Exerzitienvorträge 1896 (September)

      

5. Vortrag: Das Band der Liebe.

Bisher, meine Freunde, habe ich euch von euren persönlichen Pflichten gesprochen, jeder für sich genommen. Heute Morgen möchte ich darauf eingehen, wie wir uns der Gemeinschaft gegenüber verhalten sollen.

Ein Ordensmann ist nicht wie ein Pfarrer oder Kaplan für seine Handlungen nur sich selbst gegenüber verantwortlich, sondern auch dem Orden gegenüber. Das ist ja seine geistliche und zeitliche Familie. Durch die Gemeinschaft (hindurch) schreitet er zu Gott.
Von ihr empfängt er die Verpflichtungen seiner Seelsorge. Das Wort „Religiose“ kommt von „religatus“, verbunden, vereint mit anderen. Und gerade dieses Band macht das Leben und die Stärke des Ordensmannes und der Gemeinschaft aus. Der Religiose ist ohne ein Kloster wie ein Rebzweig ohne Weinstock, er stirbt ab, ohne etwas hervorzubringen. Unabhängig von unseren persönlichen Pflichten gegen jeden Mitbruder, wir sind ja Brüder. Unsere Patres von Troyes, Macon, Auxerre, Saint Quen, vom Kap, von Griechenland usw. bilden eine einzige Familie, und Liebe tut not, um ein Band zwischen allen Häusern zu knüpfen.

Während mehrerer Jahre hatte ich mit den Oblatinnen viele Schwierigkeiten, sie waren nur sehr schwer für eine gleichförmige Lebensweise zu gewinnen. Viele waren im modernen Geist erzogen worden. Die meisten kamen aus Familien, wo man nicht zu arbeiten pflegte, wo man vielmehr seine damit verbrachte, kleine Handarbeiten zu verrichten und sich zu unterhalten. Jetzt aber schaffen sie alle tüchtig und verdienen ihren Lebensunterhalt, und oft auch noch das Brot für die Kinder, die ihnen anvertraut sind. Wem verdanken sie das? Dem Gelübde der Nächstenliebe, das ich sie ablegen ließ. Die einen legten es zunächst für einen, zwei oder drei Monate ab, dann für ein Jahr und noch länger. Dieses Gelübde wirkte Wunder, ihre Werke gedeihen, sie gründen neue Niederlassungen. In diesem Jahr sind es zwei Neugründungen, in Perugia, der Heimat unseres Hl. Vaters, wohin sie der Erzbischof rief. Beide (der Papst und der Erzbischof) schreiben uns von all dem Guten, das sie über die Oblatinnen hörten. Hier ist also Grund zur Freude, und es liegt nur am Gelübde der Nächstenliebe. Nie reden sie nachteilig über irgendeines ihrer Häuser. Sie möchten ebenso wenig gegen eine ihrer Mitschwestern lieblos sein wie gegen eines ihrer Häuser. Da herrscht somit der Wohlgeruch Christi vor, „Christi bonus odor.“

Was uns in unseren eigenen Häusern außerordentlich geschadet hat, ist gerade dieser Fehler. Wir sind gewiss gute Menschen. Aber etwas geht uns ab: dieses einigende Band. Wir sind ein Haufen Steine, aber kein Gebäude. Überall sagt man, man kenne die Oblaten nicht. Und warum kennt man sie nicht? Weil sie oft nachteilig übereinander sprechen…

Schaut euch die Patres Jesuiten an: Niemals wird einer von ihnen vor Fremden abträglich über einen Mitbruder reden. Ich möchte die Jesuiten mit arabischen Pferden vergleichen, und die Oblaten mit Pferden aus Limousin… Mag der Vergleich auch hinken. Die Limousiner Pferde  sind gutmütige und aufgeweckte Tiere, denen es an Feuer und Energie gebricht. Araberhengste dagegen sind lebhaft und feurig, und wenn es darum geht, in den Krieg zu ziehen, scharen sie sich beim ersten Trompetenstoß zusammen und stürzen sich bin einem herrlichen Ansturm in den Kampf… Bei uns, wenn es darum geht, etwas Schwieriges in Angriff zu nehmen und seine Person einzusetzen, schaut der eine nach rechts, der andere nach links. Der eine sagt: „Da kann man nichts machen.“ Der andere: „Das ist nichts für mich. Es fehlt da an gutem Einvernehmen.“ Gewiss gibt es bei uns keine Bosheit, und doch gehen wir darüber zugrunde. Das ist unser großer Fehler, und darum leisten wir als Gemeinschaft bei weitem nicht das, was wir leisten müssten. Einige scheuen, wie es scheint, nicht einmal davor zurück, das niederzureißen, was ein anderer Pater aufgebaut hat…

Bevor ich diesen Vortrag hielt, sprach ich mit der Guten Mutter: „Du hast so schöne Dinge über die Oblaten vorhergesagt, hast so viel versprochen… Ich aber sehe nichts davon. Als Gemeinschaft genommen taugen wir nichts…“

Kommt das daher, dass ihr nicht anders könnt, meine Freunde? Dass wir es doch einsähen, denn dies war bisher unser Ruin! Wir haben viel zu lange die einen ohne oder gegen die anderen gelebt. Uns fehlt das wesentliche Band. Geschieht das aus böse Willen? Nein noch einmal. Schüttet doch Portlandzement in den Haufen Steine, dann habt ihr einen unerschütterlichen Block, einen festen Klotz vor euch, der widerstandsfähiger ist als der härteste Stein.

Das ist das Übel, meine Freunde, und das Heilmittel dagegen ist das Gelübde der Nächstenliebe. Warum sollten wir nicht das gleiche tun wie die Oblatinnen? Dieses Gelübde ist dermaßen wesentlich, dass der hl. Franz v. Sales seinen Ordensfrauen nur dies eine Gelübde der Liebe geben wollte. Wir haben kein anderes Band als das der Liebe, das das Band der Vollkommenheit ist… Mit der Liebe besitzen wir ein so starkes Band, das nie zerreißen kann.

Meine Freunde, ich möchte mich wahrlich nicht als Vorbild hinstellen. Aber erlaubt: Wenn ich je in meinem Leben etwas geschaffen habe, dann deshalb, weil ich mich nach diesem Prinzip gerichtet habe. In den Seelenführungen und den Beichten, die ich gehört habe ich niemals Kindern einen Rat gegen ihre Eltern, einer Ordensperson gegen ihre Oberen gegeben. Ich war immer bedacht, die Herzen und Willen zusammenzuführen. Wenn ihr gegeneinander steht, wenn ihr euren Mitbruder durch einen geistreichen Witz, eine beißende Bemerkung zu verletzen und zu kränken sucht, wenn ihr aus Eigenliebe eine Meinung äußert, die nicht der Liebe entspricht, dann ist das kleinlich und schäbig. Das befriedigt nur eine miserable kleine Eigenliebe, wenn ihr seht, dass ihr einer Sache eine andere Richtung aufgezwungen habt… So handelt ein unüberlegter kleiner Schüler, jawohl! Wir sind schöne Sonnen, wenn wir uns als Mittelpunkt eines Universums aufspielen wollen, auf Kosten der wahren Ordnung! … Möge jeder eine Anstrengung machen, von seiner Eigenliebe loszukommen. Sagen wir doch „Ja“ zu dem, was uns gegen den Strich geht. Wenn wir ehrlich überlegen, sehen wir zu guter Letzt ein, dass die anderen recht hatten. Warum aber nicht von vorneherein dieses Opfer bringen? An dem Tag, wo wir so handeln, schaffen wir etwas.

Um seelsorgerliche Werke durchzuführen, brauchen wir Gemeinschaftsgeist! Ich habe euch gerade gesagt, dass der hl. Stifter einzig das Gelübde der Liebe gewollt hat. Dabei wurde das übrige natürlich nicht abgeschafft. Wir müssen, das versteht sich von selbst, gleichzeitig die Tugenden des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit üben.

Jedenfalls, wenn wir das Gelübde der Liebe verwirklichen, erfüllen wir die Intentionen des hl. Franz v. Sales und der Kirche. Die Übung der Liebe ist nicht leicht. Es ist viel leichter, Gehorsam, Keuschheit und Armut zu praktizieren. Die Liebe will ja ununterbrochen geübt sein, und das tun wir aus Schwächlichkeit, aus dem Geist der Nachgiebigkeit heraus, der den Kampf scheut, sondern aus mannhafter Energie, indem wir über uns selbst hinauswachsen. Das ist die mühsamste und schwierigste Tätigkeit. Da heißt es seine Zunge, seine Gefühle in Zucht halten, heißt es „Ja“ sagen zu dem, was gegen unsere Natur geht…

Wir haben unterschiedliche Charaktere. Die einen sind heiter und lieben das gute Leben, die anderen sind kränklich und würden am liebsten gar nichts essen… Da habt ihr schon das Durcheinander. Das soll nun in eins zusammenschmelzen, dass eine gute Hausgemeinschaft entsteht. Ein unkluges Wort ist schnell entschlüpft, wir haben verschiedenen Auffassungen über politische, geschichtliche, religiöse Fragen. Da heißt es ohne Unterlass sich selbst beherrschen. Das kostet einen beständigen Kampf. Aber nur um diesen Preis schaffen wir etwas und machen unsere Gemeinschaft lebensfähig.

Was ist denn die Liebe eigentlich? Eine übernatürliche Tugend, kraft deren wir Gott um seiner selbst willen lieben, und unsere Mitmenschen aus Liebe zu Gott. Was bedeutet das Wort „übernatürliche Tugend“? Eine Tugend, die wir nicht aus uns selbst haben, die wir aber erhalten, wenn wir Gott bitten, dass er uns die Gnade dafür gebe.

Nehmen wir uns das morgen vor: Gott um die Gnade bitten, diese übernatürliche Tugend zu üben, die wir aus eigener Kraft nicht praktizieren können. Fragt den Pater Ceyte, ob man aus Einheiten, die nicht derselben Ordnung angehören, ein Ganzes bilden kann. Addiert eine Tafel, eine Orgel, eine Ziege, einen Kappus usw. dann werdet ihr sehen…

Wir sollten uns nicht einbilden, eine Perle oder ein kostbarer Diamant zu sein. Was wir sein sollen, ist ganz einfach: ein guter, kleiner Oblate, dem das Wohlergehen der Gemeinschaft am Herzen liegt. Ich komme noch einmal auf die Jesuiten zurück: Sich an ihrem Orden vergreifen heißt, sie im Augapfel zu treffen. Ich hatte einen kleinen Zwischenfall mit einem kleinen Jesuitenpater. Er war in den ersten Jahren nach der Gründung des Kollegs St. Bernard. Ein guter Pater misstraute uns sehr und ließ alles, was bei uns getan und gesagt wurde, in der Freizeit wie anderswo, von einer Dame, Mutter eines unserer Schüler, überwachen. Es scheint, dass die gute Dame über uns schreckliche Dinge erfuhr, die sie treulich dem Jesuitenpater weitererzählte. Letzterer gab es an den Bischof von Troyes weiter. Die Sache wurde mir zu dumm, ich sagte es dem Jesuitenpater, er möge uns gefälligst in Frieden lassen, er betreibe da eine ganz hässliche Sache. Der gute Pater nahm mir diese Bemerkung sehr krumm und schrieb an seinen Generaloberen, ich behaupte Übles über die Gesellschaft Jesu und wolle ihr am Zeug flicken… Es fiel mir nicht schwer, meine Unschuld nachzuweisen. Im Übrigen starb der betreffende Pater kurz nachher und damit war die Geschichte zu Ende. Worauf ich eure Aufmerksamkeit lenken wollte, ist der Korpsgeist – sicherlich übertrieben – von dem dieser gute Ordensmann beseelt war… Wie sehr fürchtete er, dass sein Orden angegriffen würde. Das war seine größte Sorge, und darin kann er uns als Vorbild dienen.

Beten wir, meine Freunde, um etwas mehr Gemeinschaftsgeist, um Vermehrung des Zusammengehörigkeitsgefühls, das es uns erst ermöglicht, jene Gemeinschaft zu schaffen, die der Guten Mutter, und vor ihr schon der Mutter Chantal, vorschwebte. Letztere wünschte sich ja von ganzem Herzen die Gründung eines Institutes wie es das unsrige ist. Wie oft hatte sie den hl. Franz v. Sales gedrängt: „Hochwürdigster Herr, geben Sie uns doch Priester wie Sie einer sind…“ Und dieser hatte immer geantwortet: „Das ist sehr schwierig… Bis jetzt glückte es mir nur, anderthalb heranzubilden.“ Die Männer dieses Landes sind zum Widerspruch geneigt… Es scheint, zu seiner Zeit hätte es nie die Oblaten geben können, denn da lebte man nur von übertriebenen scholastischen Beweisgründen und Vernunftschlüssen. Er hätte gegen so viele Widerstände ankämpfen müssen und hätte sich an Geister, die seinem Geist entgegengesetzt waren, gestoßen, sodass er seine Ideen nicht durchgesetzt hätte, die damals so neuartig waren. Die Zeiten haben sich geändert. Ich hoffe, dass wir später unseren Geist ein bisschen auch im Klerus ausbreiten können. Wir besitzen die Lehre des hl. Franz v. Sales, während andere davon kaum mehr als die Etikette tragen. Das ist unser Erbe, unser Vatergut. Lassen wir es nicht durch unser Versagen in andere Hände übergehen.

Legt also gegenüber unseren Mitbrüdern, unseren Häusern, und unserer Kongregation das Gelübde der Liebe ab! Diese Liebe möge aber sichtbar werden, nicht todkrank, sondern lebensfähig!

Machen wir uns mit Mut und Tapferkeit ans Werk, Gott wird mit uns sein!