kann. Da musste Er selbst auf die Erde kommen, über sie hingehen und darauf tätig werden, da musste die christliche Seele ihn nachahmen, kopieren und reproduzieren, ihn so vollständig wie möglich nachleben, dass wirklich Jesus zum Leben erwacht: „Vivo, iam non ego, vivit vero in me Christo.“ (Anm.: „Ich lebe zwar, doch nicht eigentlich ich, sondern Christus in mir.“).
Es ist notwendig, dass jede Seele aufs Genaueste den Erlöser kopiere, seine Tugenden und sogar seine Verhaltensweisen reproduziere. Alle Einzelheiten seines Lebens gilt es nachzuahmen, sein Beten und Arbeiten, seine Gottvereinigung, sein Opfern. Das ganze Leben unseres Herrn heißt es wiedergeben in all seinen Phasen. Nur so werden wir in unserer Zeit die komplette Wirkung der Erlösung hervorrufen.
Nun, meine Freunde, welcher Orden hat diesen wesentlichen Punkt ins Auge gefasst und begriffen? … Der unsrige. Welcher Ordensstifter hat die Mittel hierzu an die Hand gegeben? Der hl. Franz v. Sales. Wie die Gute Mutter es ausgedrückt hat, ist es das Ziel, dieses Heiligen und das Resultat seiner geistlichen Lehre, den Erlöser wieder über diese Erde hingehen zu sehen. Und das nicht bloß, um Verstand und Herz dem Bösen zu entreißen und sie Gott zu weihen. Nein, der ganze Mensch soll Herz und Verstand, Leib und Seele, sein ganzes Wesen nehmen und alles Gott gleichgestalten, um den menschgewordenen Sohn Gottes wieder auf Erden erstehen zu lassen: „Instaurare omnia in Christo.“ (Anm.: „Alles in Christus erneuern.“).
Lest nur in den Traktaten über die Menschwerdung nach, dann werdet ihr euch überzeugen, wie gut diese unsere Lehre theologisch fundiert ist. Ziel der Menschwerdung ist doch die vollständige Heilung des Menschen, die Heiligung und Durchdringung seiner Seele, seines Leibes, all seines Tuns, ja seines ganzen Lebens, mit Gott: „O felix culpa!“ Dann gleicht die Seele ihrem Zustand vor dem Sündenfall, ja sie wird noch schöner und besser! O felix culpa! Und wer hat dies alles so tief begriffen und alle Hilfsmittel geliefert, ein so wundervolles Werk zu verwirklichen? Sehr nur beim hl. Benedikt und beim hl. Franz v. Assisi nach: wer hat das das große Mittel denn gefunden, wer hat hierzu das letzte Wort gesagt? Das letzte Wort, das über diese Frage bis zum Ende der Welt zu sagen sein wird? Es war unser hl. Stifter! Mittels seiner Lehre und seiner Anleitung führt er die Seele zur vollständigen und physischen Nachahmung des Erlösers und seiner Verschmelzung mit ihm. Dahin zielen alle seine Weisungen. Ist das eine Utopie? Nein, was er beabsichtigte, hat er zuerst selbst verwirklicht, im Verein mit der Gnade Gottes. Andere haben es, von ihm aufgeklärt, ihrerseits ins Leben überführt. Und weitere werden es in ihrer Nachfolge tun, wie die Schwester Genofeva es mir versicherte: „Ich sehe, dass unser hl. Stifter eine noch größere Aufgabe und Sendung zu erfüllen haben wird, als er auf Erde bereits erfüllt hat. Was er noch unternehmen wird, übertrifft bei weitem alles, was er in der Vergangenheit vollbracht hat. Er wird zu einem der größten Gelehrten des Himmels erklärt werden…“ Das sagte sie mir zehn bis fünfzehn Jahre vor seiner Erhebung in den Rang eines Kirchenlehrers (Anm.: 1877!).
Ihr seht, unsere Berufung ist etwas sehr Großes und Erhabenes, da sie kein anderes Ziel verfolgt, als uns zur Nachahmung des Erlösers zu führen. Streben wir nach dieser Ähnlichkeit mit ihm in dieser hl. Adventszeit. Ahmen wir ihn nach in seinen Abtötungen, seinem Beten, und Arbeiten. Wenn der Herr zu seinen Aposteln sagt: Mein Vater wirkt bis zu dieser Stunde und ich tue das gleiche, dann will er damit sagen: Macht es ebenso! Mein Schaffen bildet zusammen mit dem meines Vaters nur ein einziges, untrennbares Tun. So sollt auch ihr mit mir zusammen schaffen und euch mühen, und euer Tun sollte mit dem meinigen ebenso innig verbunden sein, wie es das meine und das meines Vaters ist.
Ich wiederhole: wir sind dazu berufen, diese innige Vereinigung für uns persönlich wie für die uns anvertrauten Seelen zu bewerkstelligen. Das ist Ziel und Seinsgrund unseres ganzen Ordenslebens.
Vierzig Jahre lang habe ich diese Wahrheit gehört. Es war das Wort, das unablässig aus dem Mund der Guten Mutter im kleinen Sprechzimmer der Heimsuchung von Troyes kam. In Rom wurden die Schriften der Guten Mutter geprüft und nichts daran zu tadeln gefunden. Alles war konform mit der Lehre der Kirche, alles entsprach der Wahrheit.
Ihr seht, meine Freunde, wozu wir verpflichtet sind: das irdische Paradies auf unserer Erde wieder aufleben zu lassen, und das ist wirklich keine Bagatelle!
Wie damit beginnen? Natürlich bei uns selbst.
Diese Wahrheit ist so sehr die des hl. Stifters, dass er in seinen Werken unaufhörlich darauf zurückkommt. Überall spricht er davon. Seine Abhandlung von der Gottesliebe enthält nichts anderes. Die Seelen, die diese Methode begriffen haben, können auf keinem anderen Weg mehr vorankommen.
Jesus Christus, den wir uns bemühen in unserem Herzen nachzuzeichnen und der in uns lebt, bringt diese Wirkung in uns hervor: er gibt uns alles Nötige zum Handeln, ist unser Vorbild und Modell. Er geht vor uns her, wir brauchen nur unsere Schritte in seine Fußstapfen zu setzen, er trägt uns, und so wirkt er unsere vollständige Erlösung.
Noch einmal: wäre es darum gegangen, Herz und Verstand des Menschen zu reformieren, das hätte auch ein Prophet vermocht. Was aber kein Prophet konnte, war, den Menschen zu vergöttlichen. Jetzt bilden Gott und Mensch nicht mehr zwei Wesen, so klein ist der Unterschied geworden zwischen dem Leben des einen und dem des anderen: „Christum indivisum.“ (Anm.: „Christus ist unteilbar.“). Wir sind bekleidet mit seinem Mantel und seinem ungenähten Rock. Doch damit nicht genug: wir sind von ihm durchtränkt und durchdrungen: „os ex ossibus eius.“ (Anm.: „Ein Glied aus seinen Gliedern.“).
Unser Herr bietet selbst sein göttliches Fleisch unserer Berührung dar in der hl. Kommunion. Sie verleiht unserem Leib die Kraft, am Jüngsten Tag aufzuerstehen von den Toten. Das sagte auch die kleine Agnes zu ihren Henkern: „Ihr könnt mit meinem Körper machen, was ihr wollt, doch Gott könnt ihr nie aus meinem Herzen, aus meinem Leben und meinem Sein entfernen, denn sein Blut rötet meine Wangen: ‚Sanguis eius ornavit genas meas.‘“
Zu welcher Mission sind die Oblaten demnach berufen? Die Seelen zur vollständigen Nachahmung unseres Herrn zu führen, der dazu die Verdienste der Erlösung benutzt. Und das rechtfertigt, dass ein Gott Mensch war.
Mein Moralprofessor Chevalier sagte mir: „Glauben Sie, unser Herr sei allein Mensch geworden, um die Welt zu erlösen? Er ist Mensch geworden, damit wir teilhaftig würden seines Lebens, seines Leibes und seiner Seele, seiner Gottheit und seiner Glückseligkeit.“ Welcher religiöse Orden aber versucht, die Seelen bis zu dieser Höhe zu führen? In dieser Vollkommenheit hat es vor unserem hl. Stifter niemand getan!
Konnte er ein Mittel finden, die Seele bis zu dieser vollkommenen Ähnlichkeit mit unserem Herrn zu bringen? Jawohl, und zwar in seinem Direktorium. Ich komme ja so gern auf das Direktorium zu sprechen. Man tut es ja nie genug. Haltet es darum treu, dieses Direktorium, meine Freunde. „Et ego dixi: Vos dii estis et filii Excelsi omnes.“ (Anm.: „Ich sage: Ihr seid alle Götter und Söhne des Allerhöchsten.“). Das Direktorium vergöttlicht uns. Damit steht man in der Wahrheit und begreift das übernatürliche Leben. Die Seelen, die das hochhalten, sammeln Verdienst, leben im Zustand großer Reinheit, haben Gott ganz zu ihrer Verfügung, und werden einmal einen herrlicheren Himmel als die Engel besitzen. Denn im Himmel gibt es Engel, die unter den Menschen stehen, und zwar nicht wenige…
Was ist dafür Modell, Leben und Glück? Es ist das Wort Gottes: „Et verbum caro factum est.“ (Anm.: „Und das Wort ist Fleisch geworden.“). Könnten wir doch beifügen: „Et habitavit in nobis.“ (Anm.: „Und es hat unter uns gewohnt.“).
Wir wollen immer daran denken, und ihr, meine Freunde, sollt nicht nur daran denken, sondern werdet euch and das Wort immer erinnern, das ich euch heute gesagt habe. Es wird kein leerer Klang bleiben, der euer Ohr trifft, eine Stimme in der Wüste. Ihr werdet daran denken, dass dieses Wort Geist und Leben ist, ihr werdet es begreifen, und es wird euch Leben spenden.
Es wird die Richtung und der Wegweiser eures Lebens sein, und vor allem die Liebe in eure Herzen ziehen. Amen.
