Exerzitienvorträge 1884

      

4. Vortrag:  Die Liebe zum Direktorium

Die Exerzitien: Zeit der Krise.
Macht euch Mut inmitten der Mühen und Kreuze der Exerzitien. Die Tage sind oft mit Leid angefüllt: das gleicht der Wanderung der Israeliten durch die Wüste vor dem Betreten des Gelobten Landes. Exerzitien sind Krisenzeit, und Krise heißt Kreuz und Anstrengung.

Ich sprach schon vom Glauben, den ihr zum Direktorium haben müsst. Es beinhaltet das Evangelium, die Religion, die Heiligung. Es ist ein Akt, eine Reihe von Akten, ja ein ganzes Leben voll von vollkommener Liebe, Gottes- und Nächstenliebe. Der Glaube genügt nicht, Liebe muss dazukommen.

Es gibt zwei Arten von Liebe: die affektive und die effektive, die Liebe des Gefühls und der Tat. Diese zwei Arten und das Direktorium.

Gibt Gott euch die Gefühlsliebe, sät er einige Blüten auf den Beginn eures Ordenslebens, so pflückt diese mit Dankbarkeit. Man soll ja nichts verachten und vernachlässigen. Später jedoch kommen die Mühen und Schwierigkeiten. Das ist unser Anteil, unser Kreuz, unser Beruf; dann wird die Liebe zum Direktorium fast nur noch Liebe der Tat sein, d.h., sie wird nur in unserem Willen wohnen, ohne dass wir Geschmack, Reiz oder Tröstung empfänden.
Gebt euch dem Direktorium hin, dem Verzicht in jedem Augenblick! „Christus lebt nicht sich selbst zu Gefallen.“ Das gilt auch für unser Leben. Übergehen wir nichts, so gering es uns scheinen mag.

Die täglichen Verzichte. Bei der Betrachtung z.B. könnten wir eine bequemere Haltung einnehmen; bleiben wir aber auf unseren Knien! Missfällt uns etwas im Refektorium, hüten wir uns, unserem Geschmack nachzugeben oder ihn zu zeigen.

Das sind die kleinen Verzichte, die unsere Liebe zum Direktorium beweisen und uns zu echten Ordensleuten machen.

Die äußere Bescheidenheit und Franz v. Sales. Die Liebe zum Direktorium findet ihren Ausdruck bis in äußere Einzelheiten, in unserem Gang, in unserer Art zu handeln. Ihr kennt die Geschichte des Bischofs von Belley, der ein Loch in die Zimmerwand gebohrt hatte, um zu sehen, wie sich der hl. Stifter benahm, wenn er allein war. Auch da wahrte Franz v. Sales dieselbe Haltung und überwachte sich, als wären Tausende von Augen auf ihn gerichtet.

Lassen wir Gott in uns wirken. Liebe Freunde, bleiben wir treu in unserer Kleinheit! Nur keine rein menschlichen Gesichtspunkte! Wir kümmern uns nicht um Politik und lesen keine Zeitungen. Wir lassen die Toten ihre Toten begraben und die Blinden andere Blinde führen. Lassen wir Gott in uns wirken, in uns und durch uns, dann leisten wir bedeutend mehr als würden wir rein menschlich vorgehen…

Vergessen wir auch die Heiligen nicht bei unseren Einkehrtagen. Heute soll es der hl. Bernhard sein, der Patron unseres Kollegs und auch unserer Kongregation.

Der hl. Bernhard. Er gehört uns schon wegen der Landsmannschaft. Der größte Teil verlief nicht weit von hier, in Clairveaux, das damals zur Diözese Troyes gehörte. Er gehört uns vor allem wegen seines Geistes. Kein Heiliger war dem hl. Franz v. Sales so ähnlich wie er. Das ist derselbe Geist, dieselbe Liebe, dieselbe Verehrung unseres Herrn und der seligen Jungfrau Maria, dieselbe Ausdrucksweise, derselbe Stil. Er führt zwar nicht die gleiche Sprache, aber es fehlt nicht viel. Papst Pius IX. erklärte Franz v. Sales und den hl. Bernhard kurz hintereinander zu Kirchenlehrern: wollte er damit die beiden nicht auf dieselbe Stufe stellen und ein Zeugnis mehr für ihre Ähnlichkeit ablegen?

Ja, lest den hl. Bernhard. Ihr findet bei ihm köstliche Seiten. Weilt er inmitten seiner Novizen, so fragt er: „Was seid ihr suchen gegangen im ‚Clara vallis‘? Was wolltet ihr dort finden? Ein vom Wind bewegtes Schilfrohr? Gewiss nicht! Und doch seid ihr aus eben diesem Grund zu Bernhard gekommen; sicher nicht seinetwegen, sondern weil Bernhard für euch von der hl. Jungfrau nicht viel empfangen hat, und weil er euch armen kleinen Waldvögeln das himmlische Brot krumenweise reichen soll…“

Die hl. Mutter Chantal. Heute Abend haben wir die erste Vesper der hl. Mutter Chantal gesungen. Die Satzungen, die uns Rom vor einigen Wochen zurückgeschickt hat und die die Propaganda-Kongregation hat drucken lassen, verfügen, dass wir uns nach den Lehren des hl. Franz v. Sales und der Mutter Chantal richten sollen.

Ich war sehr glücklich über diese Beifügung. Denn die hl. Chantal wurde uns gleichfalls zur Lehrerin und Meisterin gegeben. Mutter Chantal liebt euch sehr. Hat sie nicht den hl. Franz v. Sales während der letzten Jahre seines Lebens inständig gebeten, eine Priesterkongregation zu gründen?

„Man könnte hier damit beginnen“, sagte sie – sie damals in Paris –; „das wäre für die Kirche Gottes eine überaus nützliche Sache. Und Franz antwortete: „Alle fragen mich: Warum kümmern Sie sich nur um Frauen? Warum gründen Sie keine Priestervereinigung? Ihnen, liebe Mutter, sage ich es: die Männer diesseits der Alpen sind zu große Nörgler. Könnte ich bloß ihren Willen haben, dann würde ich den Versuch wagen; aber ohne ihre Rechthaberei.

Der Segen des sterbenden Franz v. Sales und die Voraussage eines Jesuiten.
Dem Pater, der dem sterbenden Franz v. Sales auf seinem Sterbebett die Frage stellte: „Segnen Sie Ihre Kongregation?“ fragte der Heilige: „Welche denn?“ – „Nun, das Institut der Schwestern der Heimsuchung Mariä?“ Nach einem Moment des Schweigens sagte er: „Der das Werk begonnen hat, wird es auch vollenden, vollenden, vollenden… „Es wird wachsen, groß werden, sich ausbreiten… Und nach diesem dreifachen Segen versenkte sich der Heilige in sein Gebet... „Was sah er? Was erbat er da vom Herrn? ... Wer weiß?“ sagte ein Jesuitenpater, P. Caussin, einige Jahre später im Vorwort eines sehr merkwürdigen Buches über den hl. Franz v. Sales: „Wer weiß, ob wir nicht kraft dieses dreifachen Segens drei verschiedene Orden aus den gesegneten Stamm hervorsprießen sehen werden: den Orden der Heimsuchung, sodann jenen Zwischenorden von Klosterschwestern, die in der Welt leben, um jenes mehr äußere Leben zu führen, das dem Heiligen zuerst vorschwebte; und schließlich einen Priesterorden, der beseelt sein wird vom Geist des hl. Bischofs von Genf?“

Die Erscheinung der hl. Franziska von Chantal.
Ich möchte mich nicht als Seher ausgeben…, doch kann ich wohl behaupten, dass die Gute Mutter im Augenblick, wo ich im Begriff stand, die Gründung der Oblaten vorzunehmen, mich fragte, ob ich nicht der Meinung sei, eine Reise nach Annecy zum Grab des hl. Franz v. Sales, würde mir Mut und Hilfe geben. Ich kam in die Kirche der Heimsuchung, die gerade restauriert wurde, ganz von Gerüsten und Schutt. Ich konnte nicht einmal zum Schrein des Heiligen gelangen. Ganz verdrossen über dieses Missgeschick kniete ich mich mitten in Gips und Staub nieder, um meinen Wallfahrtszweck so gut wie möglich zu erreichen. Da sah ich vor mir die hl. Mutter Chantal, die auf mich zukam und mir ihre Arme entgegenstreckte, wobei ein Ausdruck unsagbarer Freude ihr Gesicht verklärte…Nach meiner Rückkehr legte ich der Guten Mutter Rechenschaft ab von meiner Reise und verschwieg dabei das Erlebnis mit Mutter Chantal. „Ist das alles, was Sie gesehen haben?“ fragte sie mich da; „Haben Sie sonst nichts erlebt?“ – „Was soll ich denn sonst noch erlebt haben?“ antwortete ich und wechselte das Thema. An den folgenden Tagen erneuerte sie ihre Angriffe. Schließlich gestand ich ihr, was passiert war. „Aber, meine Gute Mutter“, fügte ich bei, „entsprach das der Wahrheit? War es keine bloße Einbildung meinerseits?“ – „Sagen Sie doch selbst, ob dies bloße Einbildung war? … Können Sie sowas behaupten?“