Exerzitienvorträge 1886

      

1. Vortrag: Exerzitien

Liebe Freunde! Diese geistlichen Exerzitien tragen ein ganz spezielles Gepräge: sie sind gleichsam das 1. Generalkapitel unseres Instituts. Es fällt auf, dass in den verschiedenen Orden dem 1. Generalkapitel von den Geschichtsschreibern eine ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde: sie sahen darin gleichsam Anzeichen für die Zukunft des Ordens.
So sammelte Franz v. Assisi sein 1. Generalkapitel nicht in einem Haus, auch nicht in einer Kirche, sondern in einer der großen Ebenen Umbriens in Italien. Seine ersten Mitbrüder drängten sich in so großer Zahl um ihn, und ihrer Zusammenkunft war so gewaltig, dass kein Gebäude sie hätte fassen können. Die Historiker des Heiligen unterziehen dieses 1. Kapitel einer sorgfältigen Prüfung. Sie führen eine ganze Reihe von Tatsachen an, die sich bei dieser feierlichen Gelegenheit abspielten. Daraus ziehen sie schwerwiegende Folgerungen. Da suchten sie gleichsam den Keim und den Samen für den ganzen Orden, eine Vorausschau der Zukunft.
Auch als Herr von la Salle sein 1. Ordenskapitel abhielt, scharte er einige Menschen um sich, die er für seine Ordensgründung zu gewinnen hoffte, und diese ersten Einkehrtage ließen bereits vorausahnen, wie groß sein späteres Werk der christlichen Schulbrüder werden sollte.
Auch ich wünsche sehr diese ersten feierlichen Exerzitien – ich sage: „feierlich“, weil wir an Zahl zugenommen haben und weil wir sie in Foicy abhalten … Wie viele Erinnerungen ruft dieser hl. Ort wach, wie oft stiegen die Engel Gottes auf ihn hernieder; Martyrer haben hier gelebt und ihr Blut vergossen, die ersten Apostel der Provinz haben ihn geheiligt! Nun lässt Gott aber derlei Dinge nie ohne besondere Absichten zu. Bei vielen kirchlichen Segnungen, besonders bei der Segnung des Skapuliers der religiösen Orden wird der Wunsch ausgedrückt: Gott gebe euch den Ort, wo ihr fruchtbar arbeiten könnt. Von der Stätte geht also ein besonderer Segen aus, der Gnaden mit sich bringt. Wäre dem nicht so, wozu all die Wallfahrten? Warum ginge man nach La Salette, nach Jerusalem? Wozu an den hl. Stätten beten, auf Golgotha, am Geburtsort unseres Herrn zu Bethlehem, wenn mit diesen Stätten nicht besondere Gnaden verbunden wären, sondern bloß ein einfaches Andenken und sie irgendwelchen gewöhnlichen Orten glichen?
Jawohl, ganz eigene Gnaden haften diesem Boden an, den die Füße der Heiligen betreten haben, Gnaden, die sozusagen in den Staub des Weges gesät sind, um eines Tages eine überreiche Ernte hervorzubringen. Ich versichere euch, die Vergangenheit hat hier Saaten der Heiligkeit zurückgelassen, und diese Saatkörner wird der liebe Gott, die Gute Mutter vervielfachen und sie zu überfließenden Gnaden werden lassen.
Diese wenigen Stunden heißt es darum, liebe Freunde, aufmerksam verbringen. Möge die Zurückgezogenheit hier uns und den Seelen, die uns gehören, Nutzen bringen; ebenso den Werken, die wir unterhalten; ja der Kirche in ihrer Gesamtheit. Ganz gewiss hat Gott unser Institut nicht ohne eine gang genau umrissene Absicht in diesen letzten Zeiten gegründet. Wir brauchen diese Exerzitien, um uns auszuruhen von unseren Mühen: „Kommt an einen einsamen Ort und ruht ein wenig aus.“ Ja, ruhen wir ein wenig aus vor Gott und unserem Gewissen in der Stille, an diesem einsamen Ort. Wir brauchen Ruhe, aber welche? Wo finden wir den Herrn? Meister, wo wohnst du? Kommt und seht. Wir machen es wie die drei bevorzugten Apostel, die zwei oder drei Tage unter dem Dach des Erlösers, in seiner Nähe zubrachten. Wir tun es diesen Heiligen gleich, die unsere Schutzpatrone und Vorbilder sind. Das Stillschweigen wollen wir mit aller Treue halten als echte Ordensleute. Sprecht mit niemand außer mit dem lieben Gott, bis zur Abenderholung, damit kein Augenblick verloren geht. Das ist aber lang, Herr Pater, werdet ihr mir sagen. Nein, das ist nicht lang. Wahrt ihr die Sammlung, dann habt ihr genug zu tun mit euren Gewissenserforschungen, mit eurer Sorge, euch selber richtig zu beurteilen, die Gnaden zu erforschen, die ihr empfangen habt, sowie eure zahlreichen Untreuen. Darüber lässt sich viel nachdenken. Fangt jetzt gleich damit an. Seht zu, wo ihr steht vor dem Herrgott. Bringt eure „Akten“ in Ordnung; das ist eine große Arbeit. Untersucht sodann eure Ordenspflichten, eure Treue zur hl. Regel. Es mag vielleicht keine schwere Sünde sein im theologischen Sinn, gegen die Ordensdisziplin zu verstoßen. Für euch aber ist es ein Vergehen gegen eure Gelübde, eure Lebensart, eure Existenzberechtigung. Wenn ihr gegen die Treue fehlt, seid ihr von der Gesamtheit der Kirche getrennt, seid ein unnützes und schädliches Rädchen, das sich nicht mehr dreht.
Die Einkehrtage, bedenkt das wohl, sollen nicht nur euch nützen, sondern allen Dingen und Personen, mit deren Obsorge ihr betraut seid. Die Mühe der Exerzitien dauert ja nicht lange, da wir Oblaten offen zugeben, von uns selbst nicht viel zu wissen und zu halten. Wir trachten, dem lieben Gott treu zu sein; ihm überlassen wir alles; so lehrte uns die Gute Mutter. Das ist unsere ganze Wissenschaft.
Der Gehorsam verlangt von uns dies und das. Tun wir es und bleiben wir dabei ruhig, ohne uns abzuplagen oder den Kopf zu erhitzen. Beten wir viel während dieser Tage und werfen wir einen Blick auf uns selbst; schlagen wir an unsere Brust und bitten wir Gott um Verzeihung. Soweit, was uns betrifft. – Denken wir aber auch an unsere Werke, an alles, was wir zu tun haben, alles, was uns am Herzen liegt, an unsere Schüler, falls wir im Schuldienst stehen; an die Seelen, deren Seelenführer wir sind; an die Ämter, die uns übertragen sind. – Das ist aber eine merkwürdige Art, Exerzitien zu machen. Das bereitet doch alles Zerstreuung, Herr Pater. – Durchaus nicht. Es zerstreut unseren Geist nicht, wenn wir das uns anvertraute Werk vorbereiten, Vorräte sammeln. Unsere Patres von Südafrika fahren nach Springbock, um Mehl, Reis und Bohnen einzukaufen; so wollen auch wir unsere Vorräte für uns und die uns Anvertrauten während der Exerzitien sammeln.
Auf diese Weise kann man Stunden und Tage verbringen, die euch viele Früchte einbringen. Glaubt an die Erfahrung derer, die auf diese Weise Einkehrtage verbrachten. Nachdem sie gebetet und ihre Seelen zu Gott erhoben hatten, kehrten sie gestärkt und vom Geist Gottes getrieben zu ihrer Seelsorgsarbeit zurück. Gott gibt dann alles Nötige zum rechten Handeln, wenn man viel gebetet hat. Als Franz v. Sales die Heimsuchung gründete, als er Missionar im Chablais war, was tat er da? Er hielt täglich seine geistliche Einkehr bei Gott. Er nannte ihm diese oder jene Seele, die er dann auch von ihm geschenkt bekam.
Mit euren Ämtern und den Personen, die eurer Obsorge übergeben sind, habt ihr wahrlich genug Beschäftigung für euren Geist während der Exerzitien … Wozu macht ihr denn sonst Exerzitien, wenn nicht dafür? Sie sollen fruchtbar werden für eure Mühen und eure tägliche Arbeit. Anfangs sagte ich euch, ich betrachte diese Tage gleichsam als ein Generalkapitel. Jetzt gestehe ich euch im Angesicht Gottes: ich erwarte davon äußerst entscheidende Folgen für unsere Anfänge. Warum das? Ich versichere vor Gott, dass wir mit einer Sendung betraut sind, und zwar einer äußerst wichtigen in der Kirche Gottes. Ich behaupte nicht, dass es sich um eine glänzende Mission handelt, dass wir erstaunliche, wunderbare, neuartige Dinge vollbringen werden, und doch geht es um einen sehr großen Auftrag, um ein Werk wahrer Heiligung für die Seelen. Wie oft – und darüber will ich während meiner Vorträge sprechen – wie oft hat mir die Gute Mutter wiederholt: „Es geht darum, das Evangelium neu zu drucken!“ Nicht ein neues Evangelium wollen wir schaffen, da am alten ja kein Jota zu ändern ist; aber das Evangelium, so wie es ist, sollen wir neu herausgeben, und zwar nicht auf dem Papier, sondern in den Herzen. Dort ist es nämlich nicht mehr zu finden. Nehmt den erstbesten Christen her oder lest irgendein Buch, das man sogar ein christliches nennt: in den meisten Fällen findet ihr darin keine Spur mehr vom Evangelium! Sonderbare und wunderliche Ideen, ja, die könnt ihr darin finden, doch das Evangelium niemals. Die Gute Mutter hat dies behauptet und es mir immer wieder gesagt.
Wie also können wir unsere Sendung erfüllen, wenn die Gnade Gottes uns nicht erfüllt, der Geist Gottes nicht über uns weht? Aus uns selbst werden wir das nicht zustande bringen. Wo also Hilfe und Licht hernehmen zum rechten Handeln? In den Exerzitien! Der liebe Gott ist da. „In Wahrheit, sagt er, wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen. Wenn ihr zu zwei oder drei übereinkommt, irgendetwas zu unternehmen, ein Stück Land umzupflügen – dann seid ihr meiner Gegenwart sicher.“ Wo sind wir denn so vereint, um die gleiche Arbeit anzugreifen, wenn nicht in den Exerzitien? Ergibt sich daraus nicht die allergrößte Notwendigkeit, die Exerzitien gut zu machen?
Was ich euch da sage, meine Freunde, ist euch völlig geläufig: es gibt ja nicht Einfacheres. So sind aber alle großen Dinge beschaffen. Schaut unseren Herrn an: was ist er denn? Der letzte an gesellschaftlicher Stellung und Lebensweise, an Vermögen, Beruf und Beziehungen zur Welt … Er tut den Mund auf, und siehe da, seine Stärke bricht durch; jetzt weht der Geist Gottes, er unterwirft sich der Welt, regiert und leitet sie.
Nehmt also die Einkehrtage ganz ernst. Geht zu unserem Herrn wie die Apostel zu ihm gingen. In der römischen Campagna, so berichtet eine alte Überlieferung, gäbe es einen Ort, wo der hl. Petrus bei jedem Vorübergehen in Tränen ausbrach. Als seine Jünger ihn fragten, warum er da immer weine, gab er zur Antwort: Dieser Platz sieht dem im Hl. Land so gleich, wo der Herr uns aufforderte, neben ihm Platz zu nehmen und auszuruhen. Ich möchte, dass Foicy für euch dieser Ort sei, wo ihr euch von Gott angerührt fühlt, wo er mit euch hingeht und mit euch spricht. Es ist möglich, dass ihr noch nicht sehr daran gewöhnt seid, dass ihr diese Kunst noch nicht beherrscht, euch mit dem Meister zu unterhalten. So beginnt in diesen Exerzitien damit. Bringt da eure Beschäftigungen mit ins Gespräch, alles, was ihr zu tun habt, eure Werke, die euch anvertrauten Seelen. Nichts wollen wir davon ausnehmen.
Unsere Laienbrüder werden das leicht verstehen. Sie machen ihre Exerzitien, ohne Holz und Eisen, das sie bearbeiten, sowie alle anderen Sorgen des Haushalts auszuschließen. Sie werden zum Herrgott sagen: Lieber Gott, hilf mir bei der Arbeit, die ich so mangelhaft verrichte, bei dem Werk, das mir nicht gelingen will. Sollte solch ein Gebet etwa eine Zerstreuung sein? Nein; eure innere Einstellung macht ja eure Arbeit, diese oder jene Handlung, wird sie aus Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes vollbracht, sogar zu einem verdienstlichen und vollkommenen Akt des Himmels und vermehrt eure einstige Glorie. Das lehrt der Katechismus und die Gotteswissenschaft.
Es ist ja so vorteilhaft, Gott überall mit ins Spiel zu bringen. So verfuhr die Gute Mutter, ich habe es hundert- und tausendmal bei ihr festgestellt. Fassen wir einen entsprechenden Vorsatz und merken wir uns das Wort, das sie in der Sterbestunde sagte, sie werde uns vom Himmel aus beschützen: „Ich lasse euch meine Gabe als Geschenk zurück, denn sie ist für euch bestimmt“, fügte sie hinzu.
Diese Gabe hat sie denen übergeben, die sie haben wollen, und wer davon profitieren will, dessen Anteil ist sie.