Exerzitienvorträge 1883

      

8. Vortrag: Der Gehorsam.

Damit unser Ordensgeist wahrhaft lebendig und fruchtbar sei, muss er ein ganz religiöser sein.

Was den Ordensmann zum Ordensmann macht, ist der Gehorsam. Der Ordensmann ist ein Wesen, das außerhalb aller Wesen steht. Er lebt nur für seine Gemeinschaft. Außerhalb derselben hat er keine Existenz. Was den Ordensmann ausmacht, ist also der Gehorsam.

Die Benediktiner, die Kartäuser legen bei der Profess äußerlich nur dieses Gehorsamsgelübde ab. Es schließt die beiden anderen mit ein.

Der hl. Franz von Sales fordert Gehorsam in seiner Abhandlung vom religiösen Leben. Die Jesuiten vor allem, die ein Spezialgelübde des Gehorsams ablegen, haben wunderbare Seiten über den Gehorsam geschrieben, über seine Grade und seine Vollkommenheit. Franz v. Sales ist radikaler: er duldet keine Stufen und Grade, er will von vorneherein einen vollkommenen Gehorsam: alles oder nichts. Man soll von Anfang an nach dem Gipfel streben.

Mutter Maria Salesia sagt dazu: „Die Ordensleute sollen entschlossene Menschen sein, entschlossen, bis ans Ende des Gehorsams zu gehen, ohne zurückzuschauen. Der vollständige Gehorsam besteht in einem Gehorsam des Tuns, des Wollens und des Urteilens. Was heißt, Gehorsam des Urteils? Ich sehe, dass ein Gegenstand weiß ist. Der Obere sagt, er sei schwarz. Muss ich ihn nun entgegen meinem Urteil für schwarz halten? Gewiss nicht. Handeln muss ich jedoch genau so, als sei er schwarz, so als täusche sich mein Urteil.“
Gehorsam ohne Widerrede. Aber, aber, ohne Widerrede? … Der Engel erscheint Maria und Josef und das mitten in der Nacht: „Steht auf und zieht nach Ägypten!“ Sie gehorchen, ohne Einwände zu erheben, ohne Wenn und Aber…Der Engel erscheint ein zweites Mal: „Kehrt zurück!“ und sie ziehen wieder heim.

Euer Oberer gibt einen Auftrag. Tut es ohne Widerspruch. Doch dieser Befehl ist euch unmöglich oder sehr schwer auszuführen; oder ihr habt einen gegenteiligen Auftrag erhalten. Dann sagt dies einfach und demütig, und dann tut, was man euch sagt.

Die Macht des Gehorsams. Ich sag es noch einmal: Die Kirchenväter wissen viel Schönes über den Gehorsam zu berichten. Eusebius von Caeserea erzählt, was in Sparta geschah: die jungen Männer, die für öffentliche Ämter und zum Studium der Gesetze bestimmt waren, schworen, nie über das Gesetz zu diskutieren, nicht zu versuchen, es zu begreifen, sondern es strikt zu befolgen. Und siehe, fährt der Kirchenvater fort, wie dieses Volk, das man kaum ein Volk nennen konnte, mächtig wurde. Da seht ihr, wie kraftvoll der religiöse Gehorsam sein muss und welche Macht er vermitteln wird.

Und noch einmal: Man muss vollständig gehorchen, der Regel wie dem Vorgesetzten. Ich will euch keine lange Predigt über das Gehorchen halten, sondern wiederhole unablässig denselben Gedanken, weil er alles enthält. Wollt ihr Ordensleute sein oder nicht? Wenn ja, dann gehorcht ohne Abstriche, sorgt euch nicht um die Person, die euch befiehlt, nicht um euren Oberen, weil das ohne Bedeutung ist.
Gott hütet eifersüchtig den Gehorsam. Er hat mit eifernder Sorge das Beichtgeheimnis geschützt, und die Kirchengeschichte bestätigt uns, dass dieses Geheimnis nie verletzt worden ist. 1793 gab es zahlreiche Gelegenheiten, die Wahrheit dieser göttlichen Fürsorge zu erkennen. Ich selbst kannte zwei unglücklich Priester, die während der französischen Revolution den Eid auf die Verfassung abgelegt hatten und in den Laienstand zurückgekehrt waren. Sie lieferten mehrere Male den Beweis dafür. Und ein zweites gibt es, was Gott ebenso eifersüchtig hütet: den Gehorsam. Er duldet daran kein Staubkörnchen. Lest die Annalen der Zisterzienser, der Benediktiner, die Lebensbeschreibung der Mönche des Ostens, eines hl. Basilius; ihr werdet nie finden, dass der klösterliche Gehorsam, wie immer er beschaffen war, und auf welche Oberen er sich auch bezog, den geringsten materiellen oder moralischen Nachteil brachte.

Der Wüstenvater und die Statue. Ein Jüngling kam eines Tages in ein Kloster Oberägyptens. Der Abt fragte ihn: „Haben Sie die Statue gesehen, die am Eingang des Klosters steht?“ – „Ja, Vater, ich hab sie gesehen.“ – „Die Statue stellt einen römischen Kaiser dar, der seit langer Zeit tot ist; sie wurde von römischen Soldaten zurückgelassen. Der Kaiser war ein Christenverfolger. Gehen Sie jeden Morgen zu ihm und werfen Sie ihm seine Verbrechen vor, und sagen Sie ihm, sein Andenken sei ein Abscheu.“ Der junge Mann gehorchte. „Was hat die Statue geantwortet?“ – „Nichts!“

„Dann gehen Sie hin und werfen Sie ihm Schmutz ins Gesicht!“ – „Was hat die Statue gesagt?“ – „Wieder nichts.“ – „So nehmen Sie ein Seil, legen Sie es um seinen Hals und stürzen Sie die Statue in den Schmutz.“ – „Nun, was hat sie jetzt gesagt?“ – „Gar nichts.“ – „Nun, verstehen Sie jetzt den Gehorsam? Die Statue sind Sie. Der Obere ist der Schmutz und das Seil. Gehorchen Sie ohne ein Widerwort. Sind Sie fähig, das zu tun?“ – „Ja, Vater, mit Gottes Gnade.“ – „Nun gut, dann bleiben Sie!“ Nie auf den schauen, der befiehlt!

Ob euer Oberer Schmutz oder Seil sei, beachtet es nicht. Verlangt von eurem Vorgesetzten nicht Verstand, nicht Tugend noch Urteil… Wo bleibt da aber eine Garantie? Sie werfen uns ja in ein Meer ohne Grenzen und Ufer, ohne Himmel und Sterne; was soll da aus werden? Wo einen Hafen finden? Geht unentwegt voran, denn so ist der Ordensmann. Seid entschlossene Männer!

Aber das ist ja schrecklich, das ist abscheulich… Jawohl, denn ein Ordensmann ist kein bloßer Mensch mehr. Der Papst sagte zu uns, zu P. Deshaires und mir: „Ordensleute sind nötig für Eure Missionen und Eure apostolischen Werke, Männer des Opfers bis zum Blutvergießen.“ Versteht Ihr, wo das Opfer liegen, wo das Blutvergießen stattfinden soll? Ich will es euch sagen: Im Verzicht auf unseren eigenen Willen. Zuerst und vor allem anderen müssen wir zum „Vergießen des eigenen Willens“ kommen. Nur so werden wir wahre Ordensleute sein. Was macht den Ordensmann aus? Die Keuschheit? Aber alle Priester müssen doch keusch leben. Die Armut? Hier in Troyes mit seinen 60.000 Einwohnern leben 30.000 oder 40.000, die ärmer sind und mehr Armut leiden als wir. Der Gehorsam ist also das unterscheidende Merkmal des Ordensmannes.

Wir sind nicht hierhergekommen, um Disziplinarpräfekt, Professor der Literatur, Aufseher oder Direktor zu werden. Wir waren frei, solch eine Karriere einzuschlagen. Wir haben uns anders entschieden, wir sind gekommen, um zu gehorchen. Es ist unwichtig, ob man uns hierhin oder dorthin schickt, ob man uns dies oder das tun lässt. „Aber mein Werk wird zugrundegehen…“ Was bedeutet schon euer Werk, wenn nur der Gehorsam erhalten bleibt! Euer Werk mag zugrundegehen! … Gott kann ihm neues Leben einhauchen, wenn ihr nur treu im Gehorsam verbleibt.