Ansprachen

      

13. Ansprache an das Noviziat am 17.02.1888.

Meine Kinder, ich muss euch zuerst alle anschauen, um euch zu erkennen. Ich sehe euch ja so wenig und so selten. Dabei ist es mein Vorsatz und Wunsch, euch viel öfter aufzusuchen.

Ich möchte euch etwas von meiner Romreise erzählen. Es ist immer ein großes Ereignis für eine Ordensfamilie, besonders für eine Gemeinschaft im Entstehen, solch eine Reise zu unternehmen. Da gibt es Ermunterungen, Worte wie wir die Sakramentalien betrachten und als den formellen Ausdruck göttlichen Willens aufnehmen sollten. Und den müssen wir ja gut kennen und durchdenken. Wenn ich später wiederkomme, will ich euch den Apostolischen Segen spenden. Darauf muss man sich je durch Beichte und Kommunion vorbereiten, dass man den Vollkommenen Ablass auch gewinnt.

Heute möchte ich euch nur so viel sagen, dass wir in Rom in allen Punkten die Bestätigung unseres Institutes erhalten haben. Die erste Angelegenheit, die uns nach Rom zog, war der Seligsprechungsprozess der Guten Mutter Maria Salesia. Gewiss klebt unsere Kongregation nicht notwendigerweise an dieser Seligsprechung. Sie könnte auch ohne sie bestehen. Heiligt die Kirche aber das Andenken an die Gute Mutter durch den allerhöchsten Akt, dann ist das ein überzeugender Beweis, dass unsere Genossenschaft, die die Gute Mutter vorbereitet und errichten wollte, sehr in den Plänen und Absichten Gottes liegt. Nun, auf diesem Gebiet haben wir viel erreicht, und wir können viel, ja alles erhoffen. Wir weilten gerade in Rom, als die Schweizer (der Genfer Diözese) ihre Romfahrt machten, und Bischof Mermillod, der die Gute Mutter besonders gut gekannt hat, hat dem Hl. Vater seine Diözesanen vorgestellt. Der Bischof hat beim Vortrag seiner Ansprache seinen Wunsch ausgedrückt, der Hl. Vater möge das bevorstehende Gesuch um Eröffnung ihres Prozesses gnädig genehmigen. Nicht zufrieden damit, das dem Hl. Vater vorgetragen zu haben, lud er auch die hauptsächlichsten Persönlichkeiten des Pilgerzuges ein, seine Bitte zu unterstützen und eine begründete und unterschriebene Bittschrift vorzulegen. Der Papst beglückwünschte den Bischof zu seiner beredten Grußadresse und fügte hinzu, dass er bedaure, nicht auf die Frage der Seligsprechung der Guten Mutter eingehen zu können, weil man ihn nicht vorher eingeweiht habe. Er selbst hätte gern auf alles geantwortet.

Der zweite Grund dieser Romreise war die Approbation der Biographie der Guten Mutter: „Das Leben der Guten Mutter“. Ich empfehle euch dringend die Lektüre dieses „Lebens“. Denn darin findet sich unser Geist, unser inneres Leben, unsere Lehre, die Seelenführung, die wir anderen angedeihen lassen, unser gesamtes Verhalten gegenüber Gott, gegen uns selbst wie den Nächsten, ferner den anderen Orden gegenüber. Was die Gute Mutter getan hat, sollen wir ihr nachahmen: Es ist unsere Familientradition. Außerhalb dieser Grenzen gibt es kein Oblatentum. Ihr Vorrat, ihre Grundlage muss auch zur unseren werden. Ihre Andachten, ihre ganze Seinsart, wie sie sich innerlich mit Gott beschäftigt hat, ihre Beziehungen zum Nächsten, alles muss uns als Vorbild dienen. Ihr Leben, ihre Schriften geben uns die Leitlinien, die wir getreu nachzeichnen sollen. Ihr Gesamtporträt soll sich uns einprägen und in uns ausprägen. Sie war gewiss nur eine Frau, aber eine Frau, die viele Männer aufwog, verfügte sie doch mehr moralische Würde, Charakterstärke und wohltuenden Einfluss als die größten Genies. Wir müssen in ihre Fußstapfen treten, uns davon durchdringen und überschwemmen lassen, dass es uns zur zweiten Natur wird. Darum lest immer wieder ihr Leben, lest notfalls nichts als das, dann seid ihr vollkommen.

Nun, dieses Buch wurde dem Hl. Stuhl vorgelegt. Man fand darin nicht einen Buchstaben auszusetzen. „Ich nahm meinen Bleistift zur Hand, als ich das Buch durchlas“, sagte mir der von der Indexkongregation mit seiner Prüfung Beauftragte, „und von der ersten Zeile bis zur letzten Zeile fand ich kein Wort daran zu tadeln.“ Dies Buch kann bei uns somit hohen Autoritätswert beanspruchen. Einige unfreundliche Geister hatten Schwierigkeit bezüglich der in dieser Lebensbeschreibung enthaltenen wunderbaren Fakten. Die römische Kongregation aber erklärte, dass niemand gegen den übernatürlichen Charakter dieser Tatsachen sich auszusprechen habe, weil sie ja infolge des Prozesses dem Urteil des Hl. Stuhles unterworfen seien.

Der Hl. Stuhl ist darüber alleiniger Richter. Zwei Dinge also, die sich auf dem besten Weg der Verwirklichung befinden. Die Biographie der Guten Mutter sollte darum unser Handbuch sein, unser ganzes Lehrgebäude, unser gesamtes Verhalten und Leben regeln. Liebt sie, unsere Gute Mutter, und sucht bei ihr in allem Rat und Hilfe. Ihre Worte und Beispiele, die mir damals zu ihren Lebzeiten so gut taten, bleiben auch jetzt noch mein Rat in all meinen Schwierigkeiten.

Der dritte Punkt, den wir in Rom erledigen wollten, war die Approbation unserer Kongregation. Man hat in den letzten Zeiten wohl versucht, diese Billigung vom letzten Dezember zu erschüttern, doch vergeblich. Sie bleibt perfekt und unumstößlicher denn je. Ich will euch die Worte wiederholen, die mir ein Prälat gesagt hat, der sich viel um die Approbation unserer Regel gekümmert hat und einen hervorragenden Posten am päpstlichen Hof gekümmert hat und einen hervorragenden Posten am päpstlichen Hof einnimmt: „Herr Pater, Ihr Werk kommt von Gott, es geht da um eine ganz große Sache. In der Lehre der Guten Mutter Maria Salesia finden sich Grundsätze, die für eine außerordentliche Wirksamkeit bestimmt sind. Ihr Orden wird sich in der ganzen Welt ausbreiten und viel Gutes wirken. Jawohl, er ist dazu berufen, enorm viel Gutes hervorzubringen in der Kirche Gottes. Empfehlen Sie mich der Guten Mutter und lassen Sie sie für mich beten.“

Meine Kinde, ich empfehle euch das Gebet für diesen guten Prälaten. Er ist ein Mann von hoher Qualität und ungewöhnlicher Energie, der sich auf Leben und Tod für uns einsetzt.

Es bleibt nur noch eine Angelegenheit zu regeln: Unsere Meinungsverschiedenheit mit dem Bischof. Bischof Cortet hat selbst die Lösung vorgeschlagen, die die beste war: Wir sollten bekanntlich das Waisenhaus St. Anna während der ganzen Existenz unserer Kongregation verwalten. Dafür mussten wir 15.000 Goldfranken jährlich ausgeben, ohne die zusätzlichen Unkosten, die anfielen. Jetzt sind wir aber von dieser Last befreit. Wir behalten aber das Geld, das uns die fromme Stifterin zugleich mit dem Waisenhaus anvertraut hat, abzüglich einer Summe, die wir in der Vergangenheit jedes Jahr ausgegeben haben. Ganz offensichtlich hat die Göttliche Vorsehung diese Angelegenheit in Ordnung gebracht. Das sagte mir jeder in Rom und fügte hinzu: Da ist ein wahres Wunder geschehen. Die Gute Mutter hat uns nicht im Stich gelassen. Wir haben dabei nur gewonnen: den Frieden, die Ruhe, keine Verantwortung mehr, die materielle und geistige Verantwortung waren nicht leicht gewesen. Und wir sparen und behalten unser Geld.

Da seht ihr, wie wir von Gott gesegnet wurden. Bei jeder Sache fragte ich die Gute Mutter, was ich tun solle, und ich hörte im Grund meiner Seele ihre Antwort mit vollkommener Sicherheit. Das solltet auch ihr immer tun. Das wird euch immer in Frieden zusammenschließen und die Liebe untereinander fördern. Auf diese Weise werdet ihr dieselben Gnaden erhalten, die an der gleichen Quelle geschöpft sind, werdet die gleichen engen Beziehungen zu Gott, zur hl. Kirche, und zum Nächsten unterhalten, werdet die gleichen Früchte der Heiligkeit, der Treue und der Liebe zu Gott und zu allen Menschen hervorbringen.

Nehmt darum den Geist der Guten Mutter ganz tief in euch auf und noch einmal: Lest und lest zu diesem Zweck immer wieder ihr Leben. Es gibt darin kein einziges Kapitel, bis zu jenen, die euch am weitesten entfernt erscheinen, von unserer Lebensweise, das uns nicht etwas vom Reichtum ihrer Seele verraten würde, von ihrer Art zu handeln, zu reden und zu denken, und das uns nicht Licht spenden könnte bei irgendeiner Angelegenheit. Das bei uns nicht dieselben Urteile und Opfer auslösen könnte. Schöpfen wir aus dieser Lektüre viel Mut zu unserem heiligen Werk!

Ich muss hinzufügen, dass wir nach all diesen Regelungen und während der ganzen Dauer unseres Romaufenthaltes, Gegenstand größter Aufmerksamkeit von allen Seiten, wo immer wir zu tun hatten, geworden sind. Sie haben uns Beweisen des Wohlwollens überhäuft, die uns zutiefst gerührt und getröstet haben. Wir wurden, das darf man behaupten, ganz eingehüllt mit den Zeichen höchster Wertschätzung der römischen Kurie. Man erblickte in unserem Schaffen das Werk Gottes, ein Werk der Heiligkeit, an das man nur mit Ehrfurcht rührt.

Zu guter Letzt durfte ich den Hl. Vater selbst sehen. In drei Audienzen durfte ich ihm nahen. Die erste war die Generalaudienz der Genossenschaften des hl. Vinzenz v. Paul. Die zweite spielte sich in engerem Rahmen ab. Und schließlich wurden wir in Privataudienz empfangen. Wir befanden uns in einem Raum, den der Hl. Vater durchqueren musste. Sobald er uns entdeckte, kam er auf uns zu, breitete die Arme aus und rief: „O, Pater Brisson, Sie sind der Friede, Sie sind der Friede, Sie sind der Mann des Friedens. Tun Sie immer das Werk des Friedens! Ich bin darüber sehr glücklich. Tun Sie alles, was Sie können, dass dieser Friede bewahrt bleibe. Seien Sie ein Verteidiger des Friedens. Er möge, soweit es Sie betrifft, von Dauer und uneingeschränkt bleiben!“

Ich habe dieses Wort von Frieden wie ein Wort unseres Herrn selbst aufgenommen. Nehmen wir es als unsere Losung, als Devise! Friede in unseren eigenen Reihen: Bringen wir dafür unsere verschiedene Charaktere zum Opfer, unsere Stimmungen und Launen, sowie die unserer Mitmenschen. Friede mit den anderen religiösen Kongregationen, wenn sie auch ein bisschen rivalisieren scheinen sollten. Schaut die Gute Mutter an, wie groß ihre Ehrfurcht jedem Orden gegenüber war!

Dieses letzte Wort des Hl. Vaters will ich mir tief einprägen. Ich will es selber und unter euch zu verwirklichen trachten. Betrachtet euch als das Wort des Hl. Vaters Gebundene. Untereinander verbunden, verbunden mit den anderen Genossenschaften und mit dem Weltklerus. Man soll den Weltklerus nicht, wie man es manchmal tut, als nicht recht abgetötet aburteilen. Wir haben kein Recht zu urteilen, und der Klerus hat dafür genug andere Vorzüge, die uns abgehen. Erhalten wir uns im Frieden, in der Demut, im eigenen Nichts, da wir uns tatsächlich nichts können. Verharren wir also schön an unserem Platz. Der Friede begleitet nämlich allezeit die bescheidene Seele, die losgeschält ist vom eigenen Ich…

Unser hl. Stifter sagt, die Berghasen von Savoyen würden im Winter weiß, weil sie immer nur Schnee sehen und Schnee essen. So werden auch wir, wenn wir uns vom Leben der Guten Mutter ganz durchdringen lassen, dieselben Neigungen und denselben Geist wie sie annehmen. Die gleichen Gnaden werden uns dann auch zuteilwerden, verlasst euch darauf.

Auf baldiges Wiedersehen, meine Kinder, ich hoffe, euch doch von Zeit zu Zeit wiederzusehen.

Ich trug in Rom verschiedene Bitten vor um geistliche Vorteile, und hoffe, sie bald zu empfangen, im Besonderen Ablässe für unsere Brüder, die anstelle des Kleinen Offiziums ihre „Vater unser“ beten. In Rom versicherte man mir: „Bitten Sie, um was Sie wollen, Sie werden es erhalten.“ Kardinal Mazotti, Präfekt der Kongregation der Bischöfe und Ordensleute, sagte mir: „Pater, haben Sie uns um eine einzige Sache gebeten, die wir Ihnen abgeschlagen hätten?“ – „Nein, Eminenz.“ – „Das wird auch weiterhin geschehen, denn wir lieben Ihre Gedanken, Ihren Geist, Ihre Werke.“ Liebe Kinder, ich muss es aussprechen: Wir fühlten uns in der Nähe des Hl. Vaters in solch einer Einheit der Gesinnung, in solch einer Atmosphäre von Güte, dass wir glaubten, wir seien dort zu Hause. Er empfing uns mit solchem Wohlwollen, dass ich vergaß, dass es der Papst war, und mit ihm sprach, wie ich mit dem Pater De la Charie gesprochen hätte. Pater Deshaires musste mich am Ärmel zupfen, um mich daran zu erinnern, dass ich nicht vergaß, ihn um seinen Segen zu bitten, so groß war die Vertraulichkeit, die er uns bewies.

Kurz gesagt, da er mich den „Frieden“ nannte, Träger des Friedens, Bewahrer des Friedens, ist es unsere hohe Verpflichtung, diesen Frieden immer in uns zu tragen. „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Friede den Menschen seiner Huld.“

Auf ein baldiges Wiedersehen, meine lieben Kinder, habt nur ein Herz und eine Seele in der Nähe des lieben Gottes!